Am 1. August dieses Jahres
jährt sich zum hundertsten Mal der blindhaft-bündnistreue, sich für
das Schicksal von ganz Europa schnell als verhängnisvoll erweisende
Eintritt Deutschlands in jene apokalyptischen Kampfhandlungen, die
nach vier Jahren erbittert geführter militärischer
Materialschlachten und einem bis dahin ungeahnten Fanal von siebzehn
Millionen sinnlos vergeudeter Menschenleben als Erster Weltkrieg in
die menschliche Geschichte eingehen sollte und als kaum
aufgearbeitetes kollektives Trauma von mystischen Dimensionen den
blutigen Nährboden für den nur zwanzig Jahre später mit umso
schrecklicherer blind entfesselter Gewalt zurückschlagenden Zweiten
Weltkrieg bildete.
Bereits im Verlauf des
letzten Jahres ist eine ganze Fülle von neuen hochinformativen,
sorgfältig recherchierten und stilistisch wie inhaltlich
ausgezeichneten Sachbüchern über diese europäische Ur-Katastrophe
erschienen, die uns auf ebenso faktenreiche wie unvoreingenommene Art
und Weise in unserem natürlichen Bestreben unterstützen können, zu
einem umfangreicheren verstandesmäßigen Begreifen der historischen
Ereignisse zu gelangen. Daneben war allerdings auch eine ganze Reihe
von neuen Romanen zu diesem vielschichtigen Thema zu registrieren,
die dem komplexen sachlichen Hintergrund die ganz unmittelbaren,
persönlichen Auswirkungen des Krieges auf das Erleben des
menschlichen Individuums hinzufügen.
Schlump stand oft vor
seiner Ladentür und betrachtete das Leben und Treiben der kleinen
Etappenstadt. Er sah die sauberen und wohlgenährten Etappenoffiziere
vorbeigehen mit ihren blanken Gamaschen und nachlässig und elegant
die armseligen Verwundeten grüßen, die sich bescheiden an die Wand
drückten.
In diesem grundsätzlich
lobenswerten Zusammenhang ist soeben unter nicht geringem medialem
Blätterrauschen ein schon im Jahr 1928 anlässlich seines ersten
Erscheinens von Verlegerlegende Kurt Wolff (1887-1963) offensiv
beworbener Antikriegs- und Schelmenroman wieder neu aufgelegt worden,
der seinerzeit ohne nennenswerte öffentliche Resonanz im
übermächtigen Schatten des bahnbrechenden internationalen
Bestseller-Erfolgs von Erich Maria Remarques nur wenige Wochen zuvor
veröffentlichtem epochalen und auf kongeniale Art und Weise den Nerv
der Zeit treffenden Roman „Im Westen nichts Neues“ unweigerlich
untergehen musste und 1933 zu den wohl am wenigsten bekannten Werken
unter jenen den Nationalsozialisten verhassten Büchern zählte, die
von den neuen Matchhabern vor den Augen einer entrüsteten
Weltöffentlichkeit verbrannt wurden.
Jetzt ging die Hölle
los: Granaten, schwere, leichte, Schrappnells, Flachbahner, kleine,
große, kleine, immer toller wurde die Schießerei, immer verrückter,
Torpedominen, Brandminen. Man sah sie ganz deutlich glühen in der
Luft, die Minen, große und kleine; dazu die Leuchtkugeln! Endlich
kam auch unsere Artillerie, aber nur spärlich. Aber sie sausten ganz
knapp über den Kopf, und drüben zerplatzten sie, ganz hart. Es war
aufregend. Schlump mußte lachen; er lachte laut in den Höllenkrawall
hinein. Das gefiel ihm.
Zerbombter Wald bei Ypern |
Dass eben dieser Roman mit
dem barock-ausufernden Titel „Geschichten und Abenteuer aus dem
Leben des unbekannten Musketiers Emil Schulz, genannt 'Schlump', von
ihm selbst erzählt“ heute allenfalls noch einigen
Literaturwissenschaftlern oder wackeren Publizisten wie dem
Feuilleton-Chef der Frankfurter Allgemeinen Sonntagszeitung Volker
Weidemann (der das vergessene Werk in sein verdienstvolles „Buch der verbrannten Bücher“ aufnahm und für die vorliegende Ausgabe
ein absolut notwendiges und überaus erhellendes Nachwort verfasste)
darf aus zeitgenössischer Sicht allerdings kaum verwundern:
angelehnt an Grimmelshausens Schelmenroman „Simplicissimus“ wird
darin die wenig mitreissende und sprachlich uninspiriert-kauzige
Geschichte eines sprichwörtlichen Glückskindes erzählt, das sich
wegen der schönen, von der holden Weiblichkeit allseits geschätzten
Uniformen freiwillig zum Militär meldet, an der französischen Front
neben zahlreichen unbeschwerten Liebschaften schließlich auch das
Grauen des Stellungskriegs erlebt, woran er aber letztendlich
aufgrund seines sonnigen Gemüts und seiner vorbehaltlosen
Menschenliebe nicht zerbricht und schließlich sogar wohlbehalten
nach Hause zurückkehren darf, wo er bereits unverhofft von einer
treuen weiblichen Seele erwartet wird.
Und unten an den
Stufen, vor dem Eingang, da stand jemand. Die heilige Johanne.
Schlump stürzte auf sie zu: „Woher wußtest du?“ Sie sah ihn
glücklich an. „Ich hab alle Tage auf dich gewartet“, sagte sie.
Er schloß sie in die Arme und gab ihr vor allen Leuten einen Kuß.
Dann zogen sie vereint zu seiner Mutter, die in diesem Augenblick
nicht ahnte, daß die glücklichste Stunde ihres Lebens geschlagen
hatte.
Die eigentliche Bedeutung
des von dem Altenburger Gymnasiallehrer Hans Herbert Grimm
(1896-1950) unter dem Eindruck der eskalierenden gesellschaftlichen
Radikalisierung gegen Ende der Weimarer Republik lediglich anonym
veröffentlichten Romans scheint sich somit erst durch die Geschichte
seiner zeitgenössischen Nicht-Rezeption, seines späteren Verbots
durch die Nationalsozialisten sowie die durch seine späte
Wiederentdeckung erstmals offenbarten tragischen Lebens- und
insbesondere Todesumstände seines unglücklichen Autors zu ergeben.
Denn exemplarisch wird der „Schlump“ aus heutiger Sicht vor allem
durch die darin geradezu visionär vorweggenommene Spiegelung eines
dickfelligen, sich selbst als unpolitisch begreifenden kollektiven
Mitläufertums, das schon den Ersten Weltkrieg vornehmlich als
abenteuerliche Weltreise und zwiespältig-lebensgesättigtes Phänomen
des Menschseins an sich betrachtet hatte und so gleichermaßen
unbedarft schließlich auch in die unvorstellbaren Verbrechen des
Zweiten Weltkriegs hineinstolperte, ohne sich seiner Mitverantworung
bewusst zu werden. In bestimmten Grenzsituationen jedoch – so die
Erkenntnis aus dieser für viele Deutsche während des
Nationalsozialismus wohl durchaus charakteristischen Grundeinstellung
– reicht es nicht zu wissen, dass man selber gut und unschuldig
ist.
Hans H. Grimm/Foto: privat |
Für seinen
heranwachsenden Sohn führte Grimm „als ein närrisches
Erinnerungsstück aus meiner zweiten Kriegszeit“ während des
Zweiten Weltkriegs eine Art Tagebuch:
Letzten Endes sind wir
alle einsam, in eine feste Schale eingeschlossen, aus der es keine
Ausgänge gibt. Und jeder lebt sein Leben mehr oder weniger dumpf,
mehr oder weniger bewußt und wach. Das ist eine heilsame Einsicht,
die das Leben erleichtert und Fehlschläge erspart. Deshalb ist es
ebenso heiter, ebenso reich, bunt, wunderbar und ergreifend. Man muß
sich diese Freude an der Buntheit, an der unfaßlichen Schönheit,
die es auf Schritt und Tritt bietet, nicht trüben lassen, sondern
sie immer und überall dankbar empfinden – wissen, daß sie der
unerschöpfliche Ausfluß ist einer heimlichen und alles
durchströmenden Harmonie. Und an diese geheime Wirklichkeit, die
Harmonie des Universums, die Du im kleinsten und größten findest,
muß man Anschluß finden, dann strömt sie in Dich und erfüllt Dich
und durchströmt Dich und leuchtet aus Dir heraus und schafft Dir
geheime Verbündete, die Dich mit ihrer Kraft in der Seele stärken
und Dich schlank und biegsam machen, wenn das Leben stürmt und
starke Stämme fällt und zerbersten läßt.“
Hans Herbert Grimm selbst
hielt seinen Roman bis zuletzt für ein wichtiges Buch von hohem
literarischem Rang, dessen Zeit seiner Meinung nach unweigerlich
kommen müsse: „Es wird allerdings langsamer gehen als es meiner
Geduld gefällt“. Als die Nationalsozialisten 1933 an die Macht
kamen, mauerte er sein Manuskript weitsichtig in die Hauswand ein,
später trat er „sicherheitshalber“ in die Partei ein, um
weiterhin unbehelligt unterrichten zu können und sich somit ein
gewisses Maß an Ungehorsam zu erhalten. Seine unermessliche Tragik
besteht vor allem in der Tatsache, dass er sich erst zu seiner
Autorschaft bekannte, als er sich einen direkten persönlichen Nutzen
davon versprach: die DDR-Organe hatten ihn als ehemaliges
NSDAP-Mitglied aus dem Schuldienst entlassen und mit dauerhaftem
Berufsverbot belegt – für den leidenschaftlichen Lehrer eine
persönliche Katastrophe. Zwei Tage nach einer letzten dringlichen
Unterredung mit den maßgeblichen Behörden nahm Hans Herbert Grimm
sich in seinem Haus das Leben.
„Schlump“, erschienen
bei Kiepenheuer & Witsch, 348 Seiten, € 19,99
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