Jerusalem

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Dienstag, 29. April 2014

„Sommer in Brandenburg“ von Urs Faes

Es gibt Phasen im Leben eines Menschen, die von ihm so intensiv erlebt und erfahren werden, dass er ihnen später intuitiv buchstäblich alles, was sich davor oder danach zugetragen hat, unweigerlich unterordnen muss. Diese Zeit des Übergangs, des geistigen und sexuellen Erwachens sowie der ureigenen persönlichen Charakterbildung, die man sprichwörtlich getrost als jeweils individuelle „goldene Ära“ bezeichnen darf, lässt sich oft nur im Nachhinein zeitlich bemessen, sich aber nicht auch nur annähernd wiederholen; sie ist dem einzelnen für gewöhnlich lebenslang ein stets gegenwärtiger Quell einer unstillbaren persönlichen Sehnsucht, aber vermag ihn dennoch für den Rest seines Lebens zu motivieren und innerlich zu stützen: sie bleibt der unverrückbare Bezugspunkt der eigenen Persönlichkeit.



Der für sein bisheriges umfangreiches Werk bereits vielfach ausgezeichnete deutschsprachige Schweizer Schriftsteller Urs Faes (geboren 1947) hat in seiner jüngst erschienenen, ebenso eindringlichen wie berührenden und hoch poetischen Recherche „Sommer in Brandenburg“ über eines von zweiunddreißig Hachschara-Lagern in Nazi-Deutschland, die junge deutsche Juden auch während der eskalierenden Verfolgung durch Nazi-Deutschland noch auf die angestrebte Auswanderung nach Palästina vorbereiten sollten, die Stimmung einer solchen „goldenen Zeit“ unter denkbar schwersten Rahmenbedingungen auf kongeniale Art und Weise literarisch eingefangen.


Er blickte in die Nacht hinaus. Alles still, auf der nahen Chaussee kein Laut. Im Haus waren noch vereinzelte Stimmen zu hören, Mädchenstimmen; drüben in der Unterkunft der Jungen herrschte Ruhe, auch in den Ställen. Über allem die Kuppel des nachtblauen Himmels. Noch nirgends hatte er den Himmel so überwältigend hoch wahrgenommen wie hier, als wäre die Erde bloß eine Scheibe und über ihr dieses Halbrund, mit Sternen gesprenkelt, ein sichelfeiner Mond, abnehmend. Seine Hand streifte den Sims der Brüstung. Das Mauerwerk war noch warm, er stellte sich vor, Lissys Hand hätte da gelegen und ein wenig Wärme für ihn zurückgelassen.

Das ehemalige Hachschara-Lager des jüdischen Pfadfinderbundes „Makkabi Hazair“ im Jagdschloss Ahrensdorf bei Trebbin, dreißig Kilometer südlich von Berlin gelegen, ist heute die einzige baulich intakt gebliebene Stätte dieser Art auf deutschem Boden, an deren öffentlich kaum bekannte, faszinierende Geschichte als landwirtschaftliche Ausbildungsstätte für jüdische Jugendliche im Alter von vierzehn bis siebzehn Jahren bereits seit 1989 von einem privaten Förderverein mit großer internationaler Resonanz erinnert wird, dessen zahlreiche verdienstvolle Publikationen in kleiner Auflage Urs Faes offensichtlich zu seinem unvergesslichen, stillen und bescheidenen neuen Roman angeregt haben.

Übel sind die Zeiten, und übel geht es uns in ihnen. Ihr Gesicht verschattete sich, keine Spur mehr von jenem übermütigen Lachen, das durchs Landwerk gedrungen war. Schiller, sagte sie. Sie griff sich an die Stirn und schob eine Strähne auf die Seite. Und wieder, nur für einen Moment, waren da ihre offenen Augen, die in seine fielen, strahlten und sich wieder trübten. Er lächelte ihr zu. Aber wir können hier auch immer wieder vergessen, was uns bedrückt. Wir hoffen auf die Ausreise. Dafür arbeiten wir, unser Tagesplan ist straff geordnet, und wie. Du wirst sehen, von morgens bis abends, immer an der Arbeit.

In dem von seinen turnusgemäß wechselnden Bewohnern aufgrund seiner spezifischen Funktion liebevoll „Kibbuz Ahrensdorf“ genannten Lager konnten sich zwischen 1936 und 1941 mindestens 268 Mädchen und Jungen unter genossenschaftlichen Bedingungen auf die angestrebte Emigration nach Palästina vorbereiten, unter ihnen die bis heute ungebrochen kämpferische Vorsitzende des deutschen Auschwitz-Komitees Esther Bejarano, deren eindrucksvolle Erinnerungen im vergangenen Jahr erschienen sind. Mindestens 34 Teilnehmer der Schulungen überlebten die Schoah nachweislich nicht, und die Spuren von weiteren 44 ehemaligen Teilnehmern der Kurse verlieren sich im bitteren Dunkel der Kriegsjahre. 130 Ahrensdorfer Juden jedoch gelang im Verlauf der Jahre der große rettende Schritt nach Palästina, und einige von ihnen etablierten sich dort während der israelischen Staatsgründung als bis heute hochgeachtete Pioniere in so namhaften Kibbuzim wie Degania oder Scha'ar ha Golan.

Mitglieder des Makkabi Hazair in Ahrensdorf/Foto: Herbert Sonnenfeld

In Urs Faes wunderbarem, von strahlender empathischer Mitmenschlichkeit und dem Zauber des Neuen getragenem biographischen Roman beginnt für den jungen Hamburger Juden Ron Berend, der schon vor Monaten in Ahrensdorf heimisch geworden ist und sich als tatkräftiger, geschickter Handwerker bereits berechtigte Hoffnungen auf eines der begehrten Auswanderungszertifikate machen darf, mit der Ankunft der jungen Wienerin Lissy Harb im Frühsommer 1938 eine vollkommen neue, ungeahnte Qualität der Weltwahrnehmung und des Erlebens:

Was war das für eine Stimme, ein Lachen, nicht laut, aber eindringlich, übermütig verspielt, unbekannt, vor allem das: ein Mädchenlachen, das er nie zuvor gehört hatte, ein Klang, der ihm fremd war, kehlig, rauh. [...] Die Stimme, etwas laut für eine Zeit, in der sie gelernt hatten, leise und unauffällig zu sein, kein Aufsehen zu erregen, zu tun, als wären sie nicht da. Und nun lachte da eine, rief hinüber zum Haus, wo die Mädchen waren. Er hielt im Laufen inne, machte ein paar Schritte auf das Gebäude zu, ein Jagdschlößchen aus vergangener Zeit. Da entdeckte er das Mädchen am Brunnen, das zum Fenster hinaufstrahlte, wo zwei andere sich herauslehnten und mit ausgebreiteten Armen winkten. [...] Das Mädchen drehte sich zögernd in seine Richtung, den Fuß nach innen gerichtet. Er schaute auf die Seidenstrümpfe, keine hier im Landwerk trug Seidenstrümpfe.


Obwohl die politischen und gesellschaftlichen Rahmenbedingungen in Nazi-Deutschland alles andere als hilfreich sind, erscheint die Hachschara-Stätte Ahrensdorf in Faes' konzentriert-poetischer, literarischer Aufarbeitung dem Leser lange Zeit als eine kapitale, der zunehmend aus den Fugen geratenden Außenwelt einigermaßen erfolgreich entrückte ländliche Idylle, die zwar von der Sorge um die der stetig eskalierenden staatlichen Entrechtung ausgesetzten Freunde und Familenmitglieder in Form von Briefen, Anrufen und sorgenvoller Ahnungen wirksam berührt, jedoch selbst noch kaum von der dem Projekt explizit wohlgesonnenen Obrigkeit der kleinen Dorfgemeinde behelligt wird und in der alle Mitglieder des äußerlich fragilen, aber innerlich starken und kampfesmutigen Gemeinwesens mit ganzer Kraft auf das große, realistischerweise noch erreichbare Ziel der Auswanderung und der Flucht vor der sich abzeichnenden Verfolgung durch die Nationalsozialisten hinarbeiten.

Hachschara-Stätte Ahrensdorf/Foto: Herbert Sonnenfeld

Lissy und Ron fühlen sich von der ersten Begegnung an als auf rührende Art und Weise seelenverwandt Scheinende zueinander hingezogen und werden innerhalb des Lagers im Verlauf der folgenden Jahre zu jenem exemplarischen Paar der Paare, dem selbst noch der Unbeteiligste ein gutes Gelingen sowie ein glückliches Ende für ihre nicht allein von der unkalkulierbaren Zuteilung der Auswanderungszertifikate bedrohte, in hohem Maße augenfällige, besonders innige Beziehung wünscht: so arrangiert die strenge Leiterin des Lagers persönlich eine heimliche Liebesnacht. Dennoch wird die Situation mit den Jahren immer schwieriger, die Auswanderung nach Palästina nur noch auf hochgradig riskante, illegale Art und Weise möglich. Immer mehr Jugendliche verlassen Ahrensdorf unter dem desillusionierenden Eindruck des allesentscheidenden Paradigmenwechsels der nationalsozialistischen Judenpolitik von gesellschaftlicher Ausgrenzung zu aktiver brutaler Verfolgung.

Vor dem Einschlafen las er Marleens Brief. Sie blieb knapp in ihren Worten. Aber er begriff, die Begegnung in Amsterdam war nicht geglückt. Keine Hoffnung, keine Liebe, keine neue Heimat.
Ich suche immer so aussichtslose Sachen.
Ein Marleen-Satz.
Im Lesen sah er, wie Marleen die Arme hängen ließ, die Augen niederschlug. So hatte sie im Türrahmen gestanden bei seiner Abreise aus Hamburg.
Ich bleibe bei Vater.
Den Satz hatte sie angefügt, als Postskriptum.
Er hätte Marleen gern in den Arm genommen.

Der Autor bleibt erzählerisch fortlaufend dicht an der Lagergemeinschaft, streng ortsgebunden und stets gleichzeitig mit den Geschehnissen. Das Ausbleiben der Nachrichten von außen allerdings, die Sorge um deportierte Freunde und Familienmitglieder sowie die parallel dazu ablaufenden geschichtlichen Ereignisse und Prozesse stellt Faes jedoch in einigen mit seiner eigenen Person als Schriftsteller namentlich identifizierten Einschüben höchst umsichtig in einen größeren Zusammenhang, indem er unter dem Stichwort „Nacherzählen“ von jenen furchtbaren Dingen berichtet, die den Angehörigen seiner Protagonisten widerfahren – von jenen ungewusst und doch erahnt und befürchtet.

Wir ahnten nicht, wie schlimm es werden würde, und haben im Sommer 1940 vieles nicht gesehen, was wir hätten sehen müssen. Es hält ihn nicht auf seinem Stuhl, er geht im Zimmer auf und ab, wiederholt den Satz. So kurz der Aufenthalt im Landwerk war, betont er, die Hachschara war für ihn und für viele andere auch eine prägende Zeit, ein Ort zwischen den Welten, wenn auch vielleicht von der Erinnerung verklärt. Aus den Gesichtern von Ron und Lissy hatte jenes Glück auf Zeit gesprochen, das sie in dieser kleinen Welt mit ihrer strengen Ordnung gefunden hatten. [...] Er erinnert sich, wie er die beiden auf ihren Spaziergängen sah, sich nah, selbst dann, wenn sie Abstand hielten. Noch nie hatte er zwei erlebt, die so zusammengehörten, so selbstverständlich: ihre Augen, die sich suchten, ihre Hände, die sich fanden; sogar Lissys Haare schienen in die Richtung des Geliebten zu fallen, so wie das Strahlen seiner Augen ihr Gesicht hell machte.

Urs Faes/Foto: Renate Amuat

Durch die jahrelange akribische dokumentarische Arbeit der beiden jüdischen Berliner Fotografen Herbert und Leni Sonnenfeld, die bis in die unmittelbare Vorkriegszeit hinein das Leben in den jüdischen Gemeinden Deutschlands aktiv fotografisch begleiteten und deren umfangreiches Archiv heute von verschiedenen renommierten Museen in Deutschland und Israel verwaltet wird, sind uns zahlreiche zeitgenössische Aufnahmen aus dem Alltag in Ahrensdorf, aber auch aus anderen Hachschara-Stätten in ganz Deutschland erhalten geblieben: im virtuellen Fotoarchiv der Holocaust-Gedenkstätte Yad Vashem sind nicht weniger als 2176 Fotos dieser fleißigen zeitgenössischen Chronisten direkt einsehbar. Die israelische Künstlerin Yael Bartana hat im Jahr 2008 mit einer eigenen Serie direkt auf diese Serie Bezug genommen, indem sie einzelne Motive der Sonnenfelds mit israelischen Arabern und arabischen Juden in bewusster Künstlichkeit und unterkühlter Perfektion rekonstruierte. Eine dieser faszinierenden Aufnahmen diente den klugen Suhrkamp-Covergestaltern nun als kongeniale Coverabbildung für Urs Faes wunderbares Buch, das mit seinen zahlreichen unvergesslichen Gestalten und intensiv gezeichneten, universellen menschlichen Stimmungsbildern dem Leser ähnlich unmittelbar greifbar und kostbar erscheinen muss wie eine eigene prägende Zeit.

„Sommer in Brandenburg“, erschienen bei Suhrkamp, 262 Seiten, € 19,95

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