Jerusalem

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Mittwoch, 2. April 2014

„Der König von Midian“ von Julius H. Schoeps

Im November 1891 brach unter dem Kommando des wohlhabenden Berliner Historikers und Philanthropen Paul Friedmann an Bord von dessen Dampfyacht Israel eine denkwürdige Expedition russischer Juden von Bremerhaven nach Ägypten auf, die der stets auch für die abseitigeren Phänomene der jüdischen Historie offene Begründer des renommierten Moses-Mendelssohn-Zentrums an der Universität Potsdam, Julius H. Schoeps, in seinem neuen, aufschlussreichen dokumentarischen Buch „Der König von Midian“ recht zutreffend als lediglich kuriose pittoreske Fußnote der Geschichte des politischen Zionismus einordnet.



Die prekären Lebensverhältnisse der Juden im zaristischen Russland unter der ständigen Bedrohung der sich regelmäßig immer wieder aufs Neue blutig entfesselnden und von der Zentralmacht nicht energisch genug unterbundenen Pogrome hatten den für seine zahlreichen wissenschaftlichen Werke über das Tudor-Zeitalter in ganz Europa geachteten Paul Friedmann (geboren 1840/gestorben nach 1911) schon recht früh dazu veranlasst, sich wie viele andere seiner Zeitgenossen dezidierte Gedanken über die mögliche Schaffung einer neuen sicheren Heimat für verfolgte Juden außerhalb von Europa zu machen. Anders als der gebürtige Münchener Baron Maurice de Hirsch (1831-1896), der als einflussreicher Bankier höchst erfolgreich Siedlungsprojekte in Argentinien (Moises Ville) und Kanada förderte, sah Friedmann diese mögliche neu zu schaffende Heimat allerdings im Norden der Arabischen Halbinsel, namentlich auf dem schmalen Küstenstreifen südlich von Akaba schräg gegenüber der Sinai-Halbinsel, dem biblischen Midian.

Dieser heute zum Staatsgebiet Saudi-Arabiens zählende, eher unbedeutend erscheinende Landstrich hatte aus Sicht des Berliner Historikers indes zwei entscheidende Vorteile: erstens musste der enge Bezug zur historischen geographischen Heimat der jüdischen Religion auch dem Außenstehenden vollkommen offensichtlich erscheinen und zweitens handelte es sich hierbei um eine nahezu menschenleere, nach Meinung zahlreicher mit den lokalen Bedingungen vertrauter westlicher Forscher für Siedlungsprojekte nicht gerade ungeeignete Region, die nach der gängigen Rechtsauffassung des seit Anfang des Jahrhunderts nunmehr unabhängigen Ägyptens zudem demjenigen zuzufallen habe, der sie aktiv bewirtschafte.



Die bemerkenswerte Tatsache, dass Friedmann sich im Gesamtkontext des seinerzeit vorherrschenden aggressiven europäischen Kolonialismus nach verschiedenen praktischen Erwägungen für ein weniger prestigeträchtiges Siedlungsgebiet entschied, in dem jedoch – anders als im von den Vordenkern des politischen Zionismus von jeher favorisierten Palästina – nicht mit nennenswertem Widerstand einer dort seit Generationen fest ansässigen Bevölkerung zu rechnen sein würde, verdient zweifellos gerade aus heutiger Sicht und in Kenntnis der fatalen Auswirkungen der bewussten Negierung arabischer Interessen bei der Staatsgründung Israels eine besondere Würdigung.

In augenfälligem, ausgesprochen kauzigem Kontrast zu dieser scheinbar unzeitgemäßen, auf friedlichen Ausgleich bedachten Grundhaltung engagierte Friedmann als ihm untergeordnetes Führungsteam für sein Siedlungsprojekt schon in der komplizierten Vorbereitungsphase eine Gruppe ehemaliger preussischer Offiziere, die den zukünftigen jüdischen Kolonisten zu Selbstverteidigungszwecken eine umfangreiche militärische Grundausbildung zuteil werden lassen sollten. Ausgerechnet diese Maßnahme sollte sich schon bald nach der Ankunft in Suez am 1. Dezember 1891 als absolut fatal für die Motivation der vierundzwanzig Teilnehmer erweisen, die sich schon vor der Weiterreise nach Scherm el-Moyeh, dem auf der Sinai-Halbinsel gelegenen Basislager zur intendierten Erkundung des eigentlichen Siedlungsgebietes, plötzlich einem wohl angesichts der Umstände vollkommen übertriebenen militärischen Drill ausgesetzt sahen.

Und während selbst einzelne kleine Details des Projekts augenscheinlich höchst akribisch ausgearbeitet waren und aus heutiger Sicht zumindest in theoretischer Hinsicht noch äußerst durchdacht erscheinen, hinterlässt der Prozess der ganz konkreten praktischen Umsetzung von Friedmanns Theorien von Beginn an – etwa bei der allzu kurzfristigen Anwerbung der zukünftigen Kolonisten unter armen, aus Russland geflüchteten und in Krakau gestrandeten Juden – den Eindruck von erschreckender Halbherzigkeit und zauderhaft-unentschlossener, kaum auf Nachhaltigkeit bedachter Beliebigkeit, so dass ein Scheitern der Expedition trotz peinlich genau ausgearbeiteter Verträge über deren Inhalt im Rückblick als nahezu unvermeidlich charakterisiert werden muss.

Das endgültige und für Paul Friedmann nicht nur in finanzieller Hinsicht ausgesprochen bittere Scheitern seines ambitionierten noblen Projekts innerhalb von nur zwei Monaten besitzt nahezu alle Zutaten, die eine gelungene Farce als beispielhafte Zeitkritik braucht: wilde Beduinen, osmanische Soldaten, Winkelzüge der internationalen Diplomatie, Meuterei, Bestechung, einen tragischen Todesfall sowie zahlreiche denkwürdige Auftritte des Expeditionsleiters in farbenfrohen Fantasieuniformen sowie mit einer martialischen Bewaffnung, die selbst Karl May zur Ehre gereicht hätte. All diese grotesk scheinenden, für Zeit und Ort jedoch durchaus charakteristischen Umstände bieten mehr als genug Unterhaltungswert, um Friedmanns Expedition zum dankbaren Objekt künftiger Filme oder Romane zu machen – wofür Julius H. Schoeps gründlich recherchiertes Buch eine Fülle von interessanten Details und aufschlussreichen Originaldokumenten in Form von authentischen Briefen und sonstigen Zeitzeugnissen liefert.

Julius H. Schoeps

Die nach seiner Rückkehr aus Ägypten äußerst unstet verlaufende Lebensspur Paul Friedmanns verliert sich nach 1911 endgültig. Das klägliche Scheitern seines Midian-Projekts sowie die damit verbundenen vehementen öffentlichen Anfeindungen in seiner preussischen Heimat, die in mehreren wenig erfolgreichen Gerichtsprozessen mündeten, hatten ihn nicht nur eines großen Teils seines nicht unbeträchtlichen Vermögens beraubt, sondern ihn auch nachhaltig verbittert und seiner kreativen Schaffenskraft beraubt. Tragischerweise hätte sein ehrgeiziges Vorhaben, russische Juden auf der arabischen Halbinsel anzusiedeln, jedoch auch bei sorgfältigerer Auswahl der Expeditionsteilnehmer und einem umsichtigeren Krisenmanagement zwangsläufig scheitern müssen:

Aufgrund einer nahezu zeitgleich mit Beginn der Expedition erfolgten symbolischen Besetzung des Zielgebiets durch osmanische Truppen und einer dadurch ausgelösten kleineren diplomatischen Krise, zu deren Lösung schließlich auch die gierig nach Einfluss im Nahen Osten strebenden europäischen Großmächte aktiv beitragen konnten, durfte sich Friedmann letztlich keinerlei offizieller Unterstützung mehr für sein Unternehmen gewiss sein, weder von ägyptischer Seite noch von westlicher. Hier wird gerade in der grundlegenden Analyse des unkalkulierbaren Zusammenspiels des Zufalls mit den unterschiedlichsten politischen Interessen und Machtfaktoren am Ende beispielhaft deutlich, wie leicht die Schaffung eines jüdischen Staates in Palästina ebenfalls lediglich als Fußnote in die Geschichte hätte eingehen können.

„Der König von Midian“, erschienen bei Koehler & Amelang, 223 Seiten, € 29,95

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