Es gibt Phasen im Leben
eines Menschen, die von ihm so intensiv erlebt und erfahren werden,
dass er ihnen später intuitiv buchstäblich alles, was sich
davor oder danach zugetragen hat, unweigerlich unterordnen muss.
Diese Zeit des Übergangs, des geistigen und sexuellen Erwachens
sowie der ureigenen persönlichen Charakterbildung, die man
sprichwörtlich getrost als jeweils individuelle „goldene Ära“
bezeichnen darf, lässt sich oft nur im Nachhinein zeitlich
bemessen, sich aber nicht auch nur annähernd wiederholen; sie
ist dem einzelnen für gewöhnlich lebenslang ein stets
gegenwärtiger Quell einer unstillbaren persönlichen
Sehnsucht, aber vermag ihn dennoch für den Rest seines Lebens zu
motivieren und innerlich zu stützen: sie bleibt der
unverrückbare Bezugspunkt der eigenen Persönlichkeit.
Der für sein
bisheriges umfangreiches Werk bereits vielfach ausgezeichnete
deutschsprachige Schweizer Schriftsteller Urs Faes (geboren 1947) hat
in seiner jüngst erschienenen, ebenso eindringlichen wie
berührenden und hoch poetischen Recherche „Sommer in
Brandenburg“ über eines von zweiunddreißig
Hachschara-Lagern in Nazi-Deutschland, die junge deutsche Juden auch
während der eskalierenden Verfolgung durch Nazi-Deutschland noch
auf die angestrebte Auswanderung nach Palästina vorbereiten
sollten, die Stimmung einer solchen „goldenen Zeit“ unter denkbar
schwersten Rahmenbedingungen auf kongeniale Art und Weise literarisch
eingefangen.
Er blickte in die Nacht
hinaus. Alles still, auf der nahen Chaussee kein Laut. Im Haus waren
noch vereinzelte Stimmen zu hören, Mädchenstimmen; drüben
in der Unterkunft der Jungen herrschte Ruhe, auch in den Ställen.
Über allem die Kuppel des nachtblauen Himmels. Noch nirgends
hatte er den Himmel so überwältigend hoch wahrgenommen wie
hier, als wäre die Erde bloß eine Scheibe und über
ihr dieses Halbrund, mit Sternen gesprenkelt, ein sichelfeiner Mond,
abnehmend. Seine Hand streifte den Sims der Brüstung. Das
Mauerwerk war noch warm, er stellte sich vor, Lissys Hand hätte
da gelegen und ein wenig Wärme für ihn zurückgelassen.
Das ehemalige
Hachschara-Lager des jüdischen Pfadfinderbundes „Makkabi
Hazair“ im Jagdschloss Ahrensdorf bei Trebbin, dreißig
Kilometer südlich von Berlin gelegen, ist heute die einzige
baulich intakt gebliebene Stätte dieser Art auf deutschem Boden,
an deren öffentlich kaum bekannte, faszinierende Geschichte als
landwirtschaftliche Ausbildungsstätte für jüdische
Jugendliche im Alter von vierzehn bis siebzehn Jahren bereits seit
1989 von einem privaten Förderverein mit großer
internationaler Resonanz erinnert wird, dessen zahlreiche
verdienstvolle Publikationen in kleiner Auflage Urs Faes
offensichtlich zu seinem unvergesslichen, stillen und bescheidenen
neuen Roman angeregt haben.
Übel sind die
Zeiten, und übel geht es uns in ihnen. Ihr Gesicht verschattete
sich, keine Spur mehr von jenem übermütigen Lachen, das
durchs Landwerk gedrungen war. Schiller, sagte sie. Sie griff sich an
die Stirn und schob eine Strähne auf die Seite. Und wieder, nur
für einen Moment, waren da ihre offenen Augen, die in seine
fielen, strahlten und sich wieder trübten. Er lächelte ihr
zu. Aber wir können hier auch immer wieder vergessen, was uns
bedrückt. Wir hoffen auf die Ausreise. Dafür arbeiten wir,
unser Tagesplan ist straff geordnet, und wie. Du wirst sehen, von
morgens bis abends, immer an der Arbeit.
In dem von seinen
turnusgemäß wechselnden Bewohnern aufgrund seiner
spezifischen Funktion liebevoll „Kibbuz Ahrensdorf“ genannten
Lager konnten sich zwischen 1936 und 1941 mindestens 268 Mädchen
und Jungen unter genossenschaftlichen Bedingungen auf die angestrebte
Emigration nach Palästina vorbereiten, unter ihnen die bis heute
ungebrochen kämpferische Vorsitzende des deutschen
Auschwitz-Komitees Esther Bejarano, deren eindrucksvolle Erinnerungen
im vergangenen Jahr erschienen sind. Mindestens 34 Teilnehmer der
Schulungen überlebten die Schoah nachweislich nicht, und die
Spuren von weiteren 44 ehemaligen Teilnehmern der Kurse verlieren
sich im bitteren Dunkel der Kriegsjahre. 130 Ahrensdorfer Juden
jedoch gelang im Verlauf der Jahre der große rettende Schritt
nach Palästina, und einige von ihnen etablierten sich dort
während der israelischen Staatsgründung als bis heute
hochgeachtete Pioniere in so namhaften Kibbuzim wie Degania oder
Scha'ar ha Golan.
Mitglieder des Makkabi Hazair in Ahrensdorf/Foto: Herbert Sonnenfeld |
In Urs Faes wunderbarem,
von strahlender empathischer Mitmenschlichkeit und dem Zauber des
Neuen getragenem biographischen Roman beginnt für den jungen
Hamburger Juden Ron Berend, der schon vor Monaten in Ahrensdorf
heimisch geworden ist und sich als tatkräftiger, geschickter
Handwerker bereits berechtigte Hoffnungen auf eines der begehrten
Auswanderungszertifikate machen darf, mit der Ankunft der jungen
Wienerin Lissy Harb im Frühsommer 1938 eine vollkommen neue,
ungeahnte Qualität der Weltwahrnehmung und des Erlebens:
Was war das für
eine Stimme, ein Lachen, nicht laut, aber eindringlich, übermütig
verspielt, unbekannt, vor allem das: ein Mädchenlachen, das er
nie zuvor gehört hatte, ein Klang, der ihm fremd war, kehlig,
rauh. [...] Die Stimme, etwas laut für eine Zeit, in der sie
gelernt hatten, leise und unauffällig zu sein, kein Aufsehen zu
erregen, zu tun, als wären sie nicht da. Und nun lachte da eine,
rief hinüber zum Haus, wo die Mädchen waren. Er hielt im
Laufen inne, machte ein paar Schritte auf das Gebäude zu, ein
Jagdschlößchen aus vergangener Zeit. Da entdeckte er das
Mädchen am Brunnen, das zum Fenster hinaufstrahlte, wo zwei
andere sich herauslehnten und mit ausgebreiteten Armen winkten.
[...] Das Mädchen drehte sich zögernd in seine Richtung,
den Fuß nach innen gerichtet. Er schaute auf die
Seidenstrümpfe, keine hier im Landwerk trug Seidenstrümpfe.
Obwohl die politischen und
gesellschaftlichen Rahmenbedingungen in Nazi-Deutschland alles andere
als hilfreich sind, erscheint die Hachschara-Stätte Ahrensdorf
in Faes' konzentriert-poetischer, literarischer Aufarbeitung dem
Leser lange Zeit als eine kapitale, der zunehmend aus den Fugen
geratenden Außenwelt einigermaßen erfolgreich entrückte
ländliche Idylle, die zwar von der Sorge um die der stetig
eskalierenden staatlichen Entrechtung ausgesetzten Freunde und
Familenmitglieder in Form von Briefen, Anrufen und sorgenvoller
Ahnungen wirksam berührt, jedoch selbst noch kaum von der dem
Projekt explizit wohlgesonnenen Obrigkeit der kleinen Dorfgemeinde
behelligt wird und in der alle Mitglieder des äußerlich
fragilen, aber innerlich starken und kampfesmutigen Gemeinwesens mit
ganzer Kraft auf das große, realistischerweise noch erreichbare
Ziel der Auswanderung und der Flucht vor der sich abzeichnenden
Verfolgung durch die Nationalsozialisten hinarbeiten.
Hachschara-Stätte Ahrensdorf/Foto: Herbert Sonnenfeld |
Lissy und Ron fühlen
sich von der ersten Begegnung an als auf rührende Art und Weise
seelenverwandt Scheinende zueinander hingezogen und werden innerhalb
des Lagers im Verlauf der folgenden Jahre zu jenem exemplarischen
Paar der Paare, dem selbst noch der Unbeteiligste ein gutes Gelingen
sowie ein glückliches Ende für ihre nicht allein von der
unkalkulierbaren Zuteilung der Auswanderungszertifikate bedrohte, in
hohem Maße augenfällige, besonders innige Beziehung
wünscht: so arrangiert die strenge Leiterin des Lagers
persönlich eine heimliche Liebesnacht. Dennoch wird die
Situation mit den Jahren immer schwieriger, die Auswanderung nach
Palästina nur noch auf hochgradig riskante, illegale Art und
Weise möglich. Immer mehr Jugendliche verlassen Ahrensdorf unter
dem desillusionierenden Eindruck des allesentscheidenden
Paradigmenwechsels der nationalsozialistischen Judenpolitik von
gesellschaftlicher Ausgrenzung zu aktiver brutaler Verfolgung.
Vor dem Einschlafen las
er Marleens Brief. Sie blieb knapp in ihren Worten. Aber er begriff,
die Begegnung in Amsterdam war nicht geglückt. Keine Hoffnung,
keine Liebe, keine neue Heimat.
Ich suche immer so
aussichtslose Sachen.
Ein Marleen-Satz.
Im Lesen sah er, wie
Marleen die Arme hängen ließ, die Augen niederschlug. So
hatte sie im Türrahmen gestanden bei seiner Abreise aus Hamburg.
Ich bleibe bei Vater.
Den Satz hatte sie
angefügt, als Postskriptum.
Er hätte Marleen
gern in den Arm genommen.
Der Autor bleibt
erzählerisch fortlaufend dicht an der Lagergemeinschaft, streng
ortsgebunden und stets gleichzeitig mit den Geschehnissen. Das
Ausbleiben der Nachrichten von außen allerdings, die Sorge um
deportierte Freunde und Familienmitglieder sowie die parallel dazu
ablaufenden geschichtlichen Ereignisse und Prozesse stellt Faes
jedoch in einigen mit seiner eigenen Person als Schriftsteller
namentlich identifizierten Einschüben höchst umsichtig in
einen größeren Zusammenhang, indem er unter dem Stichwort
„Nacherzählen“ von jenen furchtbaren Dingen berichtet, die
den Angehörigen seiner Protagonisten widerfahren – von jenen
ungewusst und doch erahnt und befürchtet.
Wir ahnten nicht, wie
schlimm es werden würde, und haben im Sommer 1940 vieles nicht
gesehen, was wir hätten sehen müssen. Es hält ihn
nicht auf seinem Stuhl, er geht im Zimmer auf und ab, wiederholt den
Satz. So kurz der Aufenthalt im Landwerk war, betont er, die
Hachschara war für ihn und für viele andere auch eine
prägende Zeit, ein Ort zwischen den Welten, wenn auch vielleicht
von der Erinnerung verklärt. Aus den Gesichtern von Ron und
Lissy hatte jenes Glück auf Zeit gesprochen, das sie in dieser
kleinen Welt mit ihrer strengen Ordnung gefunden hatten. [...] Er
erinnert sich, wie er die beiden auf ihren Spaziergängen sah,
sich nah, selbst dann, wenn sie Abstand hielten. Noch nie hatte er
zwei erlebt, die so zusammengehörten, so selbstverständlich:
ihre Augen, die sich suchten, ihre Hände, die sich fanden; sogar
Lissys Haare schienen in die Richtung des Geliebten zu fallen, so wie
das Strahlen seiner Augen ihr Gesicht hell machte.
Urs Faes/Foto: Renate Amuat |
Durch die jahrelange
akribische dokumentarische Arbeit der beiden jüdischen Berliner
Fotografen Herbert und Leni Sonnenfeld, die bis in die unmittelbare
Vorkriegszeit hinein das Leben in den jüdischen Gemeinden
Deutschlands aktiv fotografisch begleiteten und deren umfangreiches
Archiv heute von verschiedenen renommierten Museen in Deutschland und
Israel verwaltet wird, sind uns zahlreiche zeitgenössische
Aufnahmen aus dem Alltag in Ahrensdorf, aber auch aus anderen
Hachschara-Stätten in ganz Deutschland erhalten geblieben: im
virtuellen Fotoarchiv der Holocaust-Gedenkstätte Yad Vashem sind
nicht weniger als 2176 Fotos dieser fleißigen zeitgenössischen
Chronisten direkt einsehbar. Die israelische Künstlerin Yael
Bartana hat im Jahr 2008 mit einer eigenen Serie direkt auf diese
Serie Bezug genommen, indem sie einzelne Motive der Sonnenfelds mit
israelischen Arabern und arabischen Juden in bewusster Künstlichkeit
und unterkühlter Perfektion rekonstruierte. Eine dieser
faszinierenden Aufnahmen diente den klugen Suhrkamp-Covergestaltern
nun als kongeniale Coverabbildung für Urs Faes wunderbares Buch,
das mit seinen zahlreichen unvergesslichen Gestalten und intensiv
gezeichneten, universellen menschlichen Stimmungsbildern dem Leser
ähnlich unmittelbar greifbar und kostbar erscheinen muss wie
eine eigene prägende Zeit.
„Sommer in Brandenburg“,
erschienen bei Suhrkamp, 262 Seiten, € 19,95
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