Jerusalem

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Dienstag, 22. April 2014

„Schlump“ von Hans Herbert Grimm

Am 1. August dieses Jahres jährt sich zum hundertsten Mal der blindhaft-bündnistreue, sich für das Schicksal von ganz Europa schnell als verhängnisvoll erweisende Eintritt Deutschlands in jene apokalyptischen Kampfhandlungen, die nach vier Jahren erbittert geführter militärischer Materialschlachten und einem bis dahin ungeahnten Fanal von siebzehn Millionen sinnlos vergeudeter Menschenleben als Erster Weltkrieg in die menschliche Geschichte eingehen sollte und als kaum aufgearbeitetes kollektives Trauma von mystischen Dimensionen den blutigen Nährboden für den nur zwanzig Jahre später mit umso schrecklicherer blind entfesselter Gewalt zurückschlagenden Zweiten Weltkrieg bildete.



Bereits im Verlauf des letzten Jahres ist eine ganze Fülle von neuen hochinformativen, sorgfältig recherchierten und stilistisch wie inhaltlich ausgezeichneten Sachbüchern über diese europäische Ur-Katastrophe erschienen, die uns auf ebenso faktenreiche wie unvoreingenommene Art und Weise in unserem natürlichen Bestreben unterstützen können, zu einem umfangreicheren verstandesmäßigen Begreifen der historischen Ereignisse zu gelangen. Daneben war allerdings auch eine ganze Reihe von neuen Romanen zu diesem vielschichtigen Thema zu registrieren, die dem komplexen sachlichen Hintergrund die ganz unmittelbaren, persönlichen Auswirkungen des Krieges auf das Erleben des menschlichen Individuums hinzufügen.

Schlump stand oft vor seiner Ladentür und betrachtete das Leben und Treiben der kleinen Etappenstadt. Er sah die sauberen und wohlgenährten Etappenoffiziere vorbeigehen mit ihren blanken Gamaschen und nachlässig und elegant die armseligen Verwundeten grüßen, die sich bescheiden an die Wand drückten.

In diesem grundsätzlich lobenswerten Zusammenhang ist soeben unter nicht geringem medialem Blätterrauschen ein schon im Jahr 1928 anlässlich seines ersten Erscheinens von Verlegerlegende Kurt Wolff (1887-1963) offensiv beworbener Antikriegs- und Schelmenroman wieder neu aufgelegt worden, der seinerzeit ohne nennenswerte öffentliche Resonanz im übermächtigen Schatten des bahnbrechenden internationalen Bestseller-Erfolgs von Erich Maria Remarques nur wenige Wochen zuvor veröffentlichtem epochalen und auf kongeniale Art und Weise den Nerv der Zeit treffenden Roman „Im Westen nichts Neues“ unweigerlich untergehen musste und 1933 zu den wohl am wenigsten bekannten Werken unter jenen den Nationalsozialisten verhassten Büchern zählte, die von den neuen Matchhabern vor den Augen einer entrüsteten Weltöffentlichkeit verbrannt wurden.

Jetzt ging die Hölle los: Granaten, schwere, leichte, Schrappnells, Flachbahner, kleine, große, kleine, immer toller wurde die Schießerei, immer verrückter, Torpedominen, Brandminen. Man sah sie ganz deutlich glühen in der Luft, die Minen, große und kleine; dazu die Leuchtkugeln! Endlich kam auch unsere Artillerie, aber nur spärlich. Aber sie sausten ganz knapp über den Kopf, und drüben zerplatzten sie, ganz hart. Es war aufregend. Schlump mußte lachen; er lachte laut in den Höllenkrawall hinein. Das gefiel ihm.

Zerbombter Wald bei Ypern

Dass eben dieser Roman mit dem barock-ausufernden Titel „Geschichten und Abenteuer aus dem Leben des unbekannten Musketiers Emil Schulz, genannt 'Schlump', von ihm selbst erzählt“ heute allenfalls noch einigen Literaturwissenschaftlern oder wackeren Publizisten wie dem Feuilleton-Chef der Frankfurter Allgemeinen Sonntagszeitung Volker Weidemann (der das vergessene Werk in sein verdienstvolles „Buch der verbrannten Bücher“ aufnahm und für die vorliegende Ausgabe ein absolut notwendiges und überaus erhellendes Nachwort verfasste) darf aus zeitgenössischer Sicht allerdings kaum verwundern: angelehnt an Grimmelshausens Schelmenroman „Simplicissimus“ wird darin die wenig mitreissende und sprachlich uninspiriert-kauzige Geschichte eines sprichwörtlichen Glückskindes erzählt, das sich wegen der schönen, von der holden Weiblichkeit allseits geschätzten Uniformen freiwillig zum Militär meldet, an der französischen Front neben zahlreichen unbeschwerten Liebschaften schließlich auch das Grauen des Stellungskriegs erlebt, woran er aber letztendlich aufgrund seines sonnigen Gemüts und seiner vorbehaltlosen Menschenliebe nicht zerbricht und schließlich sogar wohlbehalten nach Hause zurückkehren darf, wo er bereits unverhofft von einer treuen weiblichen Seele erwartet wird.

Und unten an den Stufen, vor dem Eingang, da stand jemand. Die heilige Johanne. Schlump stürzte auf sie zu: „Woher wußtest du?“ Sie sah ihn glücklich an. „Ich hab alle Tage auf dich gewartet“, sagte sie. Er schloß sie in die Arme und gab ihr vor allen Leuten einen Kuß. Dann zogen sie vereint zu seiner Mutter, die in diesem Augenblick nicht ahnte, daß die glücklichste Stunde ihres Lebens geschlagen hatte.

Die eigentliche Bedeutung des von dem Altenburger Gymnasiallehrer Hans Herbert Grimm (1896-1950) unter dem Eindruck der eskalierenden gesellschaftlichen Radikalisierung gegen Ende der Weimarer Republik lediglich anonym veröffentlichten Romans scheint sich somit erst durch die Geschichte seiner zeitgenössischen Nicht-Rezeption, seines späteren Verbots durch die Nationalsozialisten sowie die durch seine späte Wiederentdeckung erstmals offenbarten tragischen Lebens- und insbesondere Todesumstände seines unglücklichen Autors zu ergeben. Denn exemplarisch wird der „Schlump“ aus heutiger Sicht vor allem durch die darin geradezu visionär vorweggenommene Spiegelung eines dickfelligen, sich selbst als unpolitisch begreifenden kollektiven Mitläufertums, das schon den Ersten Weltkrieg vornehmlich als abenteuerliche Weltreise und zwiespältig-lebensgesättigtes Phänomen des Menschseins an sich betrachtet hatte und so gleichermaßen unbedarft schließlich auch in die unvorstellbaren Verbrechen des Zweiten Weltkriegs hineinstolperte, ohne sich seiner Mitverantworung bewusst zu werden. In bestimmten Grenzsituationen jedoch – so die Erkenntnis aus dieser für viele Deutsche während des Nationalsozialismus wohl durchaus charakteristischen Grundeinstellung – reicht es nicht zu wissen, dass man selber gut und unschuldig ist.

Hans H. Grimm/Foto: privat

Für seinen heranwachsenden Sohn führte Grimm „als ein närrisches Erinnerungsstück aus meiner zweiten Kriegszeit“ während des Zweiten Weltkriegs eine Art Tagebuch:

Letzten Endes sind wir alle einsam, in eine feste Schale eingeschlossen, aus der es keine Ausgänge gibt. Und jeder lebt sein Leben mehr oder weniger dumpf, mehr oder weniger bewußt und wach. Das ist eine heilsame Einsicht, die das Leben erleichtert und Fehlschläge erspart. Deshalb ist es ebenso heiter, ebenso reich, bunt, wunderbar und ergreifend. Man muß sich diese Freude an der Buntheit, an der unfaßlichen Schönheit, die es auf Schritt und Tritt bietet, nicht trüben lassen, sondern sie immer und überall dankbar empfinden – wissen, daß sie der unerschöpfliche Ausfluß ist einer heimlichen und alles durchströmenden Harmonie. Und an diese geheime Wirklichkeit, die Harmonie des Universums, die Du im kleinsten und größten findest, muß man Anschluß finden, dann strömt sie in Dich und erfüllt Dich und durchströmt Dich und leuchtet aus Dir heraus und schafft Dir geheime Verbündete, die Dich mit ihrer Kraft in der Seele stärken und Dich schlank und biegsam machen, wenn das Leben stürmt und starke Stämme fällt und zerbersten läßt.“

Hans Herbert Grimm selbst hielt seinen Roman bis zuletzt für ein wichtiges Buch von hohem literarischem Rang, dessen Zeit seiner Meinung nach unweigerlich kommen müsse: „Es wird allerdings langsamer gehen als es meiner Geduld gefällt“. Als die Nationalsozialisten 1933 an die Macht kamen, mauerte er sein Manuskript weitsichtig in die Hauswand ein, später trat er „sicherheitshalber“ in die Partei ein, um weiterhin unbehelligt unterrichten zu können und sich somit ein gewisses Maß an Ungehorsam zu erhalten. Seine unermessliche Tragik besteht vor allem in der Tatsache, dass er sich erst zu seiner Autorschaft bekannte, als er sich einen direkten persönlichen Nutzen davon versprach: die DDR-Organe hatten ihn als ehemaliges NSDAP-Mitglied aus dem Schuldienst entlassen und mit dauerhaftem Berufsverbot belegt – für den leidenschaftlichen Lehrer eine persönliche Katastrophe. Zwei Tage nach einer letzten dringlichen Unterredung mit den maßgeblichen Behörden nahm Hans Herbert Grimm sich in seinem Haus das Leben.

„Schlump“, erschienen bei Kiepenheuer & Witsch, 348 Seiten, € 19,99

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