Jerusalem

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Montag, 23. Juni 2014

„Marie Marne und das Tor zur Nacht“ von Christoph Werner

Der bekannte Schriftsteller Michael Ende (1929-1995) hat, geprägt vom phantastisch-surrealistischen künstlerischen Mikrokosmos seines malenden Vaters Edgar Ende (1901-1965), ein hoch originelles, überaus vielschichtiges literarisches Werk hinterlassen, das im Kontext der internationalen Kinder- und Jugendliteratur bis heute als einzigartig gilt: Bücher wie „Jim Knopf“, „Momo“ oder „Die unendliche Geschichte“ gelten vollkommen zu Recht als unvergängliche Klassiker. In seinem vielleicht am wenigsten zugänglichen Werk „Der Spiegel im Spiegel“, einem auf kühne, assoziative Art und Weise engstens verzahnten literarischen Labyrinth dunkel-glänzender Traumvisionen, zitiert Michael Ende einige Bildideen seines Vaters sogar ganz unmittelbar: hier scheint die Grenze zwischen dem menschlichen Bewußtsein und der Welt des Unbewussten in noch stärkerem Maße aufgehoben als in seinen Kinderbüchern.



Die Ehre, mit Michael Ende verglichen zu werden ohne es von vornherein bewusst darauf angelegt zu haben, kann ein ambitionierter Schriftsteller vermutlich nur dann erreichen, wenn er nicht nur eine wirklich schlüssige Grundidee vorzuweisen hat, sondern darüber hinaus auch im kreativen Prozess des Schreibens viele weitere originelle Einfälle zu erarbeiten vermag und dabei keinen Gedanken an einen möglichen Vergleich verschwendet, sondern letztlich nur seinem eigenen literarischen Thema folgt und bis zum Ende treu bleibt. Dem renommierten Theaterregisseur und (nach zahlreichen internationalen Stationen) Leiter des Puppentheaters Halle/Saale, Christoph Werner (geboren 1964), ist gleich mit seinem ersten Roman für junge Leser ein ganz großer Wurf gelungen, der ganz unwillkürlich an die literarische Welt Michael Endes denken lässt: in seinem Buch „Marie Marne und das Tor zur Nacht“ ist es allein der unwiderstehlichen dreizehnjährigen Titelheldin vorbehalten, mit Hilfe ihrer außergewöhnlichen individuellen Talente und Fähigkeiten nicht weniger als die gesamte Menschheit aus einer selbstverschuldeten Notsituation zu retten.

Schlafen Sie nicht, wenn Sie müde sind! Schlafen Sie, wenn Sie Lust dazu haben!“

In einer fiktiven Realität, die im wesentlichen unserer aktuellen Gegenwart entspricht, hat der internationale Großkonzern All Day Industries (ADI) mit einer eigenen obskuren neurowissenschaftlichen Erfindung nicht nur die Arbeitswelt, sondern auch die Privatsphäre der Menschen revolutioniert: in den Filialen des Unternehmens kann man nach der Ermittlung seines persönlichen ADI-Wertes, einer Art in Tagen ausgedrückter persönlicher „Schlafenergie“, einen vor Ort auf technischem Wege herbeigeführten ADI-Traum erwerben, der ursächlich bewirkt, dass man nach dem Erwachen für die jeweils vorab ermittelte Zeitspanne – bei den meisten Menschen acht bis vierzehn Tage – nicht mehr schlafen muss. Diese ebenso erfolgreiche wie lukrative Geschäftsidee wird jedoch nicht nur von jenen Menschen genutzt, die sich diesen vermeintlichen Luxus Dank ihres hohen Grundeinkommens problemlos leisten können, sondern auch von jenen, die aufgrund ihrer geringen Einkünfte rund um die Uhr arbeiten müssen.

So, wie Sie das schildern, klingt alles sehr schön“, sagte Mrs. Pommeroy und beugte sich vor. „Aber Sie wissen, dass das nicht die ganze Wahrheit ist. Es gibt bestimmte Berufsgruppen, bei denen wird es mittlerweile stillschweigend vorausgesetzt, dass man regelmäßig einen ADI-Traum hat. Arbeitnehmer mit geringem Einkommen haben nicht selten einen zweiten Job, mit dem sie die Ausgaben für ihre ADI-Träume finanzieren müssen, weil die in ihrem ersten Job verlangt werden. Und diese Tendenzen nehmen zu.“

Bereits am Anfang des Buches begleitet die dreizehnjährige Marie ihren Vater, einen bekannten Filmkomponisten, in eine ADI-Filiale. Mit Hilfe eines neuen ADI-Traumes und der daraus resultierenden Wachphase von dreizehn Tagen möchte dieser neben seinem umfangreichen üblichen Arbeitspensum auch die kurz bevorstehende eigene Geburtstagsparty erfolgreich bestehen können, zu der zahlreiche bedeutende Persönlichkeiten des öffentlichen Lebens eingeladen sind. Um die lange Wartezeit bis zu seinem Aufwachen zu überbrücken misst der unbedachte Auszubildende Jonas ungesetzlicherweise (denn ADI-Träume darf man erst ab einem Alter von achtzehn Jahren kaufen) Maries individuellen ADI-Wert, der vollkommen unfassbare 113 Tage ergibt – ein nie zuvor dagewesener Fall, den Jonas sogleich an die Konzernzentrale weitermeldet, den diese wiederum mit auffällig großem Interesse zur Kenntnis nimmt.


Edgar Ende: "Das Spiegelbild", 1948


Während der anschließenden Party im Grandhotel geschieht das Undenkbare: Maries Vater gerät in einen scheinbar unumkehrbaren Zustand zwischen Träumen und Wachen, der ihn bei scheinbar vollem Bewusstsein und normalen Vitalfunktionen völlig lethargisch und absolut unansprechbar macht, so dass er von den Ärzten schließlich zur Beobachtung ins Krankenhaus verlegt werden muss, wo er wochenlang wortlos dahinvegetiert und selbst seine nächsten Angehörigen nicht mehr wiederzuerkennen vermag. In ihrer größten Verzweiflung wird Marie von dem merkwürdigen, scheinbar allwissenden Mr. Phisto aufgesucht, einem kauzigen, spindeldürren Alten mit strähnigen grauen Haaren und einem altmodischen, nicht sehr kleidsamen Hut, der dem jungen Mädchen zu vermitteln versucht, dass sie aufgrund ihrer außergewöhnlichen Schlafenergie die einzige sei, die ihren Vater ins Leben zurückholen könne.

Marie blieb an der Tür stehen. Es war wie jedes Mal, wenn sie herkamen: Sobald sie ihren Vater sah, fing ihr Herz heftiger zu schlagen an. Es war unbelehrbar, dieses Herz, es wollte sich nicht daran gewöhnen, dass Hannes sie nicht erkannte. Dass er seine eigene Tochter nicht erkannte, seine Frau nicht, niemanden. Dass er nicht sprach, dass er wie abwesend war. Jedes Mal, wenn ihr Herz den ersten Freudensprung getan hatte, kam die Traurigkeit.

Dazu müsse sie sich zunächst in drei von ihm präzise definierte Träume fremder Menschen begeben, um dort einige von ihm vorgegebene Aufgaben zu erledigen und dann in einem vierten und letzten Traum mit Hilfe der in den vorherigen Träumen erworbenen Gegenstände ein furchterregendes schwarzes Tor am Rande einer surrealistisch anmutenden Landschaft zu öffnen. Das Vorhaben gelingt, und ihr Vater erwacht – jedoch muss Marie bereits am nächsten Morgen erkennen, dass Mr. Phisto sie auf heimtückische Art und Weise betrogen hat, denn seit sie das Schwarze Tor geöffnet hat, werden die Menschen überall auf der Welt von quälenden Alpträumen heimgesucht, sobald sie nur für kurze Zeit die Augen schließen: an Schlaf jeglicher Art ist nicht mehr zu denken. Während Politik und Wissenschaft schon bald ihre Machtlosigkeit öffentlich anerkennen müssen, gibt es für die von quälender Schlaflosigkeit hoffnungslos zerrüttenden Menschen scheinbar nur einen einzigen Ausweg zur Bewältigung ihres Alltags: die ADI-Träume.

Edgar Ende: "Nachtwache", 1963

Als die von Selbstvorwürfen zermarterte Marie sich schließlich hilfesuchend an einen ausgewiesenen Experten für das geheimnisvolle Paralleluniversum des Unbewussten wendet, den verschroben wirkenden Neuropsychologen Professor Monroe, wird ihr jedoch noch eine andere mühevolle Möglichkeit zur Wiederherstellung des Normalzustandes aufgezeigt: sie muss sich erneut ins Reich der Träume begeben, um sich dort zunächst ihren ganz persönlichen Alpträumen entgegenzustellen und das furchterregende Schwarze Tor wieder zu schließen. Dazu kann sie sich jedoch der unerwarteten Hilfe des „Hafenmeisters“ Professor Monroe, einer „Die Nächtige“ genannten weisen alten Frau sowie einer mutigen Gruppe von sogenannten „Traumwächtern“ sicher sein. Als der ADI-Konzern und Mr. Phisto von Maries couragiertem Plan erfahren, kommt es zum ebenso symbolträchtigen wie spannenden Showdown in der Carl-Gustav-Jung-Straße 49.

Du kannst mich nicht besiegen“, sagt er ruhig, aber laut. „Du wirst es nie können. Egal, was der kleine Professor und seine Freunde dir erzählen. Du bist zu gut, du bist zu wohlerzogen. Dir fehlt der Hass, der durch Entbehrung entsteht, durch Mangel, durch fortwährendes Zurückgesetztwerden. Du hast einen liebenden Papa und eine liebende Mama und einen Onkel und ein Einfamilienhaus und liebe Freundinnen und vielleicht bald einen Freund. Dir fehlt nichts. Du bist ein westeuropäisches Wohlstandskind. Was will eine wie du mit soviel dunkler Energie? Das ist Verschwendung, ein Irrtum, eine dumme Laune der Natur, ein Fehler im Plan. Ich rate dir, halt dich raus. Geh in eine ADI-Filiale, dann hast du keine Albträume mehr.“

Christoph Werner

Christoph Werners Buch ist mit seiner inhaltlich ausgesprochen reichen, überaus fantasievollen Handlung, die auf ebenso engagierte wie moderate Art und Weise für einen geistig wachen Umgang mit der Realität und eine versöhnlichen Beziehung zur unbequemen, aber hilfreichen Welt des Unbewussten eintritt, eine echte literarische Überraschung, der man gar nicht genug Leser wünschen kann. Der Autor versteht es auf wunderbare Art und Weise, drängende Fragen unserer Zeit so geschickt zu formulieren, dass sie für den Leser sofort intuitiv annehmbar scheinen, gleichzeitig aber nicht von ihm verdrängt werden können. Die große Kunst Christoph Werners besteht darin, weder den spannenden Fortlauf der Handlung noch die Entwicklung der überzeugenden Charaktere seiner engagierten Grundhaltung zu opfern – seine Zeitkritik wird auf kongeniale Art und Weise eher zwischen den Zeilen deutlich. „Marie Marne und das Tor zur Nacht“ ist ein Buch für alle Generationen, das die Welt der Träume anders als die klassische Fantasy nicht als Weltflucht begreift, sondern als konkrete Bereicherung unserer Wahrnehmung und somit als geeignetes Hilfsmittel zur Lösung unserer drängendsten Probleme, die nur in einer ehrlichen Synthese mit dem menschlichen Verstand gelöst werden können. Hier ist er vollkommen im Einklang mit der Philosophie Michael Endes.

„Marie Marne und das Tor zur Nacht“, erschienen bei Osburg, 245 Seiten, € 17,99

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