Wenn man die alte Frage,
ob Geschichte sich wiederholt, nach einem gründlichen
Quellenstudium und mit wachem analytischen Blick für die
Gegenwart mit ja zu beantworten geneigt ist, kann einem angesichts
der anhaltenden Begeisterung in unserem westlichen Kulturraum für
obskur-populäre Themenstellungen aus dem Grenzbereich von
Spiritualität und Esoterik, wie sie nicht zuletzt im
nachhaltigen breiten Erfolg des literarischen Genres der Fantasy im
Verlauf der letzten fünfzehn Jahre deutlich geworden ist, angst
und bange werden: denn auch der tödliche Irrweg Mitteleuropas
nach den Katastrophen des Ersten Weltkriegs und der
Weltwirtschaftskrise in die schrecklichen faschistischen Diktaturen
der ersten Hälfte des Zwanzigsten Jahrhunderts ist aufs Engste
verbunden mit einer irrationalen kollektiven Sehnsucht nach
pseudoreligiöser Orientierung, die die Propagandisten des
Faschismus geschickt zu lenken und für ihre teuflischen Zwecke
zu instrumentalisieren verstanden.
Nun zeigt die Sehnsucht nach verbindlichen, auf die individuellen physischen und seelischen Bedürfnisse des einzelnen Menschen abgestimmten Maßstäben, die über die als eher rein juristisch wahrgenommene Formulierung der allgemeinen Menschenrechte und das sogenannte „natürliche“ Rechtsempfinden hinausreichen, möglicherweise sogar bis in eine Art von verstandesmäßig nicht erfassbarer durchaus von spirituellen Ansätzen geprägten Gegenwelt, in unserer in höchstem Maße aufgeklärten,, sachlich-vernünftigen, technokratischen und von vielen Menschen als seelenlos wahrgenommen kapitalistischen Gesellschaftsform vor allem einen umfassenden, existenziellen Mangel an – kaum jemand, der derzeit nicht auf der Suche wäre nach „der irgendwie richtigen Richtung“.
Genau so („A Sense of Direction“) hat der talentierte amerikanische Schriftsteller Gideon Lewis-Kraus, geboren 1980 in New Jersey, sein aufregendes erstes Buch betitelt: eine literarische Pilgerreise („Pilgrimage for the Restless and the Hopeful“), die den stilistisch brillanten langjährigen Kolumnisten verschiedener amerikanischer Zeitungen und Zeitschriften nicht nur auf den spanischen Jakobsweg, sondern auch auf den 1200 km langen Shikoku-Pilgerweg auf der gleichnamigen kleinsten der vier japanischen Hauptinseln sowie in die Ukraine zum Grab eines chassidischen Wunderrabbis geführt hat.
Nun zeigt die Sehnsucht nach verbindlichen, auf die individuellen physischen und seelischen Bedürfnisse des einzelnen Menschen abgestimmten Maßstäben, die über die als eher rein juristisch wahrgenommene Formulierung der allgemeinen Menschenrechte und das sogenannte „natürliche“ Rechtsempfinden hinausreichen, möglicherweise sogar bis in eine Art von verstandesmäßig nicht erfassbarer durchaus von spirituellen Ansätzen geprägten Gegenwelt, in unserer in höchstem Maße aufgeklärten,, sachlich-vernünftigen, technokratischen und von vielen Menschen als seelenlos wahrgenommen kapitalistischen Gesellschaftsform vor allem einen umfassenden, existenziellen Mangel an – kaum jemand, der derzeit nicht auf der Suche wäre nach „der irgendwie richtigen Richtung“.
Genau so („A Sense of Direction“) hat der talentierte amerikanische Schriftsteller Gideon Lewis-Kraus, geboren 1980 in New Jersey, sein aufregendes erstes Buch betitelt: eine literarische Pilgerreise („Pilgrimage for the Restless and the Hopeful“), die den stilistisch brillanten langjährigen Kolumnisten verschiedener amerikanischer Zeitungen und Zeitschriften nicht nur auf den spanischen Jakobsweg, sondern auch auf den 1200 km langen Shikoku-Pilgerweg auf der gleichnamigen kleinsten der vier japanischen Hauptinseln sowie in die Ukraine zum Grab eines chassidischen Wunderrabbis geführt hat.
Wer angesichts des in Deutschland nach Hape Kerkelings gargantuösem Bestsellererfolg möglicherweise zwangsläufig irreführenden Titels jedoch spirituelle Erbauungsliteratur nach dem üblichen Schema eines inneren Erweckungserlebnisses erwartet, am liebsten mit leicht distanziertem Unterton, der einen ironischen Hauch des Zweifels im Leser zu bewahren vermag, wird von Lewis-Kraus' Buch auf jeden Fall enttäuscht werden. Denn seine herausragende schriftstellerische Leistung besteht vor allem darin, dem eigenen umfassenden kulturellen Unbehagen angesichts desalarmierend beliebig erscheinenden Status quo eine angemessene Sprache gegeben zu haben, in der sich zumindest die Generation der Dreißig- bis Vierzigjährigen mühelos wiedererkennen und treffend porträtiert fühlen dürfte.
Gideon Lewis-Kraus kam im Jahr 2007 nach einer schmerzhaft-gescheiterten Beziehung mit einem Fulbright-Stipendium nach Berlin, jedoch nicht um die von der zuständigen Kommission bereitwillig geförderte, avisierte Arbeit über junge deutsche Romanautoren der Gegenwart zu schreiben, sondern um ein unbeschwertes Leben als Bohemien in einer aufregend-dynamischen, jungen, aber überschaubaren Großstadt zu führen, in der man (nicht nur) als junger amerikanischer Möchtegern-Kulturschaffender gut und billig in den Tag hineinleben und an einem hypothetischen, eines Tages von aller Welt gefeierten, glänzenden Roman arbeiten kann.
Tom und ich teilten die Hoffnung, dass es eine geographische Lösung für Probleme wie Unentschlossenheit gab, für Langeweile und den Verdacht, dass attraktivere Menschen an angesagteren Orten interessantere Dinge erlebten. [...] Die wirtschaftlichen, kulturellen und psychologischen Anziehungskräfte Berlins – allein schon die schiere Menge an Zeit und Raum, die in anderen Städten von Brotjobs oder den erschöpfenden Anforderungen langjähriger Freundschaften aufgefressen wurde; der fast religiöse gemeinsame Glaube an die Möglichkeiten der eigenen Neuerfindung; eine Sucht nach den Versprechen des Neuen – sorgten in Berlin für eine stabile Kunstszene. Zumindest stand das in allen möglichen Sprachen in den verschiedensten Magazinen. [...] Das Entscheidende an Berlin war, dass hier niemand aus dem College war, der jetzt in der Finanzwelt arbeitete und einen fragte ob man mietete oder schon gekauft habe, niemand, der Medientratsch bloggte. Und dass es keine Orte wie [einen Club namens] Tausend gab. Was wiederum hieß, dass Berlin wahrscheinlich vorbei war, wenn ein Laden wie Tausend eröffnete. Aber dann nahm Emilie uns mit in den Damensalon, ein ehemaliges Kosmetikstudio in Neukölln mit nacktem Interieur, einer Sperrholzbar und einer riesigen Tanzfläche im Heizungskeller – und es war klar, dass nichts vorbei war, dass schon das Konzept absurd war, dass ein Ort vorbei sein könnte, genau wie das Konzept, dass ein Ort überhaupt erst einmal hip sein kann. Es kam allein auf die Person an, die einen Ort als hip bezeichnete. Nie war es der Ort selbst.
Gideon Lewis-Kraus schafft es auf geradezu kongeniale Art und Weise, die seit Jahrzehnten ungebrochene, scheinbar unverwüstliche Faszination des ständigen kreativen und oftmals auch subversiven Wandels von Berlin wiederzugeben, aber auch die rastlos-blendende Oberflächlichkeit, dünkelhaft-provinzielle Widersprüchlichkeit und tiefe innere Zerrissenheit dieser einzigen wahrhaftig internationalen deutschen Metropole – was ihm vermutlich gerade deshalb so viel besser, genauer und pointierter gelingt als man es in den letzten Jahren von deutschen Autoren gewohnt war, weil er dem Ruf der Stadt aus soviel größerer Entfernung (in doppelter Hinsicht) und soviel entschiedener gefolgt ist als der durchschnittliche deutsche Provinzler, der dem dem Hauch des scheinbar Sensationellen gewöhnlich viel ohnmächtiger erliegt, das sie besonders aus der Ferne zu umgeben scheint.
Gideon Lewis-Kraus/Foto: Rose Lichter-Marck |
Doch nach Monaten eines
altersgemäß beliebigen, ungebundenen und kurzweiligen
Lebens in der Kunst- und Literaturszene von Berlin, unzähligen
durchfeierten Nächten mit späten Club-Frühstücken
sowie zahlreichen wechselnden, jedoch stets einer eigenwilligen
persönlichen Ethik gehorchenden sexuellen Abenteuern und einem
nach und nach gewonnenen, detailliert-komischen Einblick in das immer
noch ambivalente Verhältnis junger Deutscher zum Judentum
beginnt der scharfsichtige Autor ganz allmählich, einen
existenziellen, schwer benennbaren Mangel in seinem nicht nur für
einen Vertreter seiner Generation ohne Zweifel ebenso erstrebens- wie
erhaltenswerten Leben zu erkennen.
Ich hatte im lieblichen
San Francisco gewohnt und war dann nach Berlin gezogen, weil ich das
Gefühl hatte, sonst etwas Spannendes zu verpassen. Und jetzt war
ich drauf und dran, das lebhafte und provisorische Berlin zu
verlassen, weil ich befürchtete, etwas Ernsthaftes zu verpassen.
Während eines
Kurzaufenthalts in Tallinn bei seinem gleichgesinnten weitläufigen
Bekannten Tom, den er vor einem eifersüchtigen Nebenbuhler um
die Gunst einer russischen Stripperin zu beschützen versprochen
hat, sagt er diesem im Vollrausch einer weiteren durchzechten Nacht
spontan zu, ihn bei seiner anstehenden Pilgerreise auf dem Spanischen
Jakobsweg zu begleiten, wie er erst Wochen später bei einem
Blick in seinen Terminkalender ungläubig erfährt. Doch
diese Reise wird nur der Auftakt zu weiteren persönlichen
Aufbrüchen sein, die den Erzähler vor allem auch dazu
anregen, die schwierige Beziehung zu seinem Vater innerlich
aufzuarbeiten, einem orthodoxen Gemeinderabbiner, der noch mit knapp
fünfzig Jahren Hals über Kopf seine Familie verlassen
hatte, um fortan auf unangemessen theatralische und peinlich
exzessive Art und Weise seine verdrängte Homosexualität
auszuleben.
Mehr als alles andere
hoffte ich, seine beiden Fehler zu vermeiden – erstens: nicht das
Leben gelebt zu haben, das er wollte, und zweitens: zu glauben, durch
diese Entbehrung von allen anderen Pflichten befreit zu sein, zum
Beispiel vom Abendessen mit seinen Kindern, wo man doch eigentlich
länger in der Bar bleiben wollte. Oder von jeglichem Respekt für
die Mutter dieser Kinder. Meine Angst vor Reue erklärte ich mir
mit dem außerordentlich deutlichen Beispiel meines Vaters –
einer schlechten und vielleicht feigen Entscheidung mit zwanzig waren
ängstliche Dreißiger gefolgt, verbitterte Vierziger und
hemmungslose Fünfziger. Das Leben meines Vaters war ein Beispiel
für den Preis, den man zahlte, sofern man nicht handelte, wenn
es an der Zeit dafür war.
Gideon Lewis-Kraus trifft
wie nebenbei auch die „Frau seines Lebens“ – nur um sie bald
darauf schon wieder schmerzvoll aus den Augen zu verlieren, und
gewinnt auf seinem langen Fußweg zahlreiche wichtige
persönliche Einsichten, die ihn fern jeglicher herkömmlicher
Auffassung von Spiritualität näher zu sich selbst und einer
bewussten Vergegenwärtigung seiner ureigenen Lebensmotive
führen. Die von der äußeren Dynamik unserer
Gesellschaftsform unabsichtlich verursachte fundamentale Leere im
Einzelnen kann jenseits kollektiver religiöser Gemeinschaften
nur durch eine bewusste willentliche und emotionale Anstrengung des
Individuums gefüllt werden, indem dieses – notfalls per
Ausschlusskriterium – diejenigen Dinge für sich selbst
herausfiltert, die seiner Persönlichkeit als bewusstem Teil der
Gemeinschaft am meisten entgegenkommen – so die durchaus reife,
unbequeme und zeitgemäße Ansicht des Autors.
Die richtige Richtung |
„Die irgendwie richtige
Richtung“ ist leider noch nicht der große Roman, den Gideon
Lewis-Kraus sich selbst, wie er wiederholt andeutet, seit seiner
Jugendzeit abzufordern scheint. Sein blitzgescheites,
hochreflektiertes und gleichzeitig immer überaus unterhaltsam zu
lesendes, hellsichtiges, kluges Buch über die Glückssuche
seiner Generation ist dennoch eine großartige, wunderbare und
auf sympathisch-ehrliche Weise unvoreingenommene persönliche
Entwicklungsgeschichte, die in dieser Hinsicht auch ein großes,
noch unausgesprochenes künftiges literarisches Versprechen
enthält. Gideon Lewis-Kraus ist ohne Zweifel einer jener
aufregenden jungen amerikanischen Autoren, von denen man in Zukunft
gerne hören wird.
„Die irgendwie richtige Richtung“, aus dem Amerikanischen von Thomas Pletzinger, erschienen
bei Suhrkamp, 383 Seiten, € 16,99
Keine Kommentare:
Kommentar veröffentlichen
Hinweis: Nur ein Mitglied dieses Blogs kann Kommentare posten.