Im November 1891 brach
unter dem Kommando des wohlhabenden Berliner Historikers und
Philanthropen Paul Friedmann an Bord von dessen Dampfyacht Israel
eine denkwürdige Expedition russischer Juden von Bremerhaven
nach Ägypten auf, die der stets auch für die abseitigeren
Phänomene der jüdischen Historie offene Begründer des
renommierten Moses-Mendelssohn-Zentrums an der Universität
Potsdam, Julius H. Schoeps, in seinem neuen, aufschlussreichen
dokumentarischen Buch „Der König von Midian“ recht
zutreffend als lediglich kuriose pittoreske Fußnote der
Geschichte des politischen Zionismus einordnet.
Die prekären
Lebensverhältnisse der Juden im zaristischen Russland unter der
ständigen Bedrohung der sich regelmäßig immer wieder
aufs Neue blutig entfesselnden und von der Zentralmacht nicht
energisch genug unterbundenen Pogrome hatten den für seine
zahlreichen wissenschaftlichen Werke über das Tudor-Zeitalter in
ganz Europa geachteten Paul Friedmann (geboren 1840/gestorben nach
1911) schon recht früh dazu veranlasst, sich wie viele andere
seiner Zeitgenossen dezidierte Gedanken über die mögliche
Schaffung einer neuen sicheren Heimat für verfolgte Juden
außerhalb von Europa zu machen. Anders als der gebürtige
Münchener Baron Maurice de Hirsch (1831-1896), der als
einflussreicher Bankier höchst erfolgreich Siedlungsprojekte in
Argentinien (Moises Ville) und Kanada förderte, sah Friedmann
diese mögliche neu zu schaffende Heimat allerdings im Norden der
Arabischen Halbinsel, namentlich auf dem schmalen Küstenstreifen
südlich von Akaba schräg gegenüber der
Sinai-Halbinsel, dem biblischen Midian.
Dieser heute zum
Staatsgebiet Saudi-Arabiens zählende, eher unbedeutend
erscheinende Landstrich hatte aus Sicht des Berliner Historikers
indes zwei entscheidende Vorteile: erstens musste der enge Bezug zur
historischen geographischen Heimat der jüdischen Religion auch
dem Außenstehenden vollkommen offensichtlich erscheinen und
zweitens handelte es sich hierbei um eine nahezu menschenleere, nach
Meinung zahlreicher mit den lokalen Bedingungen vertrauter westlicher
Forscher für Siedlungsprojekte nicht gerade ungeeignete Region,
die nach der gängigen Rechtsauffassung des seit Anfang des
Jahrhunderts nunmehr unabhängigen Ägyptens zudem demjenigen
zuzufallen habe, der sie aktiv bewirtschafte.
Die bemerkenswerte
Tatsache, dass Friedmann sich im Gesamtkontext des seinerzeit
vorherrschenden aggressiven europäischen Kolonialismus nach
verschiedenen praktischen Erwägungen für ein weniger
prestigeträchtiges Siedlungsgebiet entschied, in dem jedoch –
anders als im von den Vordenkern des politischen Zionismus von jeher
favorisierten Palästina – nicht mit nennenswertem Widerstand
einer dort seit Generationen fest ansässigen Bevölkerung zu
rechnen sein würde, verdient zweifellos gerade aus heutiger
Sicht und in Kenntnis der fatalen Auswirkungen der bewussten
Negierung arabischer Interessen bei der Staatsgründung Israels
eine besondere Würdigung.
In augenfälligem,
ausgesprochen kauzigem Kontrast zu dieser scheinbar unzeitgemäßen,
auf friedlichen Ausgleich bedachten Grundhaltung engagierte Friedmann
als ihm untergeordnetes Führungsteam für sein
Siedlungsprojekt schon in der komplizierten Vorbereitungsphase eine
Gruppe ehemaliger preussischer Offiziere, die den zukünftigen
jüdischen Kolonisten zu Selbstverteidigungszwecken eine
umfangreiche militärische Grundausbildung zuteil werden lassen
sollten. Ausgerechnet diese Maßnahme sollte sich schon bald
nach der Ankunft in Suez am 1. Dezember 1891 als absolut fatal für
die Motivation der vierundzwanzig Teilnehmer erweisen, die sich schon
vor der Weiterreise nach Scherm el-Moyeh, dem auf der Sinai-Halbinsel
gelegenen Basislager zur intendierten Erkundung des eigentlichen
Siedlungsgebietes, plötzlich einem wohl angesichts der Umstände
vollkommen übertriebenen militärischen Drill ausgesetzt
sahen.
Und während selbst
einzelne kleine Details des Projekts augenscheinlich höchst
akribisch ausgearbeitet waren und aus heutiger Sicht zumindest in
theoretischer Hinsicht noch äußerst durchdacht erscheinen,
hinterlässt der Prozess der ganz konkreten praktischen Umsetzung
von Friedmanns Theorien von Beginn an – etwa bei der allzu
kurzfristigen Anwerbung der zukünftigen Kolonisten unter armen,
aus Russland geflüchteten und in Krakau gestrandeten Juden –
den Eindruck von erschreckender Halbherzigkeit und
zauderhaft-unentschlossener, kaum auf Nachhaltigkeit bedachter
Beliebigkeit, so dass ein Scheitern der Expedition trotz peinlich
genau ausgearbeiteter Verträge über deren Inhalt im
Rückblick als nahezu unvermeidlich charakterisiert werden muss.
Das endgültige und
für Paul Friedmann nicht nur in finanzieller Hinsicht
ausgesprochen bittere Scheitern seines ambitionierten noblen Projekts
innerhalb von nur zwei Monaten besitzt nahezu alle Zutaten, die eine
gelungene Farce als beispielhafte Zeitkritik braucht: wilde Beduinen,
osmanische Soldaten, Winkelzüge der internationalen Diplomatie,
Meuterei, Bestechung, einen tragischen Todesfall sowie zahlreiche
denkwürdige Auftritte des Expeditionsleiters in farbenfrohen
Fantasieuniformen sowie mit einer martialischen Bewaffnung, die
selbst Karl May zur Ehre gereicht hätte. All diese grotesk
scheinenden, für Zeit und Ort jedoch durchaus charakteristischen
Umstände bieten mehr als genug Unterhaltungswert, um Friedmanns
Expedition zum dankbaren Objekt künftiger Filme oder Romane zu
machen – wofür Julius H. Schoeps gründlich recherchiertes
Buch eine Fülle von interessanten Details und aufschlussreichen
Originaldokumenten in Form von authentischen Briefen und sonstigen
Zeitzeugnissen liefert.
Julius H. Schoeps |
Die nach seiner Rückkehr
aus Ägypten äußerst unstet verlaufende Lebensspur
Paul Friedmanns verliert sich nach 1911 endgültig. Das klägliche
Scheitern seines Midian-Projekts sowie die damit verbundenen
vehementen öffentlichen Anfeindungen in seiner preussischen
Heimat, die in mehreren wenig erfolgreichen Gerichtsprozessen
mündeten, hatten ihn nicht nur eines großen Teils seines
nicht unbeträchtlichen Vermögens beraubt, sondern ihn auch
nachhaltig verbittert und seiner kreativen Schaffenskraft beraubt.
Tragischerweise hätte sein ehrgeiziges Vorhaben, russische Juden
auf der arabischen Halbinsel anzusiedeln, jedoch auch bei
sorgfältigerer Auswahl der Expeditionsteilnehmer und einem
umsichtigeren Krisenmanagement zwangsläufig scheitern müssen:
Aufgrund einer nahezu
zeitgleich mit Beginn der Expedition erfolgten symbolischen Besetzung
des Zielgebiets durch osmanische Truppen und einer dadurch
ausgelösten kleineren diplomatischen Krise, zu deren Lösung
schließlich auch die gierig nach Einfluss im Nahen Osten
strebenden europäischen Großmächte aktiv beitragen
konnten, durfte sich Friedmann letztlich keinerlei offizieller
Unterstützung mehr für sein Unternehmen gewiss sein, weder
von ägyptischer Seite noch von westlicher. Hier wird gerade in
der grundlegenden Analyse des unkalkulierbaren Zusammenspiels des
Zufalls mit den unterschiedlichsten politischen Interessen und
Machtfaktoren am Ende beispielhaft deutlich, wie leicht die Schaffung
eines jüdischen Staates in Palästina ebenfalls lediglich
als Fußnote in die Geschichte hätte eingehen können.
„Der König von
Midian“, erschienen bei Koehler & Amelang, 223 Seiten, €
29,95
Keine Kommentare:
Kommentar veröffentlichen
Hinweis: Nur ein Mitglied dieses Blogs kann Kommentare posten.