Jerusalem

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Dienstag, 21. Januar 2014

„Die irgendwie richtige Richtung – Eine Pilgerreise“ von Gideon Lewis-Kraus

Wenn man die alte Frage, ob Geschichte sich wiederholt, nach einem gründlichen Quellenstudium und mit wachem analytischen Blick für die Gegenwart mit ja zu beantworten geneigt ist, kann einem angesichts der anhaltenden Begeisterung in unserem westlichen Kulturraum für obskur-populäre Themenstellungen aus dem Grenzbereich von Spiritualität und Esoterik, wie sie nicht zuletzt im nachhaltigen breiten Erfolg des literarischen Genres der Fantasy im Verlauf der letzten fünfzehn Jahre deutlich geworden ist, angst und bange werden: denn auch der tödliche Irrweg Mitteleuropas nach den Katastrophen des Ersten Weltkriegs und der Weltwirtschaftskrise in die schrecklichen faschistischen Diktaturen der ersten Hälfte des Zwanzigsten Jahrhunderts ist aufs Engste verbunden mit einer irrationalen kollektiven Sehnsucht nach pseudoreligiöser Orientierung, die die Propagandisten des Faschismus geschickt zu lenken und für ihre teuflischen Zwecke zu instrumentalisieren verstanden.

Nun zeigt die Sehnsucht nach verbindlichen, auf die individuellen physischen und seelischen Bedürfnisse des einzelnen Menschen abgestimmten Maßstäben, die über die als eher rein juristisch wahrgenommene Formulierung der allgemeinen Menschenrechte und das sogenannte „natürliche“ Rechtsempfinden hinausreichen, möglicherweise sogar bis in eine Art von verstandesmäßig nicht erfassbarer durchaus von spirituellen Ansätzen geprägten Gegenwelt, in unserer in höchstem Maße aufgeklärten,, sachlich-vernünftigen, technokratischen und von vielen Menschen als seelenlos wahrgenommen kapitalistischen Gesellschaftsform vor allem einen umfassenden, existenziellen Mangel an – kaum jemand, der derzeit nicht auf der Suche wäre nach „der irgendwie richtigen Richtung“.

Genau so („A Sense of Direction“) hat der talentierte amerikanische Schriftsteller Gideon Lewis-Kraus, geboren 1980 in New Jersey, sein aufregendes erstes Buch betitelt: eine literarische Pilgerreise („Pilgrimage for the Restless and the Hopeful“), die den stilistisch brillanten langjährigen Kolumnisten verschiedener amerikanischer Zeitungen und Zeitschriften nicht nur auf den spanischen Jakobsweg, sondern auch auf den 1200 km langen Shikoku-Pilgerweg auf der gleichnamigen kleinsten der vier japanischen Hauptinseln sowie in die Ukraine zum Grab eines chassidischen Wunderrabbis geführt hat.



Wer angesichts des in Deutschland nach Hape Kerkelings gargantuösem Bestsellererfolg möglicherweise zwangsläufig irreführenden Titels jedoch spirituelle Erbauungsliteratur nach dem üblichen Schema eines inneren Erweckungserlebnisses erwartet, am liebsten mit leicht distanziertem Unterton, der einen ironischen Hauch des Zweifels im Leser zu bewahren vermag, wird von Lewis-Kraus' Buch auf jeden Fall enttäuscht werden. Denn seine herausragende schriftstellerische Leistung besteht vor allem darin, dem eigenen umfassenden kulturellen Unbehagen angesichts desalarmierend beliebig erscheinenden Status quo eine angemessene Sprache gegeben zu haben, in der sich zumindest die Generation der Dreißig- bis Vierzigjährigen mühelos wiedererkennen und treffend porträtiert fühlen dürfte.

Gideon Lewis-Kraus kam im Jahr 2007 nach einer schmerzhaft-gescheiterten Beziehung mit einem Fulbright-Stipendium nach Berlin, jedoch nicht um die von der zuständigen Kommission bereitwillig geförderte, avisierte Arbeit über junge deutsche Romanautoren der Gegenwart zu schreiben, sondern um ein unbeschwertes Leben als Bohemien in einer aufregend-dynamischen, jungen, aber überschaubaren Großstadt zu führen, in der man (nicht nur) als junger amerikanischer Möchtegern-Kulturschaffender gut und billig in den Tag hineinleben und an einem hypothetischen, eines Tages von aller Welt gefeierten, glänzenden Roman arbeiten kann.

Tom und ich teilten die Hoffnung, dass es eine geographische Lösung für Probleme wie Unentschlossenheit gab, für Langeweile und den Verdacht, dass attraktivere Menschen an angesagteren Orten interessantere Dinge erlebten. [...] Die wirtschaftlichen, kulturellen und psychologischen Anziehungskräfte Berlins – allein schon die schiere Menge an Zeit und Raum, die in anderen Städten von Brotjobs oder den erschöpfenden Anforderungen langjähriger Freundschaften aufgefressen wurde; der fast religiöse gemeinsame Glaube an die Möglichkeiten der eigenen Neuerfindung; eine Sucht nach den Versprechen des Neuen – sorgten in Berlin für eine stabile Kunstszene. Zumindest stand das in allen möglichen Sprachen in den verschiedensten Magazinen. [...] Das Entscheidende an Berlin war, dass hier niemand aus dem College war, der jetzt in der Finanzwelt arbeitete und einen fragte ob man mietete oder schon gekauft habe, niemand, der Medientratsch bloggte. Und dass es keine Orte wie [einen Club namens] Tausend gab. Was wiederum hieß, dass Berlin wahrscheinlich vorbei war, wenn ein Laden wie Tausend eröffnete. Aber dann nahm Emilie uns mit in den Damensalon, ein ehemaliges Kosmetikstudio in Neukölln mit nacktem Interieur, einer Sperrholzbar und einer riesigen Tanzfläche im Heizungskeller – und es war klar, dass nichts vorbei war, dass schon das Konzept absurd war, dass ein Ort vorbei sein könnte, genau wie das Konzept, dass ein Ort überhaupt erst einmal hip sein kann. Es kam allein auf die Person an, die einen Ort als hip bezeichnete. Nie war es der Ort selbst.

Gideon Lewis-Kraus schafft es auf geradezu kongeniale Art und Weise, die seit Jahrzehnten ungebrochene, scheinbar unverwüstliche Faszination des ständigen kreativen und oftmals auch subversiven Wandels von Berlin wiederzugeben, aber auch die rastlos-blendende Oberflächlichkeit, dünkelhaft-provinzielle Widersprüchlichkeit und tiefe innere Zerrissenheit dieser einzigen wahrhaftig internationalen deutschen Metropole – was ihm vermutlich gerade deshalb so viel besser, genauer und pointierter gelingt als man es in den letzten Jahren von deutschen Autoren gewohnt war, weil er dem Ruf der Stadt aus soviel größerer Entfernung (in doppelter Hinsicht) und soviel entschiedener gefolgt ist als der durchschnittliche deutsche Provinzler, der dem dem Hauch des scheinbar Sensationellen gewöhnlich viel ohnmächtiger erliegt, das sie besonders aus der Ferne zu umgeben scheint.

Gideon Lewis-Kraus/Foto: Rose Lichter-Marck 


Doch nach Monaten eines altersgemäß beliebigen, ungebundenen und kurzweiligen Lebens in der Kunst- und Literaturszene von Berlin, unzähligen durchfeierten Nächten mit späten Club-Frühstücken sowie zahlreichen wechselnden, jedoch stets einer eigenwilligen persönlichen Ethik gehorchenden sexuellen Abenteuern und einem nach und nach gewonnenen, detailliert-komischen Einblick in das immer noch ambivalente Verhältnis junger Deutscher zum Judentum beginnt der scharfsichtige Autor ganz allmählich, einen existenziellen, schwer benennbaren Mangel in seinem nicht nur für einen Vertreter seiner Generation ohne Zweifel ebenso erstrebens- wie erhaltenswerten Leben zu erkennen.

Ich hatte im lieblichen San Francisco gewohnt und war dann nach Berlin gezogen, weil ich das Gefühl hatte, sonst etwas Spannendes zu verpassen. Und jetzt war ich drauf und dran, das lebhafte und provisorische Berlin zu verlassen, weil ich befürchtete, etwas Ernsthaftes zu verpassen.

Während eines Kurzaufenthalts in Tallinn bei seinem gleichgesinnten weitläufigen Bekannten Tom, den er vor einem eifersüchtigen Nebenbuhler um die Gunst einer russischen Stripperin zu beschützen versprochen hat, sagt er diesem im Vollrausch einer weiteren durchzechten Nacht spontan zu, ihn bei seiner anstehenden Pilgerreise auf dem Spanischen Jakobsweg zu begleiten, wie er erst Wochen später bei einem Blick in seinen Terminkalender ungläubig erfährt. Doch diese Reise wird nur der Auftakt zu weiteren persönlichen Aufbrüchen sein, die den Erzähler vor allem auch dazu anregen, die schwierige Beziehung zu seinem Vater innerlich aufzuarbeiten, einem orthodoxen Gemeinderabbiner, der noch mit knapp fünfzig Jahren Hals über Kopf seine Familie verlassen hatte, um fortan auf unangemessen theatralische und peinlich exzessive Art und Weise seine verdrängte Homosexualität auszuleben.

Mehr als alles andere hoffte ich, seine beiden Fehler zu vermeiden – erstens: nicht das Leben gelebt zu haben, das er wollte, und zweitens: zu glauben, durch diese Entbehrung von allen anderen Pflichten befreit zu sein, zum Beispiel vom Abendessen mit seinen Kindern, wo man doch eigentlich länger in der Bar bleiben wollte. Oder von jeglichem Respekt für die Mutter dieser Kinder. Meine Angst vor Reue erklärte ich mir mit dem außerordentlich deutlichen Beispiel meines Vaters – einer schlechten und vielleicht feigen Entscheidung mit zwanzig waren ängstliche Dreißiger gefolgt, verbitterte Vierziger und hemmungslose Fünfziger. Das Leben meines Vaters war ein Beispiel für den Preis, den man zahlte, sofern man nicht handelte, wenn es an der Zeit dafür war.

Gideon Lewis-Kraus trifft wie nebenbei auch die „Frau seines Lebens“ – nur um sie bald darauf schon wieder schmerzvoll aus den Augen zu verlieren, und gewinnt auf seinem langen Fußweg zahlreiche wichtige persönliche Einsichten, die ihn fern jeglicher herkömmlicher Auffassung von Spiritualität näher zu sich selbst und einer bewussten Vergegenwärtigung seiner ureigenen Lebensmotive führen. Die von der äußeren Dynamik unserer Gesellschaftsform unabsichtlich verursachte fundamentale Leere im Einzelnen kann jenseits kollektiver religiöser Gemeinschaften nur durch eine bewusste willentliche und emotionale Anstrengung des Individuums gefüllt werden, indem dieses – notfalls per Ausschlusskriterium – diejenigen Dinge für sich selbst herausfiltert, die seiner Persönlichkeit als bewusstem Teil der Gemeinschaft am meisten entgegenkommen – so die durchaus reife, unbequeme und zeitgemäße Ansicht des Autors.

Die richtige Richtung


„Die irgendwie richtige Richtung“ ist leider noch nicht der große Roman, den Gideon Lewis-Kraus sich selbst, wie er wiederholt andeutet, seit seiner Jugendzeit abzufordern scheint. Sein blitzgescheites, hochreflektiertes und gleichzeitig immer überaus unterhaltsam zu lesendes, hellsichtiges, kluges Buch über die Glückssuche seiner Generation ist dennoch eine großartige, wunderbare und auf sympathisch-ehrliche Weise unvoreingenommene persönliche Entwicklungsgeschichte, die in dieser Hinsicht auch ein großes, noch unausgesprochenes künftiges literarisches Versprechen enthält. Gideon Lewis-Kraus ist ohne Zweifel einer jener aufregenden jungen amerikanischen Autoren, von denen man in Zukunft gerne hören wird.

„Die irgendwie richtige Richtung“, aus dem Amerikanischen von Thomas Pletzinger, erschienen bei Suhrkamp, 383 Seiten, € 16,99

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