Wenn
es innerhalb der sogenannten „Schwarzen Reihe“ des klassischen
amerikanischen Kriminalromans noch eine existenzielle Steigerung
dessen charakteristischer Grundkonstellation eines ganz auf sich
allein gestellten, seelisch tief verwundeten Ermittlers geben sollte,
der in einem grausamen, amoralischen und sittlich verrohten Milieu
mit einer unwiderstehlichen Mischung aus Mut und Verzweiflung, stets
in Todesgefahr schwebend und immer am Rande der Selbstverleugnung
versucht, sich einen elementar-menschlichen Kern von Selbstachtung
und Rechtschaffenheit zu bewahren, so ist es ohne Zweifel Philip Kerrs international erfolgreiche Berlin-Noir-Reihe um den
sympathisch-widerspenstigen Berliner Kriminalkommissar Bernhard
Gunther, der von der zynischen Willkür seiner
nationalsozialistischen Vorgesetzten erbarmungslos durch das
Deutschland der 1930er und 40er Jahre sowie über die schrecklichen
Schauplätze des kollektiven sinnlosen Mordens des Zweiten Weltkriegs
gehetzt wird.
Um
mutig zu sein, muss man zuerst Angst haben, glaub's mir. Alles andere
ist töricht. Und es ist nicht der Mut, der die Menschen am Leben
erhält. Es ist die Angst.
In
dieser von brutalem Staatsterror dominierten Vorhölle des Diesseits
hat das menschliche Individuum zwar rein theoretisch durchaus noch
die Möglichkeit einer frei-willentlichen Wahl; wenn es diese jedoch
auch in jenem moralisch entgrenzten Rechtssystem, das die subjektiven
Maßstäbe der totalitären Machthaber zum alleingültigen und
allgemein verbindlichen Entscheidungskriterium erhoben hat, dennoch
nach den gleichsam „natürlichen“ Grundsätzen des Humanismus bis
in letzte Konsequenz zu treffen bereit ist, kann dies nicht nur den
eigenen Tod bedeuten, sondern auch den Tod derer, für die man sich
in fürsorglicher Liebe oder gesellschaftlicher Solidarität
(mit-)verantwortlich weiß.
Philip
Kerrs Bernie-Gunther-Romane erscheinen nicht in korrekter
inhaltlicher Reihenfolge. Während wir in vorangegangenen Bänden
bereits den persönlichen Wedegang des unwiderstehlichen
Protagonisten nach Ende des Zweiten Weltkriegs mitverfolgen durften,
der ihn ausgerechnet unter der unwahrscheinlich Tarnung eines
Nazi-Kriegsverbrechers ins argentinische Exil, nach Kuba und
anschließend wieder zurück in geteilte Berlin der sich bereits
abzeichnenden Nachkriegsordnung des Kalten Krieges führt, setzt der
neueste Band „Böhmisches Blut“ direkt nach Gunthers wesentlichem
Lebenstrauma ein, über das bisher nur andeutungsweise berichtet
wurde: seine aktive Beteiligung am Holocaust als Mitglied eines
SS-Kommandos, in das er nach dem politisch-motivierten Ausscheiden
aus dem Polizeidienst aufgrund seines ihm von den parteitreuen
Vorgesetzten attestierten „angeborenen Querulantentums“ als
Strafmaßnahme zwangsläufig geraten war.
„Sie
sind wirklich ein schrecklich vulgärer, lästiger Zeitgenosse,
Gunther. Hat Ihnen das schon mal jemand gesagt?“ -
„Schon
häufig. Das muss etwas mit den vielen vulgären Mordfällen zu tun
haben, in denen ich ermittle. Nicht zu vergessen die Morde, die ich
zu begehen genötigt wurde. Natürlich bilde ich damit unter diesem
Dach keine Ausnahme. Aber wie Hauptmann Kuttner hat mir etwas daran
nicht gefallen. Und darum bin ich jetzt hier und spreche mit Ihnen,
statt die gute und wertvolle Arbeit mit den Jungs vom
Sondereinsatzkommando im Osten weiterzuführen.“
Im
mittlerweile achten Band der Reihe, angesiedelt im Frühsommer 1941,
findet er sich nach seiner Abberufung aus der SS erneut als
gewöhnlicher Polizeibeamter im Rang eines Hauptmanns im Berliner
Reichssicherheitshauptamt wieder, wo er zu einer Mordermittlung der
Gestapo an einem mutmaßlichen tschechischen Spion hinzugerufen wird;
sofort erkennt er nicht nur dessen höchstwahrscheinliche
Verstrickung in einen anderen, nur wenige Tage zurückliegenden als
Unfall getarnten Mordfall an einem holländischen Bahnarbeiter,
sondern muss auch seine eigene ungewollte Beteiligung am Tod des
Tschechen anerkennen.
Besprechung hochrangiger Nazi-Funktionäre (Heydrich, 2.v.R.) |
Aber
noch bevor er die beiden Fälle abschließend zusammenführen und
deren Hintergründe vollends aufklären kann, erhält er jedoch einen
neuerlichen unerwarteten Marschbefehl von seinem ganz persönlichen,
leibhaftigen und real existierenden Dämon, der ihm während der
vergangenen Jahre nicht nur, wie wir als aufmerksame Leser der
Buchreihe wissen, die schlimmsten moralischen Niederlagen seines
Lebens zugefügt hat, sondern auch immer wieder überraschend die
Hand schützend über ihn gehalten hat, um sich seiner
außergewöhnlichen kriminalistischen Fähigkeiten zu bedienen:
SS-General Reinhard Heydrich, maßgeblicher Organisator des
organisierten Massenmords an den europäischen Juden, der von Hitler
soeben zum stellvertetenden Reichsprotektor von Böhmen und Mähren,
der annektierten Tschechoslowakei, ernannt worden ist und auf seinem
Landgut „Jungfern Beschan“ (Panenské
Břežany) nahe
Prag seine, wie es in der Einladung heißt, „treuesten Freunde“
zur Feier dieses aktuellen Anlasses eingeladen hat.
Heydrich
ist vieles, aber langweilig ist er nie. Die meiste Zeit habe ich
zuviel Angst vor ihm, um mich zu langweilen. [...] Ich fürchte mich
vor jedem Einzelnen da draußen. Ich fürchte mich davor, was sie mir
antun können. Ich fürchte, was sie Deutschland antun können.
Bernie
Gunther tritt die Reise also mit bösen Vorahnungen an, nicht zu
Unrecht fürchtend, dass er diese im schlimmsten Fall möglicherweise
nicht überleben wird; Heydrich eröffnet ihm nach seiner Ankunft,
dass er ihn als persönlichen Leibwächter wünsche, da er ihm gerade
aufgrund seiner weltanschaulichen Unabhängigkeit und moralischen
Integrität mehr vertraue als jedem anderen möglichen Kandidaten aus
dem Parteiapparat. Da man „Heydrich nichts ungestraft abschlagen
kann“, wie Bernie aus eigener bitterer Erfahrung nur allzu gut
weiß, nimmt er das Angebot mit größtem Widerwillen an, sieht sich
aber schon am nächsten Morgen mit einer weiteren nahezu unlösbaren
Aufgabe konfrontiert: einer von Heydrichs vier Adjutanten ist in der
Nacht unter mysteriösen Umständen in seinem eigenen, von innen
verriegelten Zimmer erschossen worden und er, Gunther, soll den Fall
offiziell aufklären.
Es
ist ein Rätsel, Chef. Ein Mann liegt erschossen in seinem
Schlafzimmer im ersten Stock, das von innen abgeschlossen ist. Die
Fenster sind verriegelt, und wir finden keine Mordwaffe. Im Flur
liegt die Hülse einer 9-mm-Parabellum, also wurde eindeutig eine
Waffe abgefeuert, vermutlich zwischen Mitternacht und, sagen wir mal,
etwa fünf Uhr heute Morgen. Und man sollte doch meinen, dass jemand
das bemerkt hat, denn die P38 wurde ja nicht von der Wehrmacht
ausgesucht, weil sie eine verflixt leise Waffe ist. Sie können
unmöglich alle so besoffen gewesen sein, dass sie nichts gehört
haben.
Als
Mörder kommt folglich nur einer der zahlreichen anwesenden
hochdekorierten Militärs infrage. Obwohl sich Bernie der Gefahr
schmerzlich bewusst ist, in der er sich nun befindet, genießt er
sichtlich und mit geradezu selbstmörderischem Elan die unverhoffte
Möglichkeit, die verhassten Protagonisten der Nazi-Diktatur in ihrer
ganzen Verkommenheit im strengen Rahmen seiner unkonventionell und
mit sarkastischem Witz geführten Verhöre auf schonungsloseste Art
und Weise bloßzustellen. Nicht zuletzt fühlt er sich dem Mordopfer,
Hauptmann Kuttner, auf besondere Art und Weise verpflichtet, da
dieser aufgrund seiner Beteiligung am Völkermord im besetzten
Lettland ebenfalls unter erheblichen Gewissensqualen litt und nur
noch mit Hilfe hoch dosierter Beruhigunsmittel schlafen konnte.
Er
klang so vernünftig, dass ich mich daran erinnern musste, dass er
über Massenmord sprach.
Während
einige von Philip Kerrs in höchstem Maße spannenden, historisch
fundierten und sorgfälig recherchierten Bernie-Gunther-Romanen
formal eher Richtung Thriller ausschlagen, darf man seinen neuesten
Wurf „Böhmisches Blut“ eher als geniale apokalyptische Hommage
an den klassischen britischen Kriminalroman verstehen. Die
Mordumstände sind ohne wesentliche Veränderung Agatha Christies
Hercule-Poirot-Vehikel „Alibi“ aus dem Jahr 1926 entnommen, das
bereits 1928 auch in deutscher Übersetzung erschienen war und so
möglicherweise zur realen Lektüre des erklärten Krimi-Fans
Reinhard Heydrich gezählt haben könnte. Dass dieser nicht nur ein
doppelt abgekartetes böses Spiel mit ihm betreibt, merkt Bernhard
viel zu spät.
Ort der Handlung: Unteres Schloss in Panenské Břežany |
Philip
Kerrs herausragende Leistung in seinem großartigen neuen Roman
besteht vor allem in der Erkenntnis der grandiosen Möglichkeit, ein
gutes Dutzend exemplarischer Tätercharaktere des
nationalsozialistischen Terrorregimes kammerspielartig an einem eng
umrissenen Handlungsort zusammenzuführen und ihre verquere,
mörderisch-amoralische Ideologie anhand eines brutalen und
vollkommen sinnlosen Mordes an einem im Grunde armseligen Mitläufer
konsequent ad absurdum zu führen. Dies im Rahmen einer
Bühnen-Farce sogar noch weiter auf die Spitze zu treiben, wäre
vermutlich eine geeignete, überaus lohnende Aufgabe für den
genialen Dramatiker George Tabori (1914-2007) gewesen.
„Böhmisches
Blut“ ist aber nicht nur eine ebenso gelungene wie nachhaltig
fesselnde Fortsetzung der einzigartigen und bislang unerreichten
Berlin-Noir-Reihe, sondern vor allem auch ein schönes literarisches
Plädoyer für die wunderbare menschlichen Eigenschaft, auch unter
widrigsten Umständen stets nach Aufrechterhaltung der persönlichen
Integrität zu streben und den innersten Kern der Humanität niemals
preiszugeben.
„Böhmisches Blut“, aus dem Englischen von Juliane Pahnke, erschienen bei
Wunderlich, 480 Seiten, € 19,95
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