Am 15. November wurde der
österreichische Autor und Übersetzer aus dem Spanischen, Erich
Hackl, geboren 1954 in Steyr, für sein schriftstellerisches
Lebenswerk mit dem Großen Kulturpreis des Landes Oberösterreich
„Adalbert Stifter“ ausgezeichnet. Dieser schöne, klangvolle und
renommierte Preis ist eine verdiente Anerkennung für ein
bemerkenswertes, im deutschen Sprachraum einzigartiges Werk, das sich
– und das ist das wunderbare daran – nicht willkürlich auf die
geschlossene Welt der Literatur beschränken lässt.
Erich Hackl, dessen „Erzählungen nach
dem Leben“ „Auroras Anlass“ und „Abschied von Sidonie“ längst nicht nur in Österreich den Kanon der Schullektüre
bereichern, ist es von Anfang an immer ein überaus dringliches
Anliegen gewesen, dem tatsächlichen, mit wachen Sinnen aktiv
gelebten Leben mit den subtilen Mitteln seiner Sprachkunst einen
unverwechselbaren, zärtlich-fragilen Raum innerhalb der bewahrenden
Gegenwelt der Literatur zu verschaffen.
Erich Hackl/Foto: Pedro Timon Solinis |
Dabei sind es vor allem die namenlosen
Schwachen, Diskriminierten und Entrechteten des Zwanzigsten
Jahrhunderts, denen Hackl immer wieder seine dichterische Stimme
geliehen hat: die totgeschwiegenen Sprachlosen, denen die Möglichkeit
eines freien und selbstbestimmten Lebens vorenthalten oder genommen
wurde. Ob Nazidiktatur, spanischer Bürgerkrieg oder
lateinamerikanische Militärjunta, es ist ein stetiges Anschreiben
gegen das Vergessen, das ihn antreibt, ein unbändiger,
widerborstiger Wille, den Verschleppten, Gefolterten und Ermordeten
sowie ihren Angehörigen auf literarischem Wege Gerechtigkeit
widerfahren zu lassen, indem er ihnen gleichsam vor aller Welt ihre
Gesichter und ihre Namen zurückgibt und sie so dem Dunkel der
Zeitläufe und der angestrengten Ignoranz der sich unbeteiligt
gebenden Zeitgenossen entreißt.
Dabei sind Erich Hackls Bücher in der
Wahl ihrer künstlerischen Mittel für gewöhnlich so reduziert, dass
man oft erst im weiteren Verlauf der Lektüre merkt, dass man es hier
mit einer ganz und gar eigenständigen Art der dokumentarischen Prosa
zu tun hat, die einen gerade in ihrer sprachlichen Kargheit und
nüchternen Authentizität so unmittelbar packt, dass man sie immer
wieder getrost als literarische Sensation bezeichnen darf.
Wenn es innerhalb der jüngeren
deutschen Literatur noch direkt zugängliche Werke gibt, die das kaum
hoch genug einzuschätzende Kunststück fertigbringen, uns neben
objektiven Fakten auch die unmittelbaren menschlichen Konsequenzen
politischen Handelns aufzuzeigen, dann sind es die auf stille Art und
Weise spektakulären Bücher des bescheidenen Oberösterreichers, der
es sich nie gestattet, seine Protagonisten etwa durch sprachliche,
strukturelle oder interpretatorische Kabinettstückchen (zu denen er
im übrigen sehr wohl fähig ist, wie er als virtuoser Übersetzer
von Lyrik wiederholt bewiesen hat) in den Hintergrund zu drängen.
In seinem neuen Buch betritt Erich Hackl
indes literarisches Neuland, indem er sich erstmals Episoden aus der
eigenen Familiengeschichte annähert. „Dieses Buch gehört meiner
Mutter“ ist wie Lyrik gesetzt und bedient sich zuweilen einer
geradezu biblisch anmutenden Sprache, die uns unwillkürlich und
höchst überzeugend in die archaisch scheinende, geographisch wie
weltanschaulich eng umrissene, bäuerlich geprägte Welt der ersten
fünfundzwanzig Lebensjahre seiner Mutter in einem kleinen,
abgeschiedenen, aus nicht mehr als dreißig Häusern und Höfen
bestehenden Dorf im Unteren Mühlviertel, nahe der Grenze zu
Tschechien hineinversetzt.
Am Hang des
Predigtberges
lag Sankt
Leonhard.
Am Fuß des
Heidenberges
lag
Weitersfelden.
Firling lag so
dazwischen:
vier Hügel
dahin,
fünf Hügel
dorthin. [...]
Drumherum ein
paar tausend Steine,
verstreut über
Weiden, Äcker und Wälder.
Mittendrin
allerlei zahmes Getier
sowie
Mannsbilder, Weiberleute und Kinder,
erfüllt von
Fleiß, Gehorsam, Gottesfurcht
und einem großen
Durst nach Geselligkeit.
Immer in der
Schwebe
zwischen Argwohn
und Leichtsinn.
Zu erschöpft,
sich die
Gegenwart vorzustellen.
Solche wie ich.
In den zunächst simpel scheinenden,
aber sich schon bald als ausgesprochen assoziationsreich und
suggestiv erweisenden Worten, die der Autor seiner vor zehn Jahren
verstorbenen Mutter leiht, wird das karge Leben im Mühlviertel auf
eine Art und Weise lebendig, dass wir darin als dankbare Leser den
ganzen Reichtum aller erdenklicher wesentlicher menschlicher
Lebensäußerungen vollkommen unverstellt, ohne jede moralische
Deutungsrichtung und in schmerzlichster, ursprünglichster und
reinster Schönheit widergespiegelt erkennen dürfen. Dabei geht es
hier vor allem ums tagtägliche Überleben: der Boden wirft trotz
harter Arbeit, bei der die ganze Familie mit anpacken muss, zu wenig
Ertrag ab, die Schulden drücken, und um den häuslichen Kirschbaum
durch den Winter zu bringen, muss man in den Frostnächten ein
kleines Feuerchen daneben anzünden.
Klassenfoto 1930 |
Dennoch ist diese aufs Wesentliche
reduzierte Welt vor allem ein Ort der Schönheit und des inneren
Reichtums, deren zahlreiche Ausprägungen in Hackls Version der
persönlichen Bestenliste eines jungen Mädchens eine ganze Seite
einnehmen:
Schlitten
fahren.
Die jungen
Katzen im Korbwagen spazierenfahren.
Auf dem
Jahrmarkt mit dem Ringelspiel fahren.
Ein Rehkitz mit
der Flasche aufziehen.
Das Roß
striegeln.
Der alten
Einlegerin die weißen Haare kämmen.
Von der
Störschneiderin ein Märchen erzählt bekommen.
Dem Edi beim
Faxenmachen zuschauen.
Dern Schaum vom
Bierglas schlecken.
Auf de4m
Dachboden alte Bücher finden.
Neben dem Fluder
kleine Wasserräder laufen lassen.
Beim Brotbacken
helfen.
Aufs Christkind
warten.
Ans Christkind
glauben (ein Mädchen wie ich, nur blond).
Das Christkind
sehen (einen Zipfel seines himmelblauen Nachthemds).
Wenn es regnet,
trocken bleiben.
Zum Essen sich
Zeit nehmen dürfen.
Früh ins Bett
gehen dürfen.
Beten.
Einen
Schutzengel haben.
Ein gutes Wort
hören.
Sich freuen.
Erich Hackls Buch ist eine
unerschöpfliche Schatzkammer der alltäglichen Wunder. Es ist
nebenbei auch ein eindringliches literarisches Dokument des
poetischen Welt-Sehens und eine gelungene Anleitung, die guten,
wesentlichen Dinge des Lebens angemessen zu würdigen. Alle großen
und kleinen Dramen des chaotischen menschlichen und familiären
Miteinanders haben hier ihren Platz: geplatzte Versprechen, heimliche
Liebschaften, Kuppeleien, traditionelle Feindschaften, offene und
versteckte Gewalt, berechtigte Liebe und grundloser Hass.
Hochzeitsfoto der Großeltern |
Aber auch den kleinen, aber umso
bedeutsameren Momenten des meist allzu vergänglichen Triumphs des
sogenannten „kleinen Mannes“ über die Willkür der Mächtigen
und den ohnmächtigen Widerstand gegen politische Ungerechtigkeit
sowie insbesondere das Aufbegehren gegen die neuen
nationalsozialistischen Machthaber schildert Hackl auf höchst
eindringliche, unnachahmliche Art und Weise: hier scheint es noch
eine ursprüngliche Art von grundsolider Anständigkeit und
natürlicher moralischer Integrität zu geben. Das unbegreifliche
Verschwinden der Roma und der Juden aus dem dörflichen Alltag
quittiert die Erzählstimme mit hellsichtiger, entschiedener
Urteilskraft:
Es war ein
jüdischer Militärarzt,
der ihm im
Lazarett das Leben gerettet hat.
Sagte mein
Vater, und ich glaube,
so ist es
gewesen.
Es war ein
jüdischer Holzhändler,
der ihn in der
schlechten Zeit fast ruiniert hat.
Sagte mein
Vater, und ich glaube,
die Sache war
komplizierter.
Es war ein
jüdischer Offizier,
der den Soldaten
das Plündern verboten hat.
Sagte mein
Vater, und ich glaube,
ich kann es
bezeugen.
Bei uns im Dorf
gab es keine Juden.
Hätte es welche
gegeben und dann keine mehr,
müßten wir uns
ins Grab hinein noch schämen.
Die von Erich Hackl kongenial
wiedergegebenen, bunt schimmernden, unvergesslichen, einprägsamen
Szenen aus dem Leben seiner Mutter sind zwar wie Lyrik gesetzt, haben
aber eindeutig erzählenden Charakter. Dennoch lassen sie mehr
urtümlichen poetischen Gestaltungswillen erkennen als vieles, was
von manchen zeitgenössischen Autoren aus Bequemlichkeit oder
Unvermögen mitunter gern als Gedicht ausgegeben wird.
Der private Rahmen von Hackls familiärer
Dichtung ist dabei nur scheinbar ein Widerspruch zu seinem bisherigen
engagierten Eintreten für die politischen Verlierer des Zwanzigsten
Jahrhunderts in seinen früheren Werken. Sein letztes Buch „Familie Salzmann“ war bewusst mit dem Untertitel „Erzählung aus unserer
Mitte“ versehen – ein unmissverständlicher Hinweis auf die wohl
wichtigste Erkenntnis aus all seinen bisherigen akribischen
literarischen Recherchen: alle zu ihrer Zeit zu Unrecht Verfolgten
waren vor ihrer infamen sozialen Ächtung immer Teil der Gesellschaft
– Menschen „wie du und ich“ mit Träumen, Zielen und familiären
Bindungen. Diese wesentliche Einsicht hat Hackl in seinem neuen Buch
gleichsam noch weiter verdichtet – auch wenn seine Protagonisten
hier größtenteils das Privileg eines friedlichen und erfüllten
Lebens genießen dürfen.
Erich Hackls Mutter mit Tante und Hund |
Am Ende zeigt sich wieder einmal, dass
das kindlich-naive Bewusstsein nicht nur am intensivsten,
lebhaftesten und wertschätzendsten zu beobachten vermag, sondern
dass es dies auch auf völlig unvoreingenommene Art und Weise und
ohne versteckte Motive tut. Die Erinnerungen von Erich Hackls Mutter
enden folgerichtig mit ihrer Heirat und dem Verlassen des
Elternhauses:
Als es soweit
war, fiel der Abschied nicht schwer:
von dieser Welt,
in der ich aufgehoben gewesen war
die ersten
fünfundzwanzig Jahre meines Lebens,
die einzigen,
die mir gegenwärtig blieben bis zuletzt
in Träumen
auf Erden.
Den beschriebenen Zustand des kindlichen
Weltbetrachtens aber gilt es wiederzuerlangen: das, so deutet Hackl
in seiner Nachbemerkung lediglich an, ist eine Lebensaufgabe, die nur
wenige glückliche Menschen zu vollbringen vermögen.
„Dieses Buch gehört meiner Mutter“,
erschienen bei Diogenes, 116 Seiten, € 17,90
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