Jerusalem

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Samstag, 29. März 2014

„Seeherzen“ von Margo Lanagan

Eine der ungewöhnlichsten und interessantesten Buchneuerscheinungen dieses Frühjahrs, Margo Lanagans wunderbarer, vielstimmiger Entwicklungsroman „Seeherzen“, wird es in seiner deutschen Übersetzung gleich doppelt schwer haben, neugierige und unvoreingenommene Leser für sich zu gewinnen, weil er zum einen völlig unnötigerweise als Jugendbuch für die fragwürdige, weil rein hypothetische und tatsächlich nicht existente „letzte Altersstufe vor dem Erwachsensein“ vermarktet wird und andererseits aufgrund seines überaus originellen, mystisch-märchenhaften, in Wahrheit aber dem magischen Realismus zuzuschreibenden Grundmotivs fälschlicherweise ins Fantasy-Genre eingeordnet wird, wo er aufgrund seines großen gedanklichen und erzählerischen Reichtums sowie angesichts seines auch tiefenpsychologisch weit ausdeutbaren Inhalts weder hingehört noch Leser finden wird.



Tatsächlich lässt sich Margo Lanagans ebenso fantasievoller wie vielschichtiger Roman inhaltlich am ehesten als ein kongenial in episches Format übertragenes Grimmsches Märchen beschreiben, bei dem das eigentliche Märchenmotiv in seiner unverwüstlich-vitalen Aussagekraft immer wieder aufs Neue und dabei abwechselnd aus den unterschiedlichsten Zeit- und Erzählperspektiven betrachtet wird, woraus sich am Ende des Buches ein geradezu berückend schönes, absolut stimmiges Gesamtbild von universeller Wahrheit ergibt, in dem wir uns als Leser in unserer ureigenen, alles andere als märchenhaften Realität perfekt gespiegelt wiederfinden können.

Ich schloss die Augen und verbarg mein Gesicht in ihren Haaren; ich spürte ihre schmalen Arme um mich herum, hörte ihre tiefe Stimme, in der keinerlei Zorn und Vorwurf lagen. Such in den Armen dieses Monsters Trost, hatte Kitty gesagt. Doch ich suchte keinen Trost, sondern Wahrheit – die Wahrheit über mich selbst, einen Mann, der nichts vortäuschte, nicht nach einem protzigen Haus, seltenen Gegenständen oder beeindruckenden Freunden strebte; ein Mann, der vollständig war, der in sich ruhte und genau wusste, wer er war, so beschämend oder bedauernswert das auch sein mochte.

Angesiedelt ist „Seeherzen“ auf der fiktiven, mystisch-archetypische Züge tragenden Insel Rollrock Island, die wir aufgrund der sich im Verlauf der Lektüre nach und nach zusammensetzenden Beschreibung ihrer Geographie irgendwo im Norden der Britischen Inseln am Ende des Neunzehnten oder – trotz einiger von der Autorin offenbar bewusst gesetzter Widersprüchlichkeiten bezüglich der technischen Entwicklung – am Anfang oder sogar in der Mitte des Zwanzigsten Jahrhunderts verorten dürfen: ein karges, weltabgeschiedenes Eiland, dessen in ihrer äußeren Erscheinung als bäuerlich-plump geschilderte, überwiegend rothaarige Bevölkerung vor allem vom Fisch- und Robbenfang lebt.

Rollrock Island?

Die geistig hellwache heranwachsende Miskaella Prout, jüngste Tochter einer kinderreichen Familie, fühlt sich seit frühester Kindheit wie magisch angezogen vom uralten Lagerplatz der Robbenfamilien am Strand von Crescent Cove. Als sie sich im Verlauf der Jahre zunehmend ihres eigenen Körpers bewusst zu werden beginnt, stellt sie zu ihrer großen Überraschung fest, dass diese Faszination offenbar auf Gegenseitigkeit beruht und auch die Meeressäuger auf wundersame Art und Weise ihre Nähe zu suchen scheinen. Als eines frühen Morgens ganze Herden von Robben vor dem meerfernen Haus der Familie lagern, ergreift ihre Familie äußerst schmerzhafte „Schutzmaßnahmen“, die das arglose junge Mädchen noch nachhaltiger brandmarken und isolieren als je zuvor, und während ihre älteren Schwestern nach und nach Männer zum Heiraten finden und das Elternhaus verlassen, bleibt sie allein mit ihrem von einem Schlaganfall schwer gezeichneten Vater und der hartherzigen, lieblosen Mutter zurück.

Ich hatte gesehen, was ich sehen wollte. Jede Robbe war von etwas durchzogen, das ich für zufällig verteilte Lichter gehalten hatte, die alle dieselbe Funktion besaßen und eins so hell wie das andere strahlten. In Wahrheit stellten sie im Ansatz vorhandene Teile des menschlichen Systems dar. [...] Bei noch genauerem Hinsehen – doch die aufgeregten Bewegungen der Robbenherde hätten mich verraten, wenn ich noch länger hingeschaut hätte – wäre zu erkennen gewesen, wie und auf welchen Wegen sie alle zusammengeführt werden mussten, um zu einer vollständigen menschlichen Form zu verschmelzen. [...] Jede einzelne dieser Knospen oder Sterne, dieses Flimmerns oder dieser Geister musste erfasst und zum Zentrum dirigiert werden. Ich begriff das volle Ausmaß des vor mir liegenden Unterfangens und wie kompliziert es werden würde.

In einer lauen Frühsommernacht schleicht sich Miskaella aus dem Haus und steigt den Berg hinunter zur Crescent Cove, wo sie zunächst ihr Schutzamulett und dann ihre Kleider ablegt, um mit Hilfe ihrer angeborenen Zaubergabe einen „Robbenmann“ aus dessen ledriger Tierhaut zu befreien und sich wie selbstverständlich im Mondlicht mit ihm zu paaren. Aus dieser vollkommen undenkbaren, seltsam innigen Verbindung geht ein kleinwüchsiger Sohn hervor, den die von intensiver Mutterliebe erfüllte Miskaella ein ganzes Jahr lang erfolgreich vor der meist in den Haushalten ihrer anderen Töchter aushelfenden Mutter zu verbergen vermag. Als der liebevoll von ihr umsorgte kleine Ean nach all dieser Zeit immer noch nicht weiter gewachsen ist, wird ihr jedoch mit brutaler Gewissheit klar, dass seine eigentlich Heimat das Meer sein muss. Sie näht ihm eine Haut aus Tierleder und Seetang und trägt ihn schweren Herzens zurück an den Strand, wo sie ihn den Wellen übergibt.

Margo Lanagan

Margo Lanagans ausgesprochen fesselnd zu lesender, trefflich beobachteter und hoch poetischer Roman, dessen einzige originär „jugendliche“ Eigenschaft sein unbestechlich-offener, kindlicher Blick ist, geht auf eine frühere Kurzgeschichte der Autorin aus dem Jahr 2009 zurück, die ebenfalls noch deutlich erkennbar als einzelnes, auffällig dicht erzähltes Einzelkapitel im Buch enthalten ist. Die beeindruckende Geschichte von Miskaella, die auf kunstvolle Art und Weise den Prozess einer psychischen Entwicklung als ebenso anspruchsvolle wie inspirierende äußere Handlung abbildet, liefert dabei allerdings nur den individuellen Hintergrund und die unerlässliche Vorbedingung für die weiteren seltsam schönen, tragischen und wundersamen Ereignisse auf Rollrock Island.

Denn obwohl die märchenhafte Rückverwandlung von Miskaellas unglücklichem Sohn gelingt und dieser eine neue schwerelose Heimat im Meer findet, verändert die schicksalsträchtige Nacht das Wesen der jungen Frau nachhaltig, die von künftigen Generationen als ebenso missgestaltete wie dauerhaft schlecht gelaunte, stigmatisierte „alte Hexe“ stets gefürchtet und gemieden wird, obwohl sie sich mit ihren unbestreitbaren, von allen Männern dankbar genutzen und dennoch niemals laut ausgesprochenen Zauberkräften längst zur mächtigsten und reichsten Frau der Insel entwickelt hat. Denn die alte Miskaella versteht sich darauf, in Vollmondnächten die schönsten, verführerischsten und unwiderstehlichsten „Robbenfrauen“ aus ihren Meereshäuten zu befreien und sie den Männern der Insel gegen Zahlung einer großzügigen Rente auf Lebenszeit als willkommene Bräute zuzuführen.

Also gut...“ Der freche Kerl war nicht einmal ansatzweise verlegen. „Es heißt, du besitzt die Gabe. Ich wollte fragen, ob du mir eine Robbe holen kannst.“ Als ich nicht antwortete, fügte er hinzu: „Eine Frau aus einer Robbe, meine ich. So wie die von gestern.“

Diese Art der Rache verändert Rollrock Island vollständig, denn selbst jene gestandenen Männer und scheinbar liebevollen Familienväter, die bereits mit rothaarigen Menschinnen verheiratet sind, vermögen sich dem Zauber der sanften Meereswesen mit ihrem grazilen Körperbau und ihren seidig-glänzenden, langen glatten Haaren und ihrem natürlichen Verständnis von Sexualität nicht dauerhaft zu entziehen, wispern nachts in verborgenen Höhlen ungläubig „Was machst du mit mir, meine Schöne!“ oder verbergen ihre heimliche Beute vor den Blicken ihrer Ehefrauen und Kinder tagsüber im neu zusammengezimmerten Schrank im Geräteschuppen hinter dem Haus. Und es entstehen zahlreiche weitere Kinder aus diesen unstatthaften Beziehungen: manche müssen dem Meer übergeben werden, aber viele leben an Land und wachsen zu fühlenden, denkenden Menschen heran...

Es war für mich eben gerade das erste Mal, dass ich eine Mum gesehen habe, die gerade frisch aus dem Meer kommt“, hörte ich mich entschuldigend sagen.
Oh, noch ist sie keine Mum“, meinte Mum. „Zumindest nicht an Land. Es kann aber sein, dass sie schon mehrmals Junge bekommen hat und sie im Meer zurücklassen musste.“
Das stimmt“, sagte ich. „Heißt es nicht auch in den Geschichten, dass sie zwischen ihren beiden Arten von Kindern hin- und hergerissen sind?“

Dies jedoch ist immer noch erst der Anfang einer absolut faszinierenden Geschichte – mehr über den weiteren Verlauf der ereignisreichen Handlung zu verraten, würde der Lektüre einen großen Teil seines erheblichen Zaubers nehmen. Margo Lanagan ist ein wirklich außergewöhnlicher Roman von beeindruckender, tief verinnerlichter, ehrlicher Mitmenschlichkeit gelungen, der sich ebenso mutig wie erfolgreich jeglichem Versuch der Kategorisierung von außen entzieht: in dieser unvergesslichen Geschichte gibt es weder Täter noch Opfer. Die Autorin schildert den unverhofften Einbruch des unbestreitbar Schönen und Unbeschwerten in die rauhe Welt von Rollrock Island zu keinem Zeitpunkt ihrer virtuosen Erzählung als fragwürdiges Teufelswerk, nicht einmal aus der Perspektive der so bitter um ihr Lebensglück betrogenen Menschenfrauen, sondern stets aus dem verständnissinnigen, zärtlich-reifen Blickwinkel liebevoller Empathie. Auf diese Art und Weise werden die märchenhaften Ereignisse von Rollrock Island für den Leser nicht nur intuitiv als Ausdruck menschlicher Träume und Sehnsüchte unmittelbar erfahrbar, sondern auch zum möglichen Ausgangspunkt einer überaus reizvollen, umfassenden tiefenpsychologischen Deutungsvariante. Es bleibt zu hoffen, dass dieser außergwöhnliche Roman auch außerhalb seiner auf fragwürdige Art und Weise allzu eng umrissenen Zielgruppe viele begeisterte Leser finden wird.

„Seeherzen“, aus dem Englischen von Mayela Gerhardt, erschienen bei Rowohlt Rotfuchs, 333 Seiten, € 16,99


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