Jerusalem

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Mittwoch, 30. Oktober 2013

„Stella Menzel und der goldene Faden“ von Holly-Jane Rahlens

Das traditionelle jiddische Kinderlied „Hob ikh mir a mantl“ („Ich hab einen Mantel“) erzählt aus der Perspektive eines armen jüdischen Schneiders die kuriose Geschichte seines ehemaligen Meisterstücks, eines von ihm heißgeliebten und ebenso vielgeflickten Mantels, den er zum wachsenden Verdruss seiner formbewussten Frau so gern und häufig aufträgt, dass er ihn im Verlaufe der Zeit immer weiter umarbeiten muss: zunächst zu einer Jacke, dann zu einer Weste, später zu einem Hut, einer Tasche und einem Knopf, bis schließlich, ganz am Ende, nichts als das reine Lied vom Mantel übrig bleibt, in welchem nicht nur das bleibende, unzerstörbare Ergebnis gefeiert wird, sondern auch der Weg dorthin.

Dieses in Struktur und Gehalt deutlich das altbekannte, gewöhnlich am Ende der Haggada erklingende aramäische Pessachlied „Chad gajda“ vor Augen rufende klassische Zemerl ist in der Vergangenheit bereits von mindestens zwei amerikanischen Jugendbuchautoren als dankbare Vorlage für ihre Bücher verwendet worden: von Phoebe Gilman für „Something from Nothing“ sowie von Simms Taback für „Joseph Had a Little Overcoat“. Die selbstbewusste, optimistische Grundaussage des Liedes, dass man auch aus den bescheidensten Ressourcen immer noch etwas Sinnvolles herstellen könne, ist nicht nur ein Lob der verfeinerten Mittel der Kunst, sondern auch eine Bekräftigung des menschlichen Gedächtnisses und ein Aufruf, auch aus unserer Erinnerung Sinn zu beziehen.



Die unnachahmliche Erzählerin, Performance-Künstlerin und Schauspielerin Holly-Jane Rahlens, geboren 1950 in New York City, die es in den 1980er und 90er Jahren mit ihren einzigartigen humoristischen Programmen zu großer Popularität auf den Kleinkunstbühnen ihrer Wahlheimat brachte und nach der Geburt ihres Sohnes eine sogar noch erfolgreichere zweite Karriere als Schriftstellerin startete (Deutscher Jugendbuchpreis 2003 für „Prinz William, Maximilian Minsky und ich“), hat diesen Ausgangsstoff nun ebenso wörtlich genommen und ihn für eine unterhaltsame literarische Jugendbuchreise durch die vier Generationen einer jüdischen Familie zu einem kunstvollen seidenen Wandbehang umgedichtet.

Es war einmal im Januar 1919, weit zurück im letzten Jahrhundert und weit entfernt in Russland, hoch oben an der Ostsee, da nahmen Galja und Lew Nussbaum an einem klaren, aber noch sehr dunklen und bitteren Morgen Abschied von ihrer einzigen Tochter Channa, die gerade neunzehn geworden war.

So beginnt die im Laufe der Handlung immer wieder aufs Neue bekräftigte Ur-Geschichte der deutsch-jüdischen Familie Menzel, die Holly-Jane Rahlens in ihrem jetzt erschienenen neuen Buch „Stella Menzel und der goldene Faden“, laut Verlagsempfehlung geeignet für Kinder ab neun Jahren, die Großmutter der heranwachsenden Protagonistin gleichsam als Trost-Ritual immer dann erzählen lässt, wenn der nachtblaue, mit Sternen und Schneeflocken besetzte und mit einem goldenen Faden kunstvoll zusammengehaltene Stoff aus Seidensatin nach einem weiteren der kapitelweise mit unberechenbarer, höchst ergötzlicher Heimtücke auftretenden, haarsträubenden Unglücksfälle erneut eingekürzt und zu einem neuen Accessoire umgearbeitet werden muss.

Eine Geschichte handelt von Schneestern und Russland und Berlin“, fuhr Stella fort. „Und New York. Und vom Krieg. Und – „
Vom Krieg?“ Isabel schaute ihre Mutter streng an. „Mama, ist sie nicht ein bisschen zu jung für Geschichten über den –„
Nein, kein bisschen“, sagte Josephine. „Für Geschichten über die eigene Familie ist es nie zu früh – auch wenn sie in Kriegszeiten stattfinden.“ Sie lächelte Isabel zu. „Kommst du nicht zu spät zu deinem Tangokurs?“
Ja, da hast du Glück.“

Der wertvolle Wandbehang aus Sankt Petersburg begleitet die Familie Nussbaum-Auerbach-Zwickel-Menzel zunächst auf verschlungenen, wundersamen Pfaden ins Berlin der 1920er Jahre und als von freundlichen deutschen Nachbarn bewahrter Kinderzimmervorhang noch nachträglich ins New Yorker Exil, um schließlich als Tischdecke ins Wirtschaftswunder-Berlin zurückzukehren, wo er nach einem beinahe fünfzigjährigen mottenkugelgestärkten Schattendasein im Wäscheschrank zunächst als Babydecke für die neu geborene, jüngste Tochter Stella Alisa Menzel dient, in deren Besitz sein rapider, von der Autorin minutiös aufgezeichneter Niedergang erst beginnt.

Aber die Geschichte? Ist sie schon zu Ende?“
Nein, natürlich nicht. Das ist nur der Anfang. Aber erst musst du noch ein bisschen leben, bevor wir weitererzählen.“
Stella dachte kurz darüber nach und sagte dann: „Du meinst, groß werden?“
Ja, so ungefähr.“
Gut“, sagte Stella und stand auf. „Das mach ich. Aber nicht heute Abend, okay?“
Lass dir Zeit, mein Liebes.“

So dürfen wir die aufgeweckte, leicht chaotische Stella zu unserer großen Freude durch ihre von zahlreichen besonderen Ereignissen erleuchtete Kindheit begleiten, welche die Autorin mit dem ihr eigenen menschenfreundlichen, resolut-schlagfertigen und unverwüstlichen Humor ebenso lebensnah wie mit sicherem Gespür für die kuriosen Details des kindlichen Alltags vor uns auszubreiten versteht – und während der samtene Stoff im Verlauf der Handlung langsam dahinschwindet, wächst proportional dazu das kostbare Material der Erinnerung, das nicht nur Stella sich selbst als wesentlichen Teil ihrer Familiengeschichte begreifen lässt, sondern schließlich auch ihre spöttisch-distanzierte Mutter („Aus nichts kann man nichts machen!“), wieder lebhaften Anteil daran nehmen lässt.



Es ist durchaus bemerkenswert, wie leicht es Holly-Jane Rahlens fällt, aus der schönen, aber eben doch inhaltlich eher beschränkten Idee ihrer musikalischen Vorlage dennoch eine ebenso tragfähige wie unterhaltsame Handlung zu erarbeiten, die den poetischen Gehalt des Liedes nicht nur deutlich erkennbar mit einbezieht, sondern diesen sogar noch überzeugend zu einer umfangreicheren Aussage weiterzuentwickeln vermag. Das ist gerade in einer Zeit, in der intakte Familienverhältnisse nicht unbedingt die Regel sind, ein wunderbares integratives Moment: wahrhaft „zauberhaft“, wie es der Autorin gelingt, mit Hilfe eines metaphorischen goldenen Fadens, gleichsam durch die Macht des Erzählens, nicht nur Sinn, sondern auch familiären Zusammenhalt zu stiften.

Der vielfach ausgezeichnete Grafiker Reinhard Michl hat zu jeder einzelnen Transformation des nachtblauen Seidenstoffes eine entzückende kleine Illustration geschaffen, die auch die einzelnen Etappen der an seiner schwindenden Gestalt ablesbaren wechselhaften Familiengeschichte auf wunderbare Art und Weise abbildet und diese auch in ihrem historischen Zusammenhang wiedererkennbar macht.

„Stella Menzel und der goldene Faden“, aus dem Amerikanischen von Brigitte Jakobeit, erschienen bei Rowohlt Rotfuchs, 159 Seiten, € 16,99

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