Jerusalem

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Freitag, 25. April 2014

„Heilige Mörderin“ von Keigo Higashino

Das sogenannte „perfekte Verbrechen“ ist ein Mythos, an dem sich – zumindest in der Theorie – schon zahlreiche ambitionierte Kriminalschriftsteller und Filmemacher abgearbeitet haben. Aber ist es moralisch überhaupt zulässig, Perfektion und Verbrechen in einem Atemzug zu nennen und so miteinander identifizierbar zu machen? Der findig-geistreiche japanische Autor Keigo Higashino, dessen packend-raffinierte Bücher seit dem letzten Jahr auch den deutschen Markt erobern, hat den nicht nachweisbaren Mord, der aus kriminalistischer Sicht auf den ersten Blick keinen rationalen Beweggründen zu gehorchen scheint und somit zunächst für Polizei und Staatsanwaltschaft unerklärlich bleiben muss, zum unverkennbaren Markenzeichen seiner ungewöhnlichen Krimis gemacht.



Sein überaus origineller Master Mind und sympathischer Protagonist ist der ebenso lebenserfahrene wie empathische Tokioter Physik-Professor Yukawa, der es als unabhängiger Sachverständiger der Polizei nicht nur aus originärem wissenschaftlichen Erkenntnisdrang, sondern auch aufgrund seiner ganz persönlichen, individuellen charakterlichen Veranlagung gewohnt ist, innerhalb der klar umrissenen Grenzen mathematischer Logik auch das scheinbar Undenkbare und sogar das Unfassbare, vom Menschen intuitiv Verdrängte absolut nüchtern und vorurteilsfrei mit seinem scharfe, überlegenen Verstand abzuwägen und dabei stets unermüdlich zur Lösung des jeweiligen Problems vorzustoßen.

Zwischen einem trickreichen Verbrechen und einem Zaubertrick besteht ein großer Unterschied. Ist der Zaubertrick beendet, hat das Publikum keine Chance mehr, ihn zu durchschauen. Bei einem Verbrechen hat der Ermittler die Möglichkeit, den Tathergang bis ins Detail zu erkunden. Jede Methode hinterlässt irgendwelche Spuren. Das Schwierigste an einem kriminellen Trick ist es, diese völlig verschwinden zu lassen.“

Am Ende seines ersten Falles „Verdächtige Geliebte“, an dem man als unwillkürlich mitleidender und -fühlender Leser bis zuletzt im Stillen hoffte, dass die rührende, geheime Liaison des hilfreichen und aus moralisch nur allzu nachvollziehbaren Gründen schuldig gewordenen Täters mit seiner auf naive Art und Weise unverschuldet in Not geratenen, heimlich geliebten Nachbarin am Ende unentdeckt bleiben dürfe, hatte sich Yukawa innerlich von seinem langjährigen Freund und ehemaligen Kommilitonen, Polizei-Inspektor Kusanagi, entfremdet, eben weil er den Mord ebenfalls am liebsten ungesühnt gewusst hätte. So bleibt es diesmal Kusanagis junger ehrgeiziger Assistentin Utsumi vorbehalten, den zunächst unwilligen Physiker um Hilfe bei einem rätselhaften neuen Fall zu bitten.

Als Sie mich anriefen, wollte ich zuerst ablehnen. Ich habe kein Interesse mehr an polizeilichen Ermittlungen. Ich habe nur zugestimmt, weil Sie sagten, Kusanagi solle nichts davon erfahren. Das hat mich neugierig gemacht, nur deshalb nehme ich mir die Zeit. Also möchte ich auch zuerst hören, warum er nichts wissen darf. Und ob ich mir die Geschichte Ihres Falls anhöre oder nicht, entscheide ich hinterher.“ [...]
Kommissar Kusanagi“, sagte sie und sah Yukawa weiter in die Augen, „ist verliebt.“
Wie bitte?“ Das sarkastische Glitzern in Yukawas Augen verschwand. Sein Blick verschwamm wie bei einem kleinen Jungen, der sich verlaufen hat. Er starrte Utsumi an. „Was soll das heißen?“
Liebe“, wiederholte sie. „Kommissar Kusanagi ist verliebt.“

Ein erfolgreicher Unternehmer war unlängst in seinem eigenen Haus von seiner heimlichen Geliebten Hiromi Wakayama, der Geschäftspartnerin und langjährigen Freundin seiner Frau Ayane, einer bekannten Patchwork-Künstlerin, leblos aufgefunden worden. Ayane selbst hatte Hiromi den Hausschlüssel für die Zeit ihrer kurzfristig angetretenen Flugreise zu ihrem kranken Vater in der Präfektur Hokkaido überlassen. Die Obduktion des Toten hat eine Vergiftung mittels Arsensäure ergeben, die sich offensichtlich in dem von ihm selbst frisch zubereiteten Kaffee befunden hatte. Trägermedium des Giftes war aller Wahrscheinlichkeit nach ein im Hauswassersystem fest installierter verunreinigter Wasserfilter, der keinerlei Anzeichen einer gezielten Manipulation aufwies.

Rainbow Bridge in Tokio

Obwohl Ehefrau wie auch Geliebte des Ermordeten für den mit sicherer Präzision bestimmbaren Todeszeitpunkt absolut lückenlose Alibis vorweisen können, gelten beide dem Ermittlerteam unabhängig voneinander als dringend tatverdächtig. Während der in seinen akribischen Nachforschungen diesmal ungewöhnlich befangen wirkende Inspektor Kusanagi die naive, schwangere Hiromi verdächtigt, legt sich seine Assistentin Utsumi intuitiv auf die gleichermaßen am Boden zerstört scheinende Witwe Ayane fest. Als die Ermittlungen schon bald ergebnislos zu scheitern drohen und die Staatsanwaltschaft bereits die Einstellung der Untersuchungen erwägt, wendet sich Utsumi um Hilfe an Professor Yukawa, der nach langem Zögern wegen eines vollkommen unscheinbaren Details einwilligt.

Wir haben nicht die geringste Ahnung. Wir haben also eine Gleichung ohne Lösung vor uns. Obwohl es doch eine geben könnte.“
Eine Lösung?“
Allerdings ist sie rein theoretisch.“
Inwiefern theoretisch?“
Theoretisch ist sie denkbar, praktisch jedoch unmöglich. Es gäbe da einen Trick, aber es ist nahezu unmöglich, ihn durchzuführen.“
Utsumi zuckte die Achseln. „Ich verstehe nicht, worauf Sie hinauswollen. Heißt das, ich führe diese Untersuchung durch, um zu beweisen, dass die Tat unmöglich ist?“
Zu beweisen, dass es auf etwas keine Antwort gibt, kann auch wichtig sein. [...] Das ist eine Berufskrankheit bei Wissenschaftlern. Auch wenn eine Lösung nur theoretisch möglich ist, muss ich sie finden.“

Keigo Higashino

Das Ergebnis seiner akribischen Nachforschungen und sherlockhaft-zwingenden Überlegungen ist ebenso ungeheuerlich wie genial – und entlarvt am Ende (ähnlichwie im ersten Fall) das Mordopfer selbst als eigentliche pathologische Täterpersönlichkeit, deren Gefühlskälte und psychische Grausamkeit unwillkürlich Sympathien für die einsamen Beweggründe der dem Leser von Anfang an bekannten märtyrerhaften Täterin zu wecken vermögen. Deren ausführliche, intime Selbstreflexion beschließt das Buch auf melancholische Art und Weise und offenbart dabei erneut das herausragende Talent des Autors, die moderne urbane Gesellschaft Japans nicht nur in all ihren kulturellen Widersprüchen literarisch zu erforschen, sondern auch in ihren unbestreitbaren Stärken kongenial abzubilden. Keigo Higashinos kluge, empathische Romane sind mit ihren packenden, die Handlung vorantreibenden Dialogen, einem geradezu filmreifen Timing sowie ihrem bemerkenswerten Gespür für die irritierenden kleinen Zwischentöne der menschlichen Psychologie eine absolute Bereicherung für die internationale Krimilandschaft.

„Heilige Mörderin“, aus dem Japanischen von Ursula Gräfe, erschienen bei Klett-Cotta, 316 Seiten, € 19,95

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