Es gibt zahlreiche kleine
Ungerechtigkeiten im menschlichen Leben, auf die der einzelne
erwiesenermaßen keinen direkten Einfluss hat und die er sich dennoch
mit liebenswert-störrischer Beharrlichkeit ein ums andere Mal
hinzunehmen weigert: ein ausdrückliches inneres Widersprechen ist
noch der geringste Widerstand, den man gegen ein scheinbar
übermächtiges Geschick aufzubringen vermag, während die eigene
Fantasie noch fieberhaft an der möglichen Lösung des jeweiligen
Problems weiterarbeitet. Erwachsene flüchten sich zum Ausgleich
ihrer vermeintlichen temporären Unzulänglichkeiten meist in wenig
originelle Ersatzbefriedigungen oder sonstige kaum nachhaltige
Mechanismen der Selbstbelohnung. Die Superheldenstorys des
klassischen amerikanischen Comics präsentieren hingegen wenigstens
auf metaphorischer Ebene ein wirksames psychologisches
Kompensationsmuster für die gängigen Konflikte des menschlichen
Alltags.
Die Wahrnehmung der
eigenen Unfertigkeit und situationsabhängigen vorläufigen
Unzulänglichkeit ist bei Kindern jedoch eine vollkommen andere: der
langsam-stetige Verlauf ihrer körperlichen und geistigen Entwicklung
bedingt geradezu naturgemäß, dass sie bestimmte Situationen –
wenn auch nur vorübergehend – weniger erfolgreich aufzulösen und
zu bestehen vermögen als Erwachsene. Während Kinder noch
spielerisch-bewusst nach dem Erreichen ihrer natürlichen Grenzen
streben und lediglich die unermesslich scheinende Zeit des Wartens
darauf zu beklagen brauchen, haben Erwachsene diese in der Regel
bereits seit langem erreicht und müssen die eigene, nahezu
unverrückbare Machtlosigkeit in bestimmten Situationen schmerzhaft
anzuerkennen lernen.
Ideal abgestimmt auf
natürliche kindliche Erfahrungshorizonte und die großen ungeklärten
Fragen eines frisch erwachenden organischen Gerechtigkeitsempfindens
sowie die grenzenlose Neugier auf die vielfältigen
Erscheinungsformen des Lebens hat der für sein ebenso umfangreiches
wie wandlungsreiches zeichnerisches Werk bereits vielfach prämierte
belgische Illustrator Guido van Genechten (geboren 1957) einen
kongenialen neuen Superhelden erfunden, der sich mit einer
liebevoll-perfekten Symbiose aus Natur und Technik bereits
erfolgreich anschickt, nicht nur die Kinderzimmer Europas im Sturm zu
erobern, sondern mit seiner unwiderstehlichen Mischung aus Empathie,
Mitleid und vorbehaltloser Liebe zu allen Lebewesen auch jene
skeptischen Eltern für sich einzunehmen, die Superhelden bisher als
vermeintlich geistloses Teufelswerk aus den finster-undurchschaubaren
Niederungen der amerikanischen Popkultur aus Prinzip abgelehnt haben.
Das erzsympathische kleine
Super-Marienkäferchen jedoch, das Guido van Genechten nun ersonnen
und zeichnerisch ins Leben gerufen hat, ist als unwahrscheinlicher
Held seines vor kurzem erschienenen ersten Bilderbuch-Abenteuers für
die Allerjüngsten gleichsam mit den besten Eigenschaften
ausgestattet, die Herz und Geist eines lebendigen Wesens Kraft ihrer
Möglichkeiten erfolgreich zu kultivieren vermögen: das ebenso
niedliche wie unscheinbare gepunktete kleine Insekt, mystischer
Glücksbringer und kindlicher Sympathieträger seit Jahrtausenden,
kann mit Hilfe seiner überlegenen emotionalen Sensorik nicht nur
jederzeit zweifelsfrei erspüren, wenn irgendwo auf der Welt ein
anderes Lebewesen in Not ist, sondern es vermag auch mit seiner
ausgefeilten James-Bondhaft-verblüffenden integrierten Technik
selbst in den ausweglosesten Situationen jedem von ihnen höchst
wirkungsvoll und erfolgreich zu helfen.
Guido van Genechten |
Ein afrikanischer Elefant,
der rettungslos im Schlamm feststeckt? Ein Hund, der hilflos überm
Abgrund des Grand Canyon baumelt? Ein Kamel, das kurz vor dem
Verdursten in der Sahara verloren scheint? Eine Riesenschlange, die
sich am Amazonas selbst verknotet hat? Ein Wal, der an der steinigen
Küste einer Karibikinsel gestrandet ist? – Für den tapferen
kleinen, insektoiden Cyborg namens Super-Marienkäferchen alles kein
Problem: da werden überdimensionale Fangnetzte ausgeklappt, die sein
eigenes Körpervolumen mit Leichtigkeit ums hundertfache übertreffen,
riesige Wassertanks ausgefahren, sagenhafte Saugnäpfe und
Turboschieber appliziert, und mit seinem feuerspeienden
Raketenantrieb eilt der tatkräftige Superheld in atemberaubender
Geschwindigkeit stets überall dortin, wo er in der jeweiligen
Situation gerade am dringendsten gebraucht wird.
Die
augenzwinkernd-unerbittliche Konsequenz dieses tröstlich-heiteren
Szenarios ist wohl die ultimative literarische Erfüllung eines nur
allzu naheliegenden uralten Traums aller empathisch fühlender,
liebender Lebewesen: dass die eigene Erkenntnis über die plötzliche
Notsituation eines anderen und das daraus dringlich erwachsende
Mitgefühl selbst schon wirksames Handeln und hilfreiches Bereinigen
der Leiden auslösenden Situation wäre! Freilich kann diese
hoffnungsvoll-ermutigende Idee in unserer realen Lebenswirklichkeit
kaum mehr als eine schöne Utopie sein, im Rahmen der Erzählung
erfüllt sie jedoch bereits höchst wirkungsvoll die nützliche
Funktion einer zwar kindgerechten, jedoch auch allgemeingültigen
Formulierung eines möglichen Idealzustands des Umgangs der Menschen
und Lebewesen untereinander, den man wohl allgemein unbestritten als
in höchstem Maße erstrebenswert bezeichnen darf. Mit seinem
wunderbaren Bilderbuch-Kabinettstückchen im Geiste des Humanismus
ist Guido van Genechten erneut ein ganz großer künstlerischer Wurf
gelungen!
„Super-Marienkäferchenist schon auf dem Weg“, aus dem Flämischen von Martin Rometsch,
erschienen bei Aracari, 32 Seiten, € 14,90
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