Ein Sachbuch als
authentisches aufklärerisches Mahnmal und gegenständliches Echo vom
realen historischen Schrecken, das man leibhaftig aufsuchen kann, um
sich nachhaltig daran wundzustoßen: ist das herausgeberisch und
buchkünstlerisch überhaupt möglich?
Wer
hier nicht war, der
kommt
noch, und wer hier war, der wird es nicht vergessen.
Der von Werner Jung, dem
langjährigen wissenschaftlichen Direktor des renommierten
NS-Dokumentationszentrums der Stadt Köln, mit großem
wissenschaftlichen Sachverstand und akribischer Sorgfalt
zusammengestellte, soeben erschienene und kostbar ausgestattete,
großformatige, hoch informative Bildband „Wände, die
Sprechen/Walls That Talk“ muss schon allein körperlich aus jedem
gewöhnlichen Buchregal herausragen und fordert so die
uneingeschränkte Aufmerksamkeit des Betrachters für sein
vorbildliches Anliegen ein, die Schrecken des durch eine Ironie der
Geschichte bis heute nahezu unverändert erhalten gebliebenen
ehemaligen Kölner Gestapogefängnisses im EL-DE-Haus am
Appelhofplatz nicht nur intellektuell, sondern eben auch auf höchst
unmittelbare Art und Weise sinnlich erfahrbar zu machen.
An den kargen Wänden der
insgesamt zehn Zellen von jeweils nur 4,6 bis neun Quadratmetern
Größe in der seit 1981 öffentlich zugänglichen, physisch wie
psychisch gleichermaßen bedrückenden „Gedenkstätte
Gestapogefängnis“ der Stadt Köln befinden sich etwa 1800
Inschriften, die von den zahlreichen unseligen, dort zwischen 1935
und 1945 unter menschenunwürdigen Zuständen zusammengepferchten
Gefangenen hinterlassen wurden.
Sei gegrüßt, meine
Frau, aus der Ferne schreibt Dein Mann. Weit hinter der Mauer, bei
der Gestapo, quält er sich, wenn er zum Fenster schaut. Aber die
Freiheit und das liebe Töchterchen sind weit von ihm entfernt.
Vergeblich beschmiert er die Wände, indem er Briefe an seine liebe
Frau verfasst. Ihm erscheint das Foto seiner Frau an der Wand, und
das liebe Töchterchen auf dem Arm. Du wirst heranwachsen und groß
werden und die Stütze Deiner Mutter in ihren alten Tagen sein. Mit
fester Hand am Steuer des Wagens, der über die Weiten des geliebten
Landes fliegt – vergiss nicht, erinnere Dich, schau auf das Foto
Deines Vaters.
Kaum hoch genug zu
lobendes Anliegen des vorliegenden Bildbands ist nicht nur die
lückenlose fotografische Dokumentation, Übersetzung ins Deutsche
und Englische sowie die inhaltlich korrekte textliche Wiedergabe
jener 1400 Inschriften, deren Zustand mehr als einen fragmentarischen
Sinn erkennen lässt, sondern auch eine authentische bildliche
Wiedergabe der katastrophalen räumlichen Verhältnisse innerhalb der
zehn Zellen, die von den Gestapo-Schergen zum Teil mit jeweils mehr
als zwanzig Gefangenen meist bewusst überbelegt wurden: mittels
zahlreicher ausklappbarer Doppelseiten sind die sieben seit
Kriegsende unverändert erhalten gebliebenen Zellen in ihrer gesamten
Länge und Breite komplett fotografisch erfasst.
Die
deutschen Sitten
enthüllen
sich
besonders
in Zelle 6,
wo
die es fertigbringen,
bis
zu dreiunddreißig Menschen
auf
einmal hineinzupferchen!
Während der einführende
wissenschaftlich-dokumentarische Text sehr reduziert und
sachlich-kühl bleibt, sich geradezu in die vermeintliche Sicherheit
einer reinen Auflistung der wichtigsten Eckdaten zurückzuziehen
scheint, muss der Fototeil jeden unvoreingenommenen Betrachter
unwillkürlich und selbst ohne das vorausgesetzte historische
Vorwissen mit aller Macht überwältigen: den klaustrophobischen
Schrecken der oft ohne Angabe von Gründen von der Straße oder aus
dem Bett weg verhafteten Opfer der nationalsozialistischen
Willkürherschaft vermeint der Betrachter der dunkel-engen Gänge und
Zellen geradezu körperlich am eigenen Leib zu spüren.
In der Gedenkstätte |
Den eigentlichen Schatz
des Buches jedoch stellen die lückenlos dokumentierten Inschriften
innerhalb der einzelnen Zellen dar, zunächst noch nach fünfzehn
übergeordneten inhaltlichen Themenkreisen geordnet wie „Haft- und
Lebensbedingungen“, „Folter und Verhör“, „Hoffnung“,
„Abschiedsworte“ oder „Hinrichtung“; im umfangreichen Anhang
folgt dann eine zweite, auf abweichendes, schwereres Papier gedruckte
und nicht weiter durch Fotomaterial belegte zweite Auflistung nach
Herkunftssprachen.
Die
Sonne hat sich hinter der Wolke versteckt,
will
nicht am Himmel spazierengehen.
Ich
scheiße euch in die Fresse.
So entsteht ein ebenso
verstörendes wie beeindruckendes Panorama der zahlreichen
unterschiedlichen Strategien individuellen Umgangs des Einzelnen mit
dem ihm von den Handlangern eines beispiellosen Terrorregimes
unrechtmäßig aufgebürdeten Leiden, viel unmittelbarer und
authentischer und möglichwerweise packender als es oft sogar noch
die besten dichterischen Umsetzungen erster Hand zu leisten vermögen,
vor allem aber auch ohne die in den meisten dieser allerdings
namhaften und nicht weniger beeindruckenden Werken bereits vollzogene
psychische und intellektuelle Verarbeitung des Erlittenen.
Mein
Gott, wie gern möchte ich frei sein,
meine
Nächsten noch einmal sehen,
an
der frischen Luft mich erholen, aber
ich
kann die Kette nicht zerbrechen!
Brecht
die Ketten auf! Lasst mich frei! Ich
werde
(Euch) lehren, wie man die Freiheit
liebt!
„Wände, die
sprechen/Walls That Talk“ ist eine wirklich herausragende
buchkünstlerische Veröffentlichung mit hohem wissenschaftlichem
Anspruch, die als gedanklich betretbares Abbild des real
existierenden Schreckensortes, nicht nur der besonderen Form nach zu
Recht heraussticht und im positiven Sinne zu überwältigen vermag,
um ein mahnendes, aufklärerisches, wesentliches Zeitzeichen zu
setzen, sondern auch mehreren Tausend Verschleppten und Ermordeten im
Kölner Gestapogefängnis ihre eigene verzweifelte, mutlose, zornige
oder hoffnungsvolle persönliche Stimme zurückgibt, die ihre
Peiniger ihnen zu Lebzeiten aufs Grausamste verwehrt haben.
„Wände die sprechen/Walls That Talk“, erschienen bei Emons, 420 Seiten, €
68,-
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