Die
Natur familiären Zusammenlebens hat sich in unserer Gesellschaft
innerhalb der letzten hundert Jahre so signifikant verändert, dass
die konkrete, lebendige Erinnerung an den Einzelnen und seine
ureigenen Lebensäußerungen selbst in der eigenen Familie oft schon
im Verlauf der nächsten Generation unwiderruflich verloren zu gehen
droht: „Wer bewahrt, was [der Mensch] an Hoffnung und
Glücksversprechen verkörpert hat, und macht schmerzhafte
Erinnerungsbilder erträglich?“
Diese
große universelle Frage stellt der Klappentext zu Erich Hackls neuem
Buch in dieser Deutlichkeit vollkommen zu Recht: was vom Menschen
bleibt, besonders von den zahlreichen aufgrund ihrer jeweiligen
Zeitumstände im Verlauf des furchtbaren Zwanzigsten Jahrhunderts
Togeschwiegenen oder gar Ermordeten, war von Anfang an das große
singuläre Thema des österreichischen Schriftstellers Erich Hackl
(geboren 1954 in Steyr), dem es in seinen zahlreichen eindrücklichen
biografischen Recherchen (die heute zum Teil in den merkwürdigen
Kanon deutscher Schullektüre gehören) stets auf unnachahmliche Art
und Weise gelungen ist, diesen armen Vergessenen eine deutlich
eigenständige und unverkennbare Stimme zurückzugeben, die überall
und von jedem vernommen werden kann, als wäre sie die eigene.
Jetzt
waren sie wieder vollzählig. Nur Gisela fehlte. Ein Schatten über
der Familie, den Hermann nicht gleich wahrnahm. Und das ist seine
sechste Erinnerung: wie er aus dem Schlaf gerissen wird, nachts, von
einem wildfremden Mann, und gegen seinen Willen aus dem Bett gehoben
und gedrückt, so fest, daß ihm die Luft wegbleibt. Der rauhe
Jackenstoff, die kratzenden Bartstoppeln des Fremden, der sein Vater
ist, schrecken ihn. Was die Erwachsenen bereden, versteht er nicht.
Gerade
in seinem neuen Buch, das zwei ältere, bisher nur verstreut
erschienene Texte sowie einen ganz neu verfassten erstmals gemeinsam
in Buchform zugänglich macht, wird seine besondere Arbeitsweise
vorbildlich deutlich: an kleinen, nebensächlich erscheinenden
Details, die unsere Aufmerksamkeit im Alltag vermutlich nicht zu
fesseln vermögen oder gar zum Wegsehen verleiten würden, nimmt
Hackl mit geschultem Blick zum konkret-willkommenen Anlass, eben doch
genauer hinzuschauen und mit ehrlich empfundener Empathie und
archäologisch korrekter Präzision von den Umständen verschüttete
Lebensläufe nachhaltig freilzulegen, die uns in mitmenschlicher,
brüderlicher Würde gleichzeitig als Inividuen und als soziale Wesen
begreifen lassen.
Über
die Geschichte seiner Vorfahren konnte mir Victor nur sehr wenig
sagen, denn der frühe Tod des Vaters und die eigenen Lebensumstände
hatten verhindert, daß er sich mit ihnen vertraut machen konnte.
Dafür legte er mir einen Stapel Dokumente vor. Die meisten stammen
aus dem Nachlaß seines Onkels Kurt, andere hat er sich im
Österreichischen Staatsarchiv ausheben lassen. Und er erzählte mir
seine Geschichte, und Marta die ihre, die gemeinsame. Eine
Verfolgungsgeschichte, schlimmer als die seiner Eltern und
Großeltern.
Der
stärkste Text des Buches ist ohne Zweifel „Der Fotograf von
Auschwitz“ über den – nach Nazi-Diktion – „reichsdeutschen
Arier“ Wilhelm Brasse (1917-2012), der nach dem Einmarsch der
Deutschen in seine Heimat Polen lieber die angestammte
Staatsbürgerschaft behalten wollte und aufgrund seiner erklärten
Opposition schließlich nach Auschwitz deportiert wurde, wo er als
Mitglied eines speziellen Kommandos Fotos der Häftlinge und der
verbrecherischen medizinischen Experimente sowie – illegalerweise –
auch Porträt- und Gebrauchsfotos von Offizieren und Wachmannschaften
anzufertigen hatte. Dank seines hohen persönlichen Einsatzes sind
mehr als zwei Drittel dieser Fotos erhalten geblieben; aufgrund der
durch den Sucher seiner Kamera gesehenen Dinge konnte Brasse seinen
Beruf nach dem Krieg nicht mehr ausüben, war jedoch bis zu seinem
Tod als viel befragter, stets auskunftfreudiger hilfreicher Zeitzeuge
aktiv und wurde am Ende seines Lebens sogar noch zum charismatischen
Helden eines bewegenden Dokumentarfilms.
Das
Leid der Kinder, der Mädchen, der jungen Frauen im Lagerbordell, die
er ebenfalls fotografieren mußte. Eine von ihnen sah er eines Tages
zufällig in Warschau wieder, in der Straßenbahn, wollte auf sie
zugehen, sie begrüßen, da machte sie ihm ein Zeichen, bleib mir vom
Hals, sprich mich nicht an. Als ihm klar wurde, daß es mit dem
Fotografieren für immer vorbei war, sah er sich nach einem anderen
Beruf um, einem Broterwerb, der ihn unter keinen Umständen mehr in
Gewissensnot treiben würde. Eine Tätigkeit, so banal, daß sie die
Frage nach dem verhältnis von Unschuld und Beteiligung ausschloß.
Zusammen mit seiner Frau begann er, Kunstdärme für Wurstwaren zu
produzieren. Sie haben davon, wie er sagt, ziemlich gut leben können.
Die in Auschwitz ermordete Czesława Kwoka/Foto: Wilhelm Brasse |
Doch
auch in den beiden anderen Texten über eine jüdische Familie in
Wien und ihre scheinbare Rettung ins brasilianische Exil, wo einzelne
Familienmitglieder in die mörderischen Fänge der Militärdikatur
gerieten, oder über eine kaum mehr als vermeintliche österreichische
Widerstandskämpferin und junge Mutter, die von den
Nationalsozialisten noch in den letzten Kriegstagen vollkommen
sinnloserweise hingerichtet wurde, entzündet sich zum Teil an ganz
gewöhnlichen Familienfotos ein absolut bewegendes und alles andere
als tränenloses, von tiefem Verständnis und Mitgefühl geprägtes
literarisches Eindringen in die Lebenswege seiner Protagonisten, die
gerade durch den sorgsamen, verantwortungsvollen Umgang des Autors
ihren verdienten Platz im menschlichen Gedächtnis zurückerhalten
– und das um ein vielfaches wirksamer als es in rein familiärer
Erinnerung jemals möglich wäre. Somit muss die Antwort auf die
Frage im Klappentext auch nach der Lektüre des neuen Buches
eindeutig ausfallen: Erich Hackl bewahrt es, und er macht es
erträglich – es gibt kaum ein höher zu bewertende
schriftstellerische Leistung.
„Drei tränenlose Geschichten“, erschienen bei Diogenes, 154 Seiten, €
18,90
(Dieser Text ist bereits in einer gekürzten Fassung in der Printausgabe der Jüdischen Rundschau erschienen.)
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