Jerusalem

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Freitag, 22. November 2013

"Dieses Buch gehört meiner Mutter" von Erich Hackl


Am 15. November wurde der österreichische Autor und Übersetzer aus dem Spanischen, Erich Hackl, geboren 1954 in Steyr, für sein schriftstellerisches Lebenswerk mit dem Großen Kulturpreis des Landes Oberösterreich „Adalbert Stifter“ ausgezeichnet. Dieser schöne, klangvolle und renommierte Preis ist eine verdiente Anerkennung für ein bemerkenswertes, im deutschen Sprachraum einzigartiges Werk, das sich – und das ist das wunderbare daran – nicht willkürlich auf die geschlossene Welt der Literatur beschränken lässt.

Erich Hackl, dessen „Erzählungen nach dem Leben“ „Auroras Anlass“ und „Abschied von Sidonie“ längst nicht nur in Österreich den Kanon der Schullektüre bereichern, ist es von Anfang an immer ein überaus dringliches Anliegen gewesen, dem tatsächlichen, mit wachen Sinnen aktiv gelebten Leben mit den subtilen Mitteln seiner Sprachkunst einen unverwechselbaren, zärtlich-fragilen Raum innerhalb der bewahrenden Gegenwelt der Literatur zu verschaffen.

Erich Hackl/Foto: Pedro Timon Solinis


Dabei sind es vor allem die namenlosen Schwachen, Diskriminierten und Entrechteten des Zwanzigsten Jahrhunderts, denen Hackl immer wieder seine dichterische Stimme geliehen hat: die totgeschwiegenen Sprachlosen, denen die Möglichkeit eines freien und selbstbestimmten Lebens vorenthalten oder genommen wurde. Ob Nazidiktatur, spanischer Bürgerkrieg oder lateinamerikanische Militärjunta, es ist ein stetiges Anschreiben gegen das Vergessen, das ihn antreibt, ein unbändiger, widerborstiger Wille, den Verschleppten, Gefolterten und Ermordeten sowie ihren Angehörigen auf literarischem Wege Gerechtigkeit widerfahren zu lassen, indem er ihnen gleichsam vor aller Welt ihre Gesichter und ihre Namen zurückgibt und sie so dem Dunkel der Zeitläufe und der angestrengten Ignoranz der sich unbeteiligt gebenden Zeitgenossen entreißt.

Dabei sind Erich Hackls Bücher in der Wahl ihrer künstlerischen Mittel für gewöhnlich so reduziert, dass man oft erst im weiteren Verlauf der Lektüre merkt, dass man es hier mit einer ganz und gar eigenständigen Art der dokumentarischen Prosa zu tun hat, die einen gerade in ihrer sprachlichen Kargheit und nüchternen Authentizität so unmittelbar packt, dass man sie immer wieder getrost als literarische Sensation bezeichnen darf.

Wenn es innerhalb der jüngeren deutschen Literatur noch direkt zugängliche Werke gibt, die das kaum hoch genug einzuschätzende Kunststück fertigbringen, uns neben objektiven Fakten auch die unmittelbaren menschlichen Konsequenzen politischen Handelns aufzuzeigen, dann sind es die auf stille Art und Weise spektakulären Bücher des bescheidenen Oberösterreichers, der es sich nie gestattet, seine Protagonisten etwa durch sprachliche, strukturelle oder interpretatorische Kabinettstückchen (zu denen er im übrigen sehr wohl fähig ist, wie er als virtuoser Übersetzer von Lyrik wiederholt bewiesen hat) in den Hintergrund zu drängen.



In seinem neuen Buch betritt Erich Hackl indes literarisches Neuland, indem er sich erstmals Episoden aus der eigenen Familiengeschichte annähert. „Dieses Buch gehört meiner Mutter“ ist wie Lyrik gesetzt und bedient sich zuweilen einer geradezu biblisch anmutenden Sprache, die uns unwillkürlich und höchst überzeugend in die archaisch scheinende, geographisch wie weltanschaulich eng umrissene, bäuerlich geprägte Welt der ersten fünfundzwanzig Lebensjahre seiner Mutter in einem kleinen, abgeschiedenen, aus nicht mehr als dreißig Häusern und Höfen bestehenden Dorf im Unteren Mühlviertel, nahe der Grenze zu Tschechien hineinversetzt.

Am Hang des Predigtberges
lag Sankt Leonhard.
Am Fuß des Heidenberges
lag Weitersfelden.
Firling lag so dazwischen:
vier Hügel dahin,
fünf Hügel dorthin. [...]

Drumherum ein paar tausend Steine,
verstreut über Weiden, Äcker und Wälder.

Mittendrin allerlei zahmes Getier
sowie Mannsbilder, Weiberleute und Kinder,
erfüllt von Fleiß, Gehorsam, Gottesfurcht
und einem großen Durst nach Geselligkeit.

Immer in der Schwebe
zwischen Argwohn und Leichtsinn.

Zu erschöpft,
sich die Gegenwart vorzustellen.

Solche wie ich.

In den zunächst simpel scheinenden, aber sich schon bald als ausgesprochen assoziationsreich und suggestiv erweisenden Worten, die der Autor seiner vor zehn Jahren verstorbenen Mutter leiht, wird das karge Leben im Mühlviertel auf eine Art und Weise lebendig, dass wir darin als dankbare Leser den ganzen Reichtum aller erdenklicher wesentlicher menschlicher Lebensäußerungen vollkommen unverstellt, ohne jede moralische Deutungsrichtung und in schmerzlichster, ursprünglichster und reinster Schönheit widergespiegelt erkennen dürfen. Dabei geht es hier vor allem ums tagtägliche Überleben: der Boden wirft trotz harter Arbeit, bei der die ganze Familie mit anpacken muss, zu wenig Ertrag ab, die Schulden drücken, und um den häuslichen Kirschbaum durch den Winter zu bringen, muss man in den Frostnächten ein kleines Feuerchen daneben anzünden.

Klassenfoto 1930


Dennoch ist diese aufs Wesentliche reduzierte Welt vor allem ein Ort der Schönheit und des inneren Reichtums, deren zahlreiche Ausprägungen in Hackls Version der persönlichen Bestenliste eines jungen Mädchens eine ganze Seite einnehmen:

Schlitten fahren.
Die jungen Katzen im Korbwagen spazierenfahren.
Auf dem Jahrmarkt mit dem Ringelspiel fahren.
Ein Rehkitz mit der Flasche aufziehen.
Das Roß striegeln.
Der alten Einlegerin die weißen Haare kämmen.
Von der Störschneiderin ein Märchen erzählt bekommen.
Dem Edi beim Faxenmachen zuschauen.
Dern Schaum vom Bierglas schlecken.
Auf de4m Dachboden alte Bücher finden.
Neben dem Fluder kleine Wasserräder laufen lassen.
Beim Brotbacken helfen.
Aufs Christkind warten.
Ans Christkind glauben (ein Mädchen wie ich, nur blond).
Das Christkind sehen (einen Zipfel seines himmelblauen Nachthemds).
Wenn es regnet, trocken bleiben.
Zum Essen sich Zeit nehmen dürfen.
Früh ins Bett gehen dürfen.
Beten.
Einen Schutzengel haben.
Ein gutes Wort hören.
Sich freuen.

Erich Hackls Buch ist eine unerschöpfliche Schatzkammer der alltäglichen Wunder. Es ist nebenbei auch ein eindringliches literarisches Dokument des poetischen Welt-Sehens und eine gelungene Anleitung, die guten, wesentlichen Dinge des Lebens angemessen zu würdigen. Alle großen und kleinen Dramen des chaotischen menschlichen und familiären Miteinanders haben hier ihren Platz: geplatzte Versprechen, heimliche Liebschaften, Kuppeleien, traditionelle Feindschaften, offene und versteckte Gewalt, berechtigte Liebe und grundloser Hass.

Hochzeitsfoto der Großeltern


Aber auch den kleinen, aber umso bedeutsameren Momenten des meist allzu vergänglichen Triumphs des sogenannten „kleinen Mannes“ über die Willkür der Mächtigen und den ohnmächtigen Widerstand gegen politische Ungerechtigkeit sowie insbesondere das Aufbegehren gegen die neuen nationalsozialistischen Machthaber schildert Hackl auf höchst eindringliche, unnachahmliche Art und Weise: hier scheint es noch eine ursprüngliche Art von grundsolider Anständigkeit und natürlicher moralischer Integrität zu geben. Das unbegreifliche Verschwinden der Roma und der Juden aus dem dörflichen Alltag quittiert die Erzählstimme mit hellsichtiger, entschiedener Urteilskraft:

Es war ein jüdischer Militärarzt,
der ihm im Lazarett das Leben gerettet hat.
Sagte mein Vater, und ich glaube,
so ist es gewesen.

Es war ein jüdischer Holzhändler,
der ihn in der schlechten Zeit fast ruiniert hat.
Sagte mein Vater, und ich glaube,
die Sache war komplizierter.

Es war ein jüdischer Offizier,
der den Soldaten das Plündern verboten hat.
Sagte mein Vater, und ich glaube,
ich kann es bezeugen.

Bei uns im Dorf gab es keine Juden.
Hätte es welche gegeben und dann keine mehr,
müßten wir uns ins Grab hinein noch schämen.

Die von Erich Hackl kongenial wiedergegebenen, bunt schimmernden, unvergesslichen, einprägsamen Szenen aus dem Leben seiner Mutter sind zwar wie Lyrik gesetzt, haben aber eindeutig erzählenden Charakter. Dennoch lassen sie mehr urtümlichen poetischen Gestaltungswillen erkennen als vieles, was von manchen zeitgenössischen Autoren aus Bequemlichkeit oder Unvermögen mitunter gern als Gedicht ausgegeben wird.

Der private Rahmen von Hackls familiärer Dichtung ist dabei nur scheinbar ein Widerspruch zu seinem bisherigen engagierten Eintreten für die politischen Verlierer des Zwanzigsten Jahrhunderts in seinen früheren Werken. Sein letztes Buch „Familie Salzmann“ war bewusst mit dem Untertitel „Erzählung aus unserer Mitte“ versehen – ein unmissverständlicher Hinweis auf die wohl wichtigste Erkenntnis aus all seinen bisherigen akribischen literarischen Recherchen: alle zu ihrer Zeit zu Unrecht Verfolgten waren vor ihrer infamen sozialen Ächtung immer Teil der Gesellschaft – Menschen „wie du und ich“ mit Träumen, Zielen und familiären Bindungen. Diese wesentliche Einsicht hat Hackl in seinem neuen Buch gleichsam noch weiter verdichtet – auch wenn seine Protagonisten hier größtenteils das Privileg eines friedlichen und erfüllten Lebens genießen dürfen.

Erich Hackls Mutter mit Tante und Hund


Am Ende zeigt sich wieder einmal, dass das kindlich-naive Bewusstsein nicht nur am intensivsten, lebhaftesten und wertschätzendsten zu beobachten vermag, sondern dass es dies auch auf völlig unvoreingenommene Art und Weise und ohne versteckte Motive tut. Die Erinnerungen von Erich Hackls Mutter enden folgerichtig mit ihrer Heirat und dem Verlassen des Elternhauses:

Als es soweit war, fiel der Abschied nicht schwer:
von dieser Welt, in der ich aufgehoben gewesen war
die ersten fünfundzwanzig Jahre meines Lebens,
die einzigen, die mir gegenwärtig blieben bis zuletzt
in Träumen
auf Erden.

Den beschriebenen Zustand des kindlichen Weltbetrachtens aber gilt es wiederzuerlangen: das, so deutet Hackl in seiner Nachbemerkung lediglich an, ist eine Lebensaufgabe, die nur wenige glückliche Menschen zu vollbringen vermögen.

„Dieses Buch gehört meiner Mutter“, erschienen bei Diogenes, 116 Seiten, € 17,90

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