Jerusalem

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Mittwoch, 30. April 2014

„Super-Marienkäferchen ist schon auf dem Weg“ von Guido van Genechten

Es gibt zahlreiche kleine Ungerechtigkeiten im menschlichen Leben, auf die der einzelne erwiesenermaßen keinen direkten Einfluss hat und die er sich dennoch mit liebenswert-störrischer Beharrlichkeit ein ums andere Mal hinzunehmen weigert: ein ausdrückliches inneres Widersprechen ist noch der geringste Widerstand, den man gegen ein scheinbar übermächtiges Geschick aufzubringen vermag, während die eigene Fantasie noch fieberhaft an der möglichen Lösung des jeweiligen Problems weiterarbeitet. Erwachsene flüchten sich zum Ausgleich ihrer vermeintlichen temporären Unzulänglichkeiten meist in wenig originelle Ersatzbefriedigungen oder sonstige kaum nachhaltige Mechanismen der Selbstbelohnung. Die Superheldenstorys des klassischen amerikanischen Comics präsentieren hingegen wenigstens auf metaphorischer Ebene ein wirksames psychologisches Kompensationsmuster für die gängigen Konflikte des menschlichen Alltags.

Die Wahrnehmung der eigenen Unfertigkeit und situationsabhängigen vorläufigen Unzulänglichkeit ist bei Kindern jedoch eine vollkommen andere: der langsam-stetige Verlauf ihrer körperlichen und geistigen Entwicklung bedingt geradezu naturgemäß, dass sie bestimmte Situationen – wenn auch nur vorübergehend – weniger erfolgreich aufzulösen und zu bestehen vermögen als Erwachsene. Während Kinder noch spielerisch-bewusst nach dem Erreichen ihrer natürlichen Grenzen streben und lediglich die unermesslich scheinende Zeit des Wartens darauf zu beklagen brauchen, haben Erwachsene diese in der Regel bereits seit langem erreicht und müssen die eigene, nahezu unverrückbare Machtlosigkeit in bestimmten Situationen schmerzhaft anzuerkennen lernen.




Ideal abgestimmt auf natürliche kindliche Erfahrungshorizonte und die großen ungeklärten Fragen eines frisch erwachenden organischen Gerechtigkeitsempfindens sowie die grenzenlose Neugier auf die vielfältigen Erscheinungsformen des Lebens hat der für sein ebenso umfangreiches wie wandlungsreiches zeichnerisches Werk bereits vielfach prämierte belgische Illustrator Guido van Genechten (geboren 1957) einen kongenialen neuen Superhelden erfunden, der sich mit einer liebevoll-perfekten Symbiose aus Natur und Technik bereits erfolgreich anschickt, nicht nur die Kinderzimmer Europas im Sturm zu erobern, sondern mit seiner unwiderstehlichen Mischung aus Empathie, Mitleid und vorbehaltloser Liebe zu allen Lebewesen auch jene skeptischen Eltern für sich einzunehmen, die Superhelden bisher als vermeintlich geistloses Teufelswerk aus den finster-undurchschaubaren Niederungen der amerikanischen Popkultur aus Prinzip abgelehnt haben.

Das erzsympathische kleine Super-Marienkäferchen jedoch, das Guido van Genechten nun ersonnen und zeichnerisch ins Leben gerufen hat, ist als unwahrscheinlicher Held seines vor kurzem erschienenen ersten Bilderbuch-Abenteuers für die Allerjüngsten gleichsam mit den besten Eigenschaften ausgestattet, die Herz und Geist eines lebendigen Wesens Kraft ihrer Möglichkeiten erfolgreich zu kultivieren vermögen: das ebenso niedliche wie unscheinbare gepunktete kleine Insekt, mystischer Glücksbringer und kindlicher Sympathieträger seit Jahrtausenden, kann mit Hilfe seiner überlegenen emotionalen Sensorik nicht nur jederzeit zweifelsfrei erspüren, wenn irgendwo auf der Welt ein anderes Lebewesen in Not ist, sondern es vermag auch mit seiner ausgefeilten James-Bondhaft-verblüffenden integrierten Technik selbst in den ausweglosesten Situationen jedem von ihnen höchst wirkungsvoll und erfolgreich zu helfen.

Guido van Genechten

Ein afrikanischer Elefant, der rettungslos im Schlamm feststeckt? Ein Hund, der hilflos überm Abgrund des Grand Canyon baumelt? Ein Kamel, das kurz vor dem Verdursten in der Sahara verloren scheint? Eine Riesenschlange, die sich am Amazonas selbst verknotet hat? Ein Wal, der an der steinigen Küste einer Karibikinsel gestrandet ist? – Für den tapferen kleinen, insektoiden Cyborg namens Super-Marienkäferchen alles kein Problem: da werden überdimensionale Fangnetzte ausgeklappt, die sein eigenes Körpervolumen mit Leichtigkeit ums hundertfache übertreffen, riesige Wassertanks ausgefahren, sagenhafte Saugnäpfe und Turboschieber appliziert, und mit seinem feuerspeienden Raketenantrieb eilt der tatkräftige Superheld in atemberaubender Geschwindigkeit stets überall dortin, wo er in der jeweiligen Situation gerade am dringendsten gebraucht wird.

Die augenzwinkernd-unerbittliche Konsequenz dieses tröstlich-heiteren Szenarios ist wohl die ultimative literarische Erfüllung eines nur allzu naheliegenden uralten Traums aller empathisch fühlender, liebender Lebewesen: dass die eigene Erkenntnis über die plötzliche Notsituation eines anderen und das daraus dringlich erwachsende Mitgefühl selbst schon wirksames Handeln und hilfreiches Bereinigen der Leiden auslösenden Situation wäre! Freilich kann diese hoffnungsvoll-ermutigende Idee in unserer realen Lebenswirklichkeit kaum mehr als eine schöne Utopie sein, im Rahmen der Erzählung erfüllt sie jedoch bereits höchst wirkungsvoll die nützliche Funktion einer zwar kindgerechten, jedoch auch allgemeingültigen Formulierung eines möglichen Idealzustands des Umgangs der Menschen und Lebewesen untereinander, den man wohl allgemein unbestritten als in höchstem Maße erstrebenswert bezeichnen darf. Mit seinem wunderbaren Bilderbuch-Kabinettstückchen im Geiste des Humanismus ist Guido van Genechten erneut ein ganz großer künstlerischer Wurf gelungen!

„Super-Marienkäferchenist schon auf dem Weg“, aus dem Flämischen von Martin Rometsch, erschienen bei Aracari, 32 Seiten, € 14,90

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