Das sogenannte „perfekte
Verbrechen“ ist ein Mythos, an dem sich – zumindest in der
Theorie – schon zahlreiche ambitionierte Kriminalschriftsteller und
Filmemacher abgearbeitet haben. Aber ist es moralisch überhaupt
zulässig, Perfektion und Verbrechen in einem Atemzug zu nennen
und so miteinander identifizierbar zu machen? Der findig-geistreiche
japanische Autor Keigo Higashino, dessen packend-raffinierte Bücher
seit dem letzten Jahr auch den deutschen Markt erobern, hat den nicht
nachweisbaren Mord, der aus kriminalistischer Sicht auf den ersten
Blick keinen rationalen Beweggründen zu gehorchen scheint und
somit zunächst für Polizei und Staatsanwaltschaft
unerklärlich bleiben muss, zum unverkennbaren Markenzeichen
seiner ungewöhnlichen Krimis gemacht.
Sein überaus
origineller Master Mind und sympathischer Protagonist ist der
ebenso lebenserfahrene wie empathische Tokioter Physik-Professor
Yukawa, der es als unabhängiger Sachverständiger der
Polizei nicht nur aus originärem wissenschaftlichen
Erkenntnisdrang, sondern auch aufgrund seiner ganz persönlichen,
individuellen charakterlichen Veranlagung gewohnt ist, innerhalb der
klar umrissenen Grenzen mathematischer Logik auch das scheinbar
Undenkbare und sogar das Unfassbare, vom Menschen intuitiv Verdrängte
absolut nüchtern und vorurteilsfrei mit seinem scharfe,
überlegenen Verstand abzuwägen und dabei stets unermüdlich
zur Lösung des jeweiligen Problems vorzustoßen.
„Zwischen einem
trickreichen Verbrechen und einem Zaubertrick besteht ein großer
Unterschied. Ist der Zaubertrick beendet, hat das Publikum keine
Chance mehr, ihn zu durchschauen. Bei einem Verbrechen hat der
Ermittler die Möglichkeit, den Tathergang bis ins Detail zu
erkunden. Jede Methode hinterlässt irgendwelche Spuren. Das
Schwierigste an einem kriminellen Trick ist es, diese völlig
verschwinden zu lassen.“
Am Ende seines ersten
Falles „Verdächtige Geliebte“, an dem man als unwillkürlich
mitleidender und -fühlender Leser bis zuletzt im Stillen hoffte,
dass die rührende, geheime Liaison des hilfreichen und aus
moralisch nur allzu nachvollziehbaren Gründen schuldig
gewordenen Täters mit seiner auf naive Art und Weise
unverschuldet in Not geratenen, heimlich geliebten Nachbarin am Ende
unentdeckt bleiben dürfe, hatte sich Yukawa innerlich von seinem
langjährigen Freund und ehemaligen Kommilitonen,
Polizei-Inspektor Kusanagi, entfremdet, eben weil er den Mord
ebenfalls am liebsten ungesühnt gewusst hätte. So bleibt es
diesmal Kusanagis junger ehrgeiziger Assistentin Utsumi vorbehalten,
den zunächst unwilligen Physiker um Hilfe bei einem rätselhaften
neuen Fall zu bitten.
„Als Sie mich
anriefen, wollte ich zuerst ablehnen. Ich habe kein Interesse mehr an
polizeilichen Ermittlungen. Ich habe nur zugestimmt, weil Sie sagten,
Kusanagi solle nichts davon erfahren. Das hat mich neugierig gemacht,
nur deshalb nehme ich mir die Zeit. Also möchte ich auch zuerst
hören, warum er nichts wissen darf. Und ob ich mir die
Geschichte Ihres Falls anhöre oder nicht, entscheide ich
hinterher.“ [...]
„Kommissar Kusanagi“,
sagte sie und sah Yukawa weiter in die Augen, „ist verliebt.“
„Wie bitte?“ Das
sarkastische Glitzern in Yukawas Augen verschwand. Sein Blick
verschwamm wie bei einem kleinen Jungen, der sich verlaufen hat. Er
starrte Utsumi an. „Was soll das heißen?“
„Liebe“,
wiederholte sie. „Kommissar Kusanagi ist verliebt.“
Ein erfolgreicher
Unternehmer war unlängst in seinem eigenen Haus von seiner
heimlichen Geliebten Hiromi Wakayama, der Geschäftspartnerin und
langjährigen Freundin seiner Frau Ayane, einer bekannten
Patchwork-Künstlerin, leblos aufgefunden worden. Ayane selbst
hatte Hiromi den Hausschlüssel für die Zeit ihrer
kurzfristig angetretenen Flugreise zu ihrem kranken Vater in der
Präfektur Hokkaido überlassen. Die Obduktion des Toten hat
eine Vergiftung mittels Arsensäure ergeben, die sich
offensichtlich in dem von ihm selbst frisch zubereiteten Kaffee
befunden hatte. Trägermedium des Giftes war aller
Wahrscheinlichkeit nach ein im Hauswassersystem fest installierter
verunreinigter Wasserfilter, der keinerlei Anzeichen einer gezielten
Manipulation aufwies.
Rainbow Bridge in Tokio |
Obwohl Ehefrau wie auch
Geliebte des Ermordeten für den mit sicherer Präzision
bestimmbaren Todeszeitpunkt absolut lückenlose Alibis vorweisen
können, gelten beide dem Ermittlerteam unabhängig
voneinander als dringend tatverdächtig. Während der in
seinen akribischen Nachforschungen diesmal ungewöhnlich befangen
wirkende Inspektor Kusanagi die naive, schwangere Hiromi verdächtigt,
legt sich seine Assistentin Utsumi intuitiv auf die gleichermaßen
am Boden zerstört scheinende Witwe Ayane fest. Als die
Ermittlungen schon bald ergebnislos zu scheitern drohen und die
Staatsanwaltschaft bereits die Einstellung der Untersuchungen erwägt,
wendet sich Utsumi um Hilfe an Professor Yukawa, der nach langem
Zögern wegen eines vollkommen unscheinbaren Details einwilligt.
„Wir haben nicht die
geringste Ahnung. Wir haben also eine Gleichung ohne Lösung vor
uns. Obwohl es doch eine geben könnte.“
„Eine Lösung?“
„Allerdings ist sie
rein theoretisch.“
„Inwiefern
theoretisch?“
„Theoretisch ist sie
denkbar, praktisch jedoch unmöglich. Es gäbe da einen
Trick, aber es ist nahezu unmöglich, ihn durchzuführen.“
Utsumi zuckte die
Achseln. „Ich verstehe nicht, worauf Sie hinauswollen. Heißt
das, ich führe diese Untersuchung durch, um zu beweisen, dass
die Tat unmöglich ist?“
„Zu beweisen, dass es
auf etwas keine Antwort gibt, kann auch wichtig sein. [...] Das ist
eine Berufskrankheit bei Wissenschaftlern. Auch wenn eine Lösung
nur theoretisch möglich ist, muss ich sie finden.“
Keigo Higashino |
Das Ergebnis seiner
akribischen Nachforschungen und sherlockhaft-zwingenden Überlegungen
ist ebenso ungeheuerlich wie genial – und entlarvt am Ende (ähnlichwie im ersten Fall) das Mordopfer selbst als eigentliche
pathologische Täterpersönlichkeit, deren Gefühlskälte
und psychische Grausamkeit unwillkürlich Sympathien für die
einsamen Beweggründe der dem Leser von Anfang an bekannten
märtyrerhaften Täterin zu wecken vermögen. Deren
ausführliche, intime Selbstreflexion beschließt das Buch
auf melancholische Art und Weise und offenbart dabei erneut das
herausragende Talent des Autors, die moderne urbane Gesellschaft
Japans nicht nur in all ihren kulturellen Widersprüchen
literarisch zu erforschen, sondern auch in ihren unbestreitbaren
Stärken kongenial abzubilden. Keigo Higashinos kluge,
empathische Romane sind mit ihren packenden, die Handlung
vorantreibenden Dialogen, einem geradezu filmreifen Timing sowie
ihrem bemerkenswerten Gespür für die irritierenden kleinen
Zwischentöne der menschlichen Psychologie eine absolute
Bereicherung für die internationale Krimilandschaft.
„Heilige Mörderin“,
aus dem Japanischen von Ursula Gräfe, erschienen bei
Klett-Cotta, 316 Seiten, € 19,95
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