Jerusalem

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Mittwoch, 15. Januar 2014

„Böhmisches Blut“ von Philip Kerr

Wenn es innerhalb der sogenannten „Schwarzen Reihe“ des klassischen amerikanischen Kriminalromans noch eine existenzielle Steigerung dessen charakteristischer Grundkonstellation eines ganz auf sich allein gestellten, seelisch tief verwundeten Ermittlers geben sollte, der in einem grausamen, amoralischen und sittlich verrohten Milieu mit einer unwiderstehlichen Mischung aus Mut und Verzweiflung, stets in Todesgefahr schwebend und immer am Rande der Selbstverleugnung versucht, sich einen elementar-menschlichen Kern von Selbstachtung und Rechtschaffenheit zu bewahren, so ist es ohne Zweifel Philip Kerrs international erfolgreiche Berlin-Noir-Reihe um den sympathisch-widerspenstigen Berliner Kriminalkommissar Bernhard Gunther, der von der zynischen Willkür seiner nationalsozialistischen Vorgesetzten erbarmungslos durch das Deutschland der 1930er und 40er Jahre sowie über die schrecklichen Schauplätze des kollektiven sinnlosen Mordens des Zweiten Weltkriegs gehetzt wird.

Um mutig zu sein, muss man zuerst Angst haben, glaub's mir. Alles andere ist töricht. Und es ist nicht der Mut, der die Menschen am Leben erhält. Es ist die Angst.

In dieser von brutalem Staatsterror dominierten Vorhölle des Diesseits hat das menschliche Individuum zwar rein theoretisch durchaus noch die Möglichkeit einer frei-willentlichen Wahl; wenn es diese jedoch auch in jenem moralisch entgrenzten Rechtssystem, das die subjektiven Maßstäbe der totalitären Machthaber zum alleingültigen und allgemein verbindlichen Entscheidungskriterium erhoben hat, dennoch nach den gleichsam „natürlichen“ Grundsätzen des Humanismus bis in letzte Konsequenz zu treffen bereit ist, kann dies nicht nur den eigenen Tod bedeuten, sondern auch den Tod derer, für die man sich in fürsorglicher Liebe oder gesellschaftlicher Solidarität (mit-)verantwortlich weiß.



Philip Kerrs Bernie-Gunther-Romane erscheinen nicht in korrekter inhaltlicher Reihenfolge. Während wir in vorangegangenen Bänden bereits den persönlichen Wedegang des unwiderstehlichen Protagonisten nach Ende des Zweiten Weltkriegs mitverfolgen durften, der ihn ausgerechnet unter der unwahrscheinlich Tarnung eines Nazi-Kriegsverbrechers ins argentinische Exil, nach Kuba und anschließend wieder zurück in geteilte Berlin der sich bereits abzeichnenden Nachkriegsordnung des Kalten Krieges führt, setzt der neueste Band „Böhmisches Blut“ direkt nach Gunthers wesentlichem Lebenstrauma ein, über das bisher nur andeutungsweise berichtet wurde: seine aktive Beteiligung am Holocaust als Mitglied eines SS-Kommandos, in das er nach dem politisch-motivierten Ausscheiden aus dem Polizeidienst aufgrund seines ihm von den parteitreuen Vorgesetzten attestierten „angeborenen Querulantentums“ als Strafmaßnahme zwangsläufig geraten war.

Sie sind wirklich ein schrecklich vulgärer, lästiger Zeitgenosse, Gunther. Hat Ihnen das schon mal jemand gesagt?“ -
Schon häufig. Das muss etwas mit den vielen vulgären Mordfällen zu tun haben, in denen ich ermittle. Nicht zu vergessen die Morde, die ich zu begehen genötigt wurde. Natürlich bilde ich damit unter diesem Dach keine Ausnahme. Aber wie Hauptmann Kuttner hat mir etwas daran nicht gefallen. Und darum bin ich jetzt hier und spreche mit Ihnen, statt die gute und wertvolle Arbeit mit den Jungs vom Sondereinsatzkommando im Osten weiterzuführen.“

Im mittlerweile achten Band der Reihe, angesiedelt im Frühsommer 1941, findet er sich nach seiner Abberufung aus der SS erneut als gewöhnlicher Polizeibeamter im Rang eines Hauptmanns im Berliner Reichssicherheitshauptamt wieder, wo er zu einer Mordermittlung der Gestapo an einem mutmaßlichen tschechischen Spion hinzugerufen wird; sofort erkennt er nicht nur dessen höchstwahrscheinliche Verstrickung in einen anderen, nur wenige Tage zurückliegenden als Unfall getarnten Mordfall an einem holländischen Bahnarbeiter, sondern muss auch seine eigene ungewollte Beteiligung am Tod des Tschechen anerkennen.

Besprechung hochrangiger Nazi-Funktionäre (Heydrich, 2.v.R.)


Aber noch bevor er die beiden Fälle abschließend zusammenführen und deren Hintergründe vollends aufklären kann, erhält er jedoch einen neuerlichen unerwarteten Marschbefehl von seinem ganz persönlichen, leibhaftigen und real existierenden Dämon, der ihm während der vergangenen Jahre nicht nur, wie wir als aufmerksame Leser der Buchreihe wissen, die schlimmsten moralischen Niederlagen seines Lebens zugefügt hat, sondern auch immer wieder überraschend die Hand schützend über ihn gehalten hat, um sich seiner außergewöhnlichen kriminalistischen Fähigkeiten zu bedienen: SS-General Reinhard Heydrich, maßgeblicher Organisator des organisierten Massenmords an den europäischen Juden, der von Hitler soeben zum stellvertetenden Reichsprotektor von Böhmen und Mähren, der annektierten Tschechoslowakei, ernannt worden ist und auf seinem Landgut „Jungfern Beschan“ (Panenské Břežany) nahe Prag seine, wie es in der Einladung heißt, „treuesten Freunde“ zur Feier dieses aktuellen Anlasses eingeladen hat.

Heydrich ist vieles, aber langweilig ist er nie. Die meiste Zeit habe ich zuviel Angst vor ihm, um mich zu langweilen. [...] Ich fürchte mich vor jedem Einzelnen da draußen. Ich fürchte mich davor, was sie mir antun können. Ich fürchte, was sie Deutschland antun können.

Bernie Gunther tritt die Reise also mit bösen Vorahnungen an, nicht zu Unrecht fürchtend, dass er diese im schlimmsten Fall möglicherweise nicht überleben wird; Heydrich eröffnet ihm nach seiner Ankunft, dass er ihn als persönlichen Leibwächter wünsche, da er ihm gerade aufgrund seiner weltanschaulichen Unabhängigkeit und moralischen Integrität mehr vertraue als jedem anderen möglichen Kandidaten aus dem Parteiapparat. Da man „Heydrich nichts ungestraft abschlagen kann“, wie Bernie aus eigener bitterer Erfahrung nur allzu gut weiß, nimmt er das Angebot mit größtem Widerwillen an, sieht sich aber schon am nächsten Morgen mit einer weiteren nahezu unlösbaren Aufgabe konfrontiert: einer von Heydrichs vier Adjutanten ist in der Nacht unter mysteriösen Umständen in seinem eigenen, von innen verriegelten Zimmer erschossen worden und er, Gunther, soll den Fall offiziell aufklären.

Es ist ein Rätsel, Chef. Ein Mann liegt erschossen in seinem Schlafzimmer im ersten Stock, das von innen abgeschlossen ist. Die Fenster sind verriegelt, und wir finden keine Mordwaffe. Im Flur liegt die Hülse einer 9-mm-Parabellum, also wurde eindeutig eine Waffe abgefeuert, vermutlich zwischen Mitternacht und, sagen wir mal, etwa fünf Uhr heute Morgen. Und man sollte doch meinen, dass jemand das bemerkt hat, denn die P38 wurde ja nicht von der Wehrmacht ausgesucht, weil sie eine verflixt leise Waffe ist. Sie können unmöglich alle so besoffen gewesen sein, dass sie nichts gehört haben.

Als Mörder kommt folglich nur einer der zahlreichen anwesenden hochdekorierten Militärs infrage. Obwohl sich Bernie der Gefahr schmerzlich bewusst ist, in der er sich nun befindet, genießt er sichtlich und mit geradezu selbstmörderischem Elan die unverhoffte Möglichkeit, die verhassten Protagonisten der Nazi-Diktatur in ihrer ganzen Verkommenheit im strengen Rahmen seiner unkonventionell und mit sarkastischem Witz geführten Verhöre auf schonungsloseste Art und Weise bloßzustellen. Nicht zuletzt fühlt er sich dem Mordopfer, Hauptmann Kuttner, auf besondere Art und Weise verpflichtet, da dieser aufgrund seiner Beteiligung am Völkermord im besetzten Lettland ebenfalls unter erheblichen Gewissensqualen litt und nur noch mit Hilfe hoch dosierter Beruhigunsmittel schlafen konnte.

Er klang so vernünftig, dass ich mich daran erinnern musste, dass er über Massenmord sprach.

Während einige von Philip Kerrs in höchstem Maße spannenden, historisch fundierten und sorgfälig recherchierten Bernie-Gunther-Romanen formal eher Richtung Thriller ausschlagen, darf man seinen neuesten Wurf „Böhmisches Blut“ eher als geniale apokalyptische Hommage an den klassischen britischen Kriminalroman verstehen. Die Mordumstände sind ohne wesentliche Veränderung Agatha Christies Hercule-Poirot-Vehikel „Alibi“ aus dem Jahr 1926 entnommen, das bereits 1928 auch in deutscher Übersetzung erschienen war und so möglicherweise zur realen Lektüre des erklärten Krimi-Fans Reinhard Heydrich gezählt haben könnte. Dass dieser nicht nur ein doppelt abgekartetes böses Spiel mit ihm betreibt, merkt Bernhard viel zu spät.

Ort der Handlung: Unteres Schloss in Panenské Břežany

 

Philip Kerrs herausragende Leistung in seinem großartigen neuen Roman besteht vor allem in der Erkenntnis der grandiosen Möglichkeit, ein gutes Dutzend exemplarischer Tätercharaktere des nationalsozialistischen Terrorregimes kammerspielartig an einem eng umrissenen Handlungsort zusammenzuführen und ihre verquere, mörderisch-amoralische Ideologie anhand eines brutalen und vollkommen sinnlosen Mordes an einem im Grunde armseligen Mitläufer konsequent ad absurdum zu führen. Dies im Rahmen einer Bühnen-Farce sogar noch weiter auf die Spitze zu treiben, wäre vermutlich eine geeignete, überaus lohnende Aufgabe für den genialen Dramatiker George Tabori (1914-2007) gewesen.

„Böhmisches Blut“ ist aber nicht nur eine ebenso gelungene wie nachhaltig fesselnde Fortsetzung der einzigartigen und bislang unerreichten Berlin-Noir-Reihe, sondern vor allem auch ein schönes literarisches Plädoyer für die wunderbare menschlichen Eigenschaft, auch unter widrigsten Umständen stets nach Aufrechterhaltung der persönlichen Integrität zu streben und den innersten Kern der Humanität niemals preiszugeben.

„Böhmisches Blut“, aus dem Englischen von Juliane Pahnke, erschienen bei Wunderlich, 480 Seiten, € 19,95

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