Vielleicht etwas voreilig
– wenn auch völlig zu Recht – hat die Literaturkritik Charles
Lewinskys im Jahr 2006 erschienenen und seither bereits in zahlreiche
Sprachen übersetzten Überraschungsbestseller, die epochale
deutsch-jüdische Familienchronik „Melnitz“, als das
unumstrittene Opus magnum des rastlos-kreativen literarischen
Genies und versierten Stilisten bezeichnet – wie aber soll man ein
Werk nennen, welches das erstgenannte an künstlerischer Strahlkraft,
literarischem Ehrgeiz und Kunstfertigkeit noch übertrifft?
Vor der kleinen
Fensteröffnung heben zwei Männer einen dritten hoch. [...] Er
schiebt einen Zettel durch das Gitter. Ein Hilferuf. Oder ein Bericht
über das, was mit uns geschieht. [...] Vielleicht, wenn die Leute
wüssten, dass ich in diesem Zug sitze. Ihr Liebling. Der
sympathische Dicke. Dass ich hier auf dem dreckigen Boden hocke, ein
Bein angewinkelt, weil kein Platz da ist, um beide auszustrecken, den
Rücken an eine Wassertonne gelehnt. Vielleicht würden sie dann
reagieren. Aber die Filme, in denen ich mitgespielt habe, sind längst
verboten, und Theateraufführungen haben die Leute schon vergessen,
wenn sie an der Garderobe um ihre Pelze anstehen. Ich bin
Vergangenheit. Selbst wenn sie meine gesamte Geschichte hinschrieben
– es würde sie niemand glauben.
In den seit der
Veröffentlichung von „Melnitz“ vergangenen Jahren hat sich der
1946 in Zürich geborene literarische Tausendsassa Charles Lewinsky
mit virtuosen kleinen Fingerübungen wie der fabulierfreudigen
Geschichtensammlung „Zehnundeine Nacht“ oder dem in der Schweizer
Weltwoche erschienenen satirischen Fortsetzungsroman „Doppelpass“
die Zeit vertrieben, obwohl er da bereits intensive Recherchearbeiten
für seinen neuen großen Roman „Gerron“ betrieb, der Anfang
September 2011 endlich erscheinen konnte und seit vergangenem Monat
nun auch als Taschenbuch vorliegt.
Lewinsky erzählt darin
die denkwürdige, wahre, unglaubliche Geschichte des großen
deutsch-jüdischen Schauspielers Kurt Gerron (1897-1944), des
unfreiwilligen künstlerischen Leiters der von den Nazis im
Konzentrationslager Theresienstadt befohlenen, makabren filmischen
Propaganda-Farce „Der Führer schenkt den Juden eine Stadt“. Da
außer den öffentlich bekannten Fakten über das Leben des Arztes,
beliebten Schauspielers und Regisseurs nur wenig Privates
herauszufinden war, hat der Autor um einige gesicherte biografische
Eckpfeiler herum fiktive Erlebnisse und Begegnungen gruppiert, die –
wie er im Interview betont – mit den bekannten Tatsachen nichts zu
tun haben, ihnen aber auch nicht widersprechen.
Kurt Gerron (rechts) mit seinem Kabarett-Partner Siegfried Arno |
Auf diese Weise entsteht
ein fesselndes Psychogramm einer ebenso faszinierenden wie
widersprüchlichen Künstlerpersönlichkeit, die nach dem Aufstieg
zum Star und allseits umjubelten Rollen in der Welturraufführung der
Dreigroschenoper am 31. August 1928 (als Tiger Brown) oder im
legendären Marlene-Dietrich-Film „Der Blaue Engel“ (1930) an der
ihm von den Nationalsozialisten gestellten wahnwitzigen letzten
Aufgabe zu zerbrechen droht, sich ihr aber dennoch über die
Selbstaufgabe hinaus bewusst stellt, nur um anschließend dennoch
kaltblütig in Auschwitz ermordet zu werden: tragischerweise nur drei
Tage, bevor die Vergasungen dort endgültig eingestellt wurden.
Unvergesslich bereits die gespenstische Anfangsszene des Romans, in
der Gerron von einem SS-Bürokraten „gebeten“ wird, den geplanten
Propagandafilm über Theresienstadt für die Nazis zu inszenieren:
Mein größter Fehler?
Ich glaube an die Inszenierbarkeit der Welt.
Lewinsky beweist in seinem
furiosen Zeitroman erneut seine Ausnahmestellung innerhalb der
deutschsprachigen Literatur: keine literarische Herausforderung
scheint ihm zu groß, um sie nicht gerne anzunehmen und sie nicht mit
Bravour, Witz und literarischem Tiefgang zu meistern. Man kann nur
grenzenlose Bewunderung für einen Autor empfinden, der es nicht nur
immer wieder schafft, sein Publikum zu überraschen, sondern dem es
auch in jedem Satz, jedem Gedanken meisterhaft gelingt, gleichzeitig
zugänglich, unterhaltsam und tiefgründig zu bleiben. „Gerron“
ist ohne Zweifel eines der ganz großen literarischen Ereignisse der
letzten Jahre.
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