Der
bekannte Schriftsteller Michael Ende (1929-1995) hat, geprägt vom
phantastisch-surrealistischen künstlerischen Mikrokosmos seines
malenden Vaters Edgar Ende (1901-1965), ein hoch originelles, überaus
vielschichtiges literarisches Werk hinterlassen, das im Kontext der
internationalen Kinder- und Jugendliteratur bis heute als einzigartig
gilt: Bücher wie „Jim Knopf“, „Momo“ oder „Die unendliche
Geschichte“ gelten vollkommen zu Recht als unvergängliche
Klassiker. In seinem vielleicht am wenigsten zugänglichen Werk „Der
Spiegel im Spiegel“, einem auf kühne, assoziative Art und Weise
engstens verzahnten literarischen Labyrinth dunkel-glänzender
Traumvisionen, zitiert Michael Ende einige Bildideen seines Vaters
sogar ganz unmittelbar: hier scheint die Grenze zwischen dem
menschlichen Bewußtsein und der Welt des Unbewussten in noch
stärkerem Maße aufgehoben als in seinen Kinderbüchern.
Die
Ehre, mit Michael Ende verglichen zu werden ohne es von vornherein
bewusst darauf angelegt zu haben, kann ein ambitionierter
Schriftsteller vermutlich nur dann erreichen, wenn er nicht nur eine
wirklich schlüssige Grundidee vorzuweisen hat, sondern darüber
hinaus auch im kreativen Prozess des Schreibens viele weitere
originelle Einfälle zu erarbeiten vermag und dabei keinen Gedanken
an einen möglichen Vergleich verschwendet, sondern letztlich nur
seinem eigenen literarischen Thema folgt und bis zum Ende treu
bleibt. Dem renommierten Theaterregisseur und (nach zahlreichen
internationalen Stationen) Leiter des Puppentheaters Halle/Saale,
Christoph Werner (geboren 1964), ist gleich mit seinem ersten Roman
für junge Leser ein ganz großer Wurf gelungen, der ganz
unwillkürlich an die literarische Welt Michael Endes denken lässt:
in seinem Buch „Marie Marne und das Tor zur Nacht“ ist es allein
der unwiderstehlichen dreizehnjährigen Titelheldin vorbehalten, mit
Hilfe ihrer außergewöhnlichen individuellen Talente und Fähigkeiten
nicht weniger als die gesamte Menschheit aus einer
selbstverschuldeten Notsituation zu retten.
„Schlafen
Sie nicht, wenn Sie müde sind! Schlafen Sie, wenn Sie Lust dazu
haben!“
In
einer fiktiven Realität, die im wesentlichen unserer aktuellen
Gegenwart entspricht, hat der internationale Großkonzern All Day
Industries (ADI) mit einer eigenen obskuren
neurowissenschaftlichen Erfindung nicht nur die Arbeitswelt, sondern
auch die Privatsphäre der Menschen revolutioniert: in den Filialen
des Unternehmens kann man nach der Ermittlung seines persönlichen
ADI-Wertes, einer Art in Tagen ausgedrückter persönlicher
„Schlafenergie“, einen vor Ort auf technischem Wege
herbeigeführten ADI-Traum erwerben, der ursächlich bewirkt,
dass man nach dem Erwachen für die jeweils vorab ermittelte
Zeitspanne – bei den meisten Menschen acht bis vierzehn Tage –
nicht mehr schlafen muss. Diese ebenso erfolgreiche wie lukrative
Geschäftsidee wird jedoch nicht nur von jenen Menschen genutzt, die
sich diesen vermeintlichen Luxus Dank ihres hohen Grundeinkommens
problemlos leisten können, sondern auch von jenen, die aufgrund
ihrer geringen Einkünfte rund um die Uhr arbeiten müssen.
„So,
wie Sie das schildern, klingt alles sehr schön“, sagte Mrs.
Pommeroy und beugte sich vor. „Aber Sie wissen, dass das nicht die
ganze Wahrheit ist. Es gibt bestimmte Berufsgruppen, bei denen wird
es mittlerweile stillschweigend vorausgesetzt, dass man regelmäßig
einen ADI-Traum hat. Arbeitnehmer mit geringem Einkommen haben nicht
selten einen zweiten Job, mit dem sie die Ausgaben für ihre
ADI-Träume finanzieren müssen, weil die in ihrem ersten Job
verlangt werden. Und diese Tendenzen nehmen zu.“
Bereits
am Anfang des Buches begleitet die dreizehnjährige Marie ihren
Vater, einen bekannten Filmkomponisten, in eine ADI-Filiale.
Mit Hilfe eines neuen ADI-Traumes und der daraus
resultierenden Wachphase von dreizehn Tagen möchte dieser neben
seinem umfangreichen üblichen Arbeitspensum auch die kurz
bevorstehende eigene Geburtstagsparty erfolgreich bestehen können,
zu der zahlreiche bedeutende Persönlichkeiten des öffentlichen
Lebens eingeladen sind. Um die lange Wartezeit bis zu seinem
Aufwachen zu überbrücken misst der unbedachte Auszubildende Jonas
ungesetzlicherweise (denn ADI-Träume darf man erst ab einem
Alter von achtzehn Jahren kaufen) Maries individuellen ADI-Wert, der
vollkommen unfassbare 113 Tage ergibt – ein nie zuvor dagewesener
Fall, den Jonas sogleich an die Konzernzentrale weitermeldet, den
diese wiederum mit auffällig großem Interesse zur Kenntnis nimmt.
Edgar Ende: "Das Spiegelbild", 1948 |
Während
der anschließenden Party im Grandhotel geschieht das Undenkbare:
Maries Vater gerät in einen scheinbar unumkehrbaren Zustand zwischen
Träumen und Wachen, der ihn bei scheinbar vollem Bewusstsein und
normalen Vitalfunktionen völlig lethargisch und absolut
unansprechbar macht, so dass er von den Ärzten schließlich zur
Beobachtung ins Krankenhaus verlegt werden muss, wo er wochenlang
wortlos dahinvegetiert und selbst seine nächsten Angehörigen nicht
mehr wiederzuerkennen vermag. In ihrer größten Verzweiflung wird
Marie von dem merkwürdigen, scheinbar allwissenden Mr. Phisto
aufgesucht, einem kauzigen, spindeldürren Alten mit strähnigen
grauen Haaren und einem altmodischen, nicht sehr kleidsamen Hut, der
dem jungen Mädchen zu vermitteln versucht, dass sie aufgrund ihrer
außergewöhnlichen Schlafenergie die einzige sei, die ihren Vater
ins Leben zurückholen könne.
Marie
blieb an der Tür stehen. Es war wie jedes Mal, wenn sie herkamen:
Sobald sie ihren Vater sah, fing ihr Herz heftiger zu schlagen an. Es
war unbelehrbar, dieses Herz, es wollte sich nicht daran gewöhnen,
dass Hannes sie nicht erkannte. Dass er seine eigene Tochter nicht
erkannte, seine Frau nicht, niemanden. Dass er nicht sprach, dass er
wie abwesend war. Jedes Mal, wenn ihr Herz den ersten Freudensprung
getan hatte, kam die Traurigkeit.
Dazu
müsse sie sich zunächst in drei von ihm präzise definierte Träume
fremder Menschen begeben, um dort einige von ihm vorgegebene Aufgaben
zu erledigen und dann in einem vierten und letzten Traum mit Hilfe
der in den vorherigen Träumen erworbenen Gegenstände ein
furchterregendes schwarzes Tor am Rande einer surrealistisch
anmutenden Landschaft zu öffnen. Das Vorhaben gelingt, und ihr Vater
erwacht – jedoch muss Marie bereits am nächsten Morgen erkennen,
dass Mr. Phisto sie auf heimtückische Art und Weise betrogen hat,
denn seit sie das Schwarze Tor geöffnet hat, werden die Menschen
überall auf der Welt von quälenden Alpträumen heimgesucht, sobald
sie nur für kurze Zeit die Augen schließen: an Schlaf jeglicher Art
ist nicht mehr zu denken. Während Politik und Wissenschaft schon
bald ihre Machtlosigkeit öffentlich anerkennen müssen, gibt es für
die von quälender Schlaflosigkeit hoffnungslos zerrüttenden
Menschen scheinbar nur einen einzigen Ausweg zur Bewältigung ihres
Alltags: die ADI-Träume.
Edgar Ende: "Nachtwache", 1963 |
Als
die von Selbstvorwürfen zermarterte Marie sich schließlich
hilfesuchend an einen ausgewiesenen Experten für das geheimnisvolle
Paralleluniversum des Unbewussten wendet, den verschroben wirkenden
Neuropsychologen Professor Monroe, wird ihr jedoch noch eine andere
mühevolle Möglichkeit zur Wiederherstellung des Normalzustandes
aufgezeigt: sie muss sich erneut ins Reich der Träume begeben, um
sich dort zunächst ihren ganz persönlichen Alpträumen
entgegenzustellen und das furchterregende Schwarze Tor wieder zu
schließen. Dazu kann sie sich jedoch der unerwarteten Hilfe des
„Hafenmeisters“ Professor Monroe, einer „Die Nächtige“
genannten weisen alten Frau sowie einer mutigen Gruppe von
sogenannten „Traumwächtern“ sicher sein. Als der ADI-Konzern
und Mr. Phisto von Maries couragiertem Plan erfahren, kommt es zum
ebenso symbolträchtigen wie spannenden Showdown in der
Carl-Gustav-Jung-Straße 49.
„Du
kannst mich nicht besiegen“, sagt er ruhig, aber laut. „Du wirst
es nie können. Egal, was der kleine Professor und seine Freunde dir
erzählen. Du bist zu gut, du bist zu wohlerzogen. Dir fehlt der
Hass, der durch Entbehrung entsteht, durch Mangel, durch
fortwährendes Zurückgesetztwerden. Du hast einen liebenden Papa und
eine liebende Mama und einen Onkel und ein Einfamilienhaus und liebe
Freundinnen und vielleicht bald einen Freund. Dir fehlt nichts. Du
bist ein westeuropäisches Wohlstandskind. Was will eine wie du mit
soviel dunkler Energie? Das ist Verschwendung, ein Irrtum, eine dumme
Laune der Natur, ein Fehler im Plan. Ich rate dir, halt dich raus.
Geh in eine ADI-Filiale, dann hast du keine Albträume mehr.“
Christoph Werner |
Christoph
Werners Buch ist mit seiner inhaltlich ausgesprochen reichen, überaus
fantasievollen Handlung, die auf ebenso engagierte wie moderate Art
und Weise für einen geistig wachen Umgang mit der Realität und eine
versöhnlichen Beziehung zur unbequemen, aber hilfreichen Welt des
Unbewussten eintritt, eine echte literarische Überraschung, der man
gar nicht genug Leser wünschen kann. Der Autor versteht es auf
wunderbare Art und Weise, drängende Fragen unserer Zeit so geschickt
zu formulieren, dass sie für den Leser sofort intuitiv annehmbar
scheinen, gleichzeitig aber nicht von ihm verdrängt werden können.
Die große Kunst Christoph Werners besteht darin, weder den
spannenden Fortlauf der Handlung noch die Entwicklung der
überzeugenden Charaktere seiner engagierten Grundhaltung zu opfern –
seine Zeitkritik wird auf kongeniale Art und Weise eher zwischen den
Zeilen deutlich. „Marie Marne und das Tor zur Nacht“ ist ein Buch
für alle Generationen, das die Welt der Träume anders als die
klassische Fantasy nicht als Weltflucht begreift, sondern als
konkrete Bereicherung unserer Wahrnehmung und somit als geeignetes
Hilfsmittel zur Lösung unserer drängendsten Probleme, die nur in
einer ehrlichen Synthese mit dem menschlichen Verstand gelöst werden
können. Hier ist er vollkommen im Einklang mit der Philosophie
Michael Endes.
„Marie Marne und das Tor zur Nacht“, erschienen bei Osburg, 245 Seiten, €
17,99
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