Jerusalem

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Dienstag, 5. November 2013

"Gerron" von Charles Lewinsky


Vielleicht etwas voreilig – wenn auch völlig zu Recht – hat die Literaturkritik Charles Lewinskys im Jahr 2006 erschienenen und seither bereits in zahlreiche Sprachen übersetzten Überraschungsbestseller, die epochale deutsch-jüdische Familienchronik „Melnitz“, als das unumstrittene Opus magnum des rastlos-kreativen literarischen Genies und versierten Stilisten bezeichnet – wie aber soll man ein Werk nennen, welches das erstgenannte an künstlerischer Strahlkraft, literarischem Ehrgeiz und Kunstfertigkeit noch übertrifft?

Vor der kleinen Fensteröffnung heben zwei Männer einen dritten hoch. [...] Er schiebt einen Zettel durch das Gitter. Ein Hilferuf. Oder ein Bericht über das, was mit uns geschieht. [...] Vielleicht, wenn die Leute wüssten, dass ich in diesem Zug sitze. Ihr Liebling. Der sympathische Dicke. Dass ich hier auf dem dreckigen Boden hocke, ein Bein angewinkelt, weil kein Platz da ist, um beide auszustrecken, den Rücken an eine Wassertonne gelehnt. Vielleicht würden sie dann reagieren. Aber die Filme, in denen ich mitgespielt habe, sind längst verboten, und Theateraufführungen haben die Leute schon vergessen, wenn sie an der Garderobe um ihre Pelze anstehen. Ich bin Vergangenheit. Selbst wenn sie meine gesamte Geschichte hinschrieben – es würde sie niemand glauben.

In den seit der Veröffentlichung von „Melnitz“ vergangenen Jahren hat sich der 1946 in Zürich geborene literarische Tausendsassa Charles Lewinsky mit virtuosen kleinen Fingerübungen wie der fabulierfreudigen Geschichtensammlung „Zehnundeine Nacht“ oder dem in der Schweizer Weltwoche erschienenen satirischen Fortsetzungsroman „Doppelpass“ die Zeit vertrieben, obwohl er da bereits intensive Recherchearbeiten für seinen neuen großen Roman „Gerron“ betrieb, der Anfang September 2011 endlich erscheinen konnte und seit vergangenem Monat nun auch als Taschenbuch vorliegt.



Lewinsky erzählt darin die denkwürdige, wahre, unglaubliche Geschichte des großen deutsch-jüdischen Schauspielers Kurt Gerron (1897-1944), des unfreiwilligen künstlerischen Leiters der von den Nazis im Konzentrationslager Theresienstadt befohlenen, makabren filmischen Propaganda-Farce „Der Führer schenkt den Juden eine Stadt“. Da außer den öffentlich bekannten Fakten über das Leben des Arztes, beliebten Schauspielers und Regisseurs nur wenig Privates herauszufinden war, hat der Autor um einige gesicherte biografische Eckpfeiler herum fiktive Erlebnisse und Begegnungen gruppiert, die – wie er im Interview betont – mit den bekannten Tatsachen nichts zu tun haben, ihnen aber auch nicht widersprechen.

Kurt Gerron (rechts) mit seinem Kabarett-Partner Siegfried Arno


Auf diese Weise entsteht ein fesselndes Psychogramm einer ebenso faszinierenden wie widersprüchlichen Künstlerpersönlichkeit, die nach dem Aufstieg zum Star und allseits umjubelten Rollen in der Welturraufführung der Dreigroschenoper am 31. August 1928 (als Tiger Brown) oder im legendären Marlene-Dietrich-Film „Der Blaue Engel“ (1930) an der ihm von den Nationalsozialisten gestellten wahnwitzigen letzten Aufgabe zu zerbrechen droht, sich ihr aber dennoch über die Selbstaufgabe hinaus bewusst stellt, nur um anschließend dennoch kaltblütig in Auschwitz ermordet zu werden: tragischerweise nur drei Tage, bevor die Vergasungen dort endgültig eingestellt wurden. Unvergesslich bereits die gespenstische Anfangsszene des Romans, in der Gerron von einem SS-Bürokraten „gebeten“ wird, den geplanten Propagandafilm über Theresienstadt für die Nazis zu inszenieren:

Mein größter Fehler? Ich glaube an die Inszenierbarkeit der Welt.

Lewinsky beweist in seinem furiosen Zeitroman erneut seine Ausnahmestellung innerhalb der deutschsprachigen Literatur: keine literarische Herausforderung scheint ihm zu groß, um sie nicht gerne anzunehmen und sie nicht mit Bravour, Witz und literarischem Tiefgang zu meistern. Man kann nur grenzenlose Bewunderung für einen Autor empfinden, der es nicht nur immer wieder schafft, sein Publikum zu überraschen, sondern dem es auch in jedem Satz, jedem Gedanken meisterhaft gelingt, gleichzeitig zugänglich, unterhaltsam und tiefgründig zu bleiben. „Gerron“ ist ohne Zweifel eines der ganz großen literarischen Ereignisse der letzten Jahre.
„Gerron“, erschienen bei dtv, 544 Seiten, € 12,90

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