Der
irakische Schriftsteller Najem Wali gehört zu den wenigen
international anerkannten Autoren aus dem traditionellen arabischen
Kulturraum, die sich seit Jahren auch öffentlich vehement für einen
friedlichen Ausgleich mit dem jüdischen Staat einsetzen. Damit
besitzt er eine fundierte, unverkennbare und gewichtige Stimme, die
man im Westen naturgemäß gern zitiert, auch wenn sie in ihrer
eigenen Kultur vielleicht weniger stark gehört oder wahrgenommen
werden kann. Der 1956 in Basra geborene und bereits seit 1980 in
Deutschland lebende Wali ist vor einigen Jahren sogar persönlich
nach Israel gereist, um sich ein Bild von den politischen,
wirtschaftlichen und sozialen Verhältnissen im Lande zu machen sowie
das direkte Gespräch mit dem offiziell postulierten Feind zu suchen.
Seine literarische Bestandsaufnahme dieser Reise (2009) ist im
Ergebnis vielleicht sogar ein bisschen zu schmeichelhaft für den
jüdischen Staat ausgefallen.
In
seinem soeben erschienenen, neuen großen Roman erzählt Najem Wali
nicht nur die allerjüngste bittere Geschichte seines Landes, sondern
lässt vor allem die vergangenen kriegerischen dreißig Jahre Revue
passieren, die seit seiner Flucht im Jahr 1980 vor seinem damals
anstehenden Militärdienst im blutigen Krieg des Saddam-Regimes gegen
den Iran vergangen sind. „In diesem Land musste ich wählen
zwischen der Rolle des Mörders und der des Ermordeten“, lässt er
seinen Protagonisten, den melancholischen Bauunternehmer und
Möchtegern-Schriftsteller am Ende des Buches sagen, „Ich
entdeckte, dass ich für die erstere Rolle nicht taugte. Ich machte
mir klar, dass ich alles sein könnte, bloß kein Mörder, und dass
ich, um der letzteren Rolle, der des Ermordeten, die man für mich
vorgesehen hatte, zu entkommen, weggehen musste.“
Wenn
ich meinen Reisepass betrachte und besonders meinen Namen und mein
Geburtsdatum anschaue, kommt mir Daniel Brooks in den Sinn. Bis zu
seinem plötzlichen Auftauchen hatte ich nie geglaubt, dass mein
Leben sich je auf eine solch abrupte Weise verändern könnte, durch
einen fremden Mann wie ihn, der von weit her kam. All das geschag vor
sieben Jahren in Bagdad. Es waren die schwersten und möglicherweise
auch die gefährlichsten Jahre, die die Stadt je erlebt hat. Ehrlich,
wenn ich an die Geschichte zurückdenke, kommt sie mir schon recht
seltsam vor. Dass sich so etwas in einer Stadt wie Bagdad abgespielt
haben soll! Dass zwei Männer wie wir, mit ihren unterschiedlichen
Lebenserfahrungen und durch Länder, Meere und Ozeane voneinander
getrennt, sich unbedingt hier begegnen sollten!
„Bagdad
Marlboro“, die versöhnlich umschließende Kombination von zwei für
ihre beiden unterschiedlichen Herkunftsländer stehende
Zigarettenmarken beschreibt die selbstquälerisch-tapferen Versuche
eines ehemaligen amerikanischen Soldaten sowie eines
desillusionierten irakischen Dichters, eine direkte und persönliche
Aussöhnung mit dem erklärten Feind zu wagen, an dem beide während
ihrer aktiven Militärzeit in massivem, kaum zu bewältigendem Ausmaß
schuldig geworden sind. Der Dichter Salmân
Mâdi, ein sorgsamer
literarischer Chronist der Träume sämtlicher Soldaten seiner
Einheit, hat während des ersten Golfkriegs auf Befehl seines
Vorgesetzten gemeinsam mit seinen Kameraden das Feuer auf eine Gruppe
bereits entwaffneter amerikanischer Kriegsgefangener eröffnet, der
von Natur aus friedfertige Daniel Brooks, genannt Smiley Man, musste
als Führer eines Bulldozers – angestachelt von seinem sadistischen
Vorgesetzten, seinem unerbittlichen persönlichen Feind – ein
ganzes Bataillon von wehrlosen irakischen Soldaten lebendig im
Wüstensand begraben.
Jawohl,
lieber Freund, das ist meine Rolle: Ihnen alle Geschichten zu
erzählen, die noch niemand in den Archiven gefunden, die noch keine
Zunge erzählt hat. Vergangene Geschichten und künftige: die
Geschichte von Daniel Brooks und diejenige von Salmân
Mâdi und David Barbiero;
[...] die Geschichte des jungen Soldaten Nihâd,
der davon träumte, in den Fußstapfen seines Onkels Nur Mulla
Ibrahîm ein erstrangiger
Goldschmied zu werden und nicht ahnte, dass seine Träume von einem
amerikanischen Offizier im Range eines Obersts mit einem Messer
massakriert würden; die Geschichte Ashârs
und ihrer vierzehnköpfigen Familie, die alle an einem sonnigen
Morgen kaltblütig im Schlaf auf dem Dach ihres Hauses in einem
abgelegenen Dorf am Ufer des Euphrat umgebracht wurden, beschossen
von amerikanischen Apache-Hubschraubern; [...] die Geschichte von
Daniel Brooks, nachdem er Daniel Hussain geworden war, Daniel, der
nach mir suchte und davon träumte, man werde ihm verzeiehen, der den
Kindern jener lebendig begrabenen Soldaten helfen wollte, und nicht
ahnte, dass er selbst an einer ganz anderen Front abgeschlachtet
würde, weit weg von derjenigen, der er entkommen war, aber auch sie
am Rande der Wüste; [...] Ja, die Geschichte jedes Toten und
derjenigen, die noch warten. Auch Ihre Geschichte, Bradley Manning,
mit dem Richter vor und den Kerkermeistern hinter Ihnen. Und vierzig
Kilometer entfernt frohlocken die Mörder frei und entspannt. Ich bin
sehr froh, endlich bei Ihnen zu sein, froh, Ihnen all diese
Geschichten erzählt zu haben. Jetzt habe ich den Eindruck, dass wir
wirklich frei sind, Sie und ich, beide jeder Last ledig.
US-Truppen in Bagdad, 2006 |
Najem
Wali, der im Jahr 2013 zu den aufmerksamen Beobachtern des
spektakulären Prozesses gegen den zwischen 2009 und 2010 im Irak
stationierten Whistleblower Bradley Manning gehörte, der geheime
Videos von Massakern des US-Militärs an der Zivilbevölkerung im
Irak und Afghanistan an Wikileaks weitergegeben hatte, erzählt in
seinem sprach- und bildmächtigen, epischen Roman die bisher
ungeschriebene bittere Geschichte der intensiven, jedoch öffentlich
schmerzhaft verdrängten Beziehung zwischen zwei Staaten und ihren
unglücklichen Bürgern, die einander weder Freund noch Feind sein
können. Doch „Bagdad Marlboro“ ist weit mehr als eine bloße
Aufzählung der auf beiden Seiten begangenen Verbrechen sowie der
zahlreichen verpassten Gelegenheiten, sondern vor allem ein
eindringliches literarisches Plädoyer für die grenzüberschreitende
Kraft bedingungsloser Mitmenschlichkeit und ein unmissverständlicher
Aufruf, sich kollektivem Hass nicht zu beugen, sondern mutig
aufeinander zuzugehen.
„Bagdad Marlboro“, aus dem Arabischen von Hartmut Fähndrich, erschienen
bei Hanser, 350 Seiten, € 21,90
(Dieser Text ist bereits in einer gekürzten Fassung in der Printausgabe der Jüdischen Rundschau erschienen.)
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