Jerusalem

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Montag, 7. Juli 2014

„Drei tränenlose Geschichten“ von Erich Hackl

Die Natur familiären Zusammenlebens hat sich in unserer Gesellschaft innerhalb der letzten hundert Jahre so signifikant verändert, dass die konkrete, lebendige Erinnerung an den Einzelnen und seine ureigenen Lebensäußerungen selbst in der eigenen Familie oft schon im Verlauf der nächsten Generation unwiderruflich verloren zu gehen droht: „Wer bewahrt, was [der Mensch] an Hoffnung und Glücksversprechen verkörpert hat, und macht schmerzhafte Erinnerungsbilder erträglich?“

Diese große universelle Frage stellt der Klappentext zu Erich Hackls neuem Buch in dieser Deutlichkeit vollkommen zu Recht: was vom Menschen bleibt, besonders von den zahlreichen aufgrund ihrer jeweiligen Zeitumstände im Verlauf des furchtbaren Zwanzigsten Jahrhunderts Togeschwiegenen oder gar Ermordeten, war von Anfang an das große singuläre Thema des österreichischen Schriftstellers Erich Hackl (geboren 1954 in Steyr), dem es in seinen zahlreichen eindrücklichen biografischen Recherchen (die heute zum Teil in den merkwürdigen Kanon deutscher Schullektüre gehören) stets auf unnachahmliche Art und Weise gelungen ist, diesen armen Vergessenen eine deutlich eigenständige und unverkennbare Stimme zurückzugeben, die überall und von jedem vernommen werden kann, als wäre sie die eigene.

Jetzt waren sie wieder vollzählig. Nur Gisela fehlte. Ein Schatten über der Familie, den Hermann nicht gleich wahrnahm. Und das ist seine sechste Erinnerung: wie er aus dem Schlaf gerissen wird, nachts, von einem wildfremden Mann, und gegen seinen Willen aus dem Bett gehoben und gedrückt, so fest, daß ihm die Luft wegbleibt. Der rauhe Jackenstoff, die kratzenden Bartstoppeln des Fremden, der sein Vater ist, schrecken ihn. Was die Erwachsenen bereden, versteht er nicht.

Gerade in seinem neuen Buch, das zwei ältere, bisher nur verstreut erschienene Texte sowie einen ganz neu verfassten erstmals gemeinsam in Buchform zugänglich macht, wird seine besondere Arbeitsweise vorbildlich deutlich: an kleinen, nebensächlich erscheinenden Details, die unsere Aufmerksamkeit im Alltag vermutlich nicht zu fesseln vermögen oder gar zum Wegsehen verleiten würden, nimmt Hackl mit geschultem Blick zum konkret-willkommenen Anlass, eben doch genauer hinzuschauen und mit ehrlich empfundener Empathie und archäologisch korrekter Präzision von den Umständen verschüttete Lebensläufe nachhaltig freilzulegen, die uns in mitmenschlicher, brüderlicher Würde gleichzeitig als Inividuen und als soziale Wesen begreifen lassen.

Über die Geschichte seiner Vorfahren konnte mir Victor nur sehr wenig sagen, denn der frühe Tod des Vaters und die eigenen Lebensumstände hatten verhindert, daß er sich mit ihnen vertraut machen konnte. Dafür legte er mir einen Stapel Dokumente vor. Die meisten stammen aus dem Nachlaß seines Onkels Kurt, andere hat er sich im Österreichischen Staatsarchiv ausheben lassen. Und er erzählte mir seine Geschichte, und Marta die ihre, die gemeinsame. Eine Verfolgungsgeschichte, schlimmer als die seiner Eltern und Großeltern.

Der stärkste Text des Buches ist ohne Zweifel „Der Fotograf von Auschwitz“ über den – nach Nazi-Diktion – „reichsdeutschen Arier“ Wilhelm Brasse (1917-2012), der nach dem Einmarsch der Deutschen in seine Heimat Polen lieber die angestammte Staatsbürgerschaft behalten wollte und aufgrund seiner erklärten Opposition schließlich nach Auschwitz deportiert wurde, wo er als Mitglied eines speziellen Kommandos Fotos der Häftlinge und der verbrecherischen medizinischen Experimente sowie – illegalerweise – auch Porträt- und Gebrauchsfotos von Offizieren und Wachmannschaften anzufertigen hatte. Dank seines hohen persönlichen Einsatzes sind mehr als zwei Drittel dieser Fotos erhalten geblieben; aufgrund der durch den Sucher seiner Kamera gesehenen Dinge konnte Brasse seinen Beruf nach dem Krieg nicht mehr ausüben, war jedoch bis zu seinem Tod als viel befragter, stets auskunftfreudiger hilfreicher Zeitzeuge aktiv und wurde am Ende seines Lebens sogar noch zum charismatischen Helden eines bewegenden Dokumentarfilms.

Das Leid der Kinder, der Mädchen, der jungen Frauen im Lagerbordell, die er ebenfalls fotografieren mußte. Eine von ihnen sah er eines Tages zufällig in Warschau wieder, in der Straßenbahn, wollte auf sie zugehen, sie begrüßen, da machte sie ihm ein Zeichen, bleib mir vom Hals, sprich mich nicht an. Als ihm klar wurde, daß es mit dem Fotografieren für immer vorbei war, sah er sich nach einem anderen Beruf um, einem Broterwerb, der ihn unter keinen Umständen mehr in Gewissensnot treiben würde. Eine Tätigkeit, so banal, daß sie die Frage nach dem verhältnis von Unschuld und Beteiligung ausschloß. Zusammen mit seiner Frau begann er, Kunstdärme für Wurstwaren zu produzieren. Sie haben davon, wie er sagt, ziemlich gut leben können.

Die in Auschwitz ermordete Czesława Kwoka/Foto: Wilhelm Brasse

Doch auch in den beiden anderen Texten über eine jüdische Familie in Wien und ihre scheinbare Rettung ins brasilianische Exil, wo einzelne Familienmitglieder in die mörderischen Fänge der Militärdikatur gerieten, oder über eine kaum mehr als vermeintliche österreichische Widerstandskämpferin und junge Mutter, die von den Nationalsozialisten noch in den letzten Kriegstagen vollkommen sinnloserweise hingerichtet wurde, entzündet sich zum Teil an ganz gewöhnlichen Familienfotos ein absolut bewegendes und alles andere als tränenloses, von tiefem Verständnis und Mitgefühl geprägtes literarisches Eindringen in die Lebenswege seiner Protagonisten, die gerade durch den sorgsamen, verantwortungsvollen Umgang des Autors ihren verdienten Platz im menschlichen Gedächtnis zurückerhalten – und das um ein vielfaches wirksamer als es in rein familiärer Erinnerung jemals möglich wäre. Somit muss die Antwort auf die Frage im Klappentext auch nach der Lektüre des neuen Buches eindeutig ausfallen: Erich Hackl bewahrt es, und er macht es erträglich – es gibt kaum ein höher zu bewertende schriftstellerische Leistung.

„Drei tränenlose Geschichten“, erschienen bei Diogenes, 154 Seiten, € 18,90

(Dieser Text ist bereits in einer gekürzten Fassung in der Printausgabe der Jüdischen Rundschau erschienen.)

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