I. Herschel
Grynszpan
Am
7. November 1938 gab der junge Hannoveraner Jude Herschel Grynszpan
(1921-1942) in den Räumen der deutschen Botschaft in Paris fünf
gezielte
Pistolenschüsse
auf den der NSDAP angehörenden Legationssekretär
Ernst vom Rath (1909-1938) ab, der zwei Tage später seinen
Verletzungen erlag – nach neuesten Erkenntnissen möglicherweise
aufgrund von der seinem Zustand nicht angemessener ärztlicher
Behandlung durch zwei von Hitler persönlich abkommandierte deutsche
Ärzte. Diesen Zwischenfall nahmen die Nationalsozialisten auf infame
Art und Weise zum Anlass, in der Nacht vom 9. auf den 10. November
1938 von zivil gekleideten Mitgliedern der SA und der SS landesweit
brutale Aktionen gegen deutsche
Juden
zu
inszenieren,
die
ein „spontanes Ausbrechen des Volkszorns“ im
Sinne eines mittelalterlichen Pogroms suggerieren
sollten und die Initialzündung zum Übergang von der rechtlichen
Diskriminierung
zur aktiven Verfolgung der deutschen Juden markierten. In
dieser bitteren Nacht wurden von den Nationalsozialisten tausende
Synagogen, Geschäfte, Wohnungen und jüdische Friedhöfe in
Deutschland zerstört sowie ungefähr 400 Menschen ermordet oder in
den Selbstmord getrieben. Die in den nächsten Tagen vollzogene
verbrecherische
Deportation
von etwa 30.000 Juden in Konzentrationslager hatte ebenfalls Hunderte
von Todesopfern zur Folge. Es
ist von fundamentaler Bedeutung, immer wieder an dieses Datum zu
erinnern. Herschel Grynszpan blieb in Frankreich ohne Prozess
inhaftiert, wurde nach der Besetzung durch deutsche Truppen nach
Deutschland überstellt und dort vermutlich spätestens Anfang 1943
ermordet.
Herschel Grynszpan nach seiner Festnahme |
II. Abraham
Sutzkever
Der im
Januar 2010 im Alter von sechsundneunzig Jahren verstorbene Abraham
Sutzkever, jüdischer Partisan und Überlebender des Wilnaer Ghettos,
neben Wassili Grossman und Ilja Ehrenburg Mitherausgeber des
Schwarzbuchs über den Genozid an den sowjetischen Juden und
Zeuge bei den Nürnberger Prozessen, gehört mit seinem sprachlich
ebenso kraftvollen wie gedanklich sensiblen Werk nicht nur zu den
produktivsten und literarisch bedeutendsten Lyrikern jiddischer
Sprache überhaupt, sondern war mit der von ihm in Tel Aviv von 1946
bis 1995 herausgegebenen Zeitschrift „Di goldene Kejt“
(Die goldene Kette) auch ohne Zweifel einer der größten
lebenslangen Förderer der jiddischen Dichtung überhaupt.
Abraham Sutzkever |
Eine
anlässlich seines 95. Geburtstags im Juli 2009 erschienene
Anthologie seines beeindruckenden poetischen Werks in deutscher
Übersetzung, die eine überaus repräsentative, sachkundig
zusammengestellte Auswahl seiner Gedichte bis 1992 umfasst, war
erstaunlicherweise in dieser Form ursprünglich gar nicht geplant
gewesen, sondern zunächst nur als weniger umfangreiche poetische
Beigabe zu seinem zeitgleich im selben Schweizer Verlag erschienenen
erschütternden Prosabericht über das Wilnaer Ghetto „Wilner Getto 1941-1944“ gedacht.
Ein barfüßiger Wanderer auf einem Fels
im Abendgold
schüttelt den Staub der Welt von sich.
Aus dem Wald
fliegt ein Vogel auf
und fängt das letzte Stückchen Sonne weg.
Eine Weide am Fluß ist da auch.
Ein Weg.
Ein Feld.
Eine wimmelnde Wiese.
Geheime Schritte
hungriger Wolken.
Wo sind die Hände, die Wunder machen?
Was bleibt zu tun in dieser Stunde,
o meine tausendfarbene Welt?
Es sei denn
im Bettelsack des Windes
die rote Schönheit einsammeln
und sie heimbringen zum Abendbrot.
Ein Elend wie ein Berg ist da auch.
Die
von dem renommierten Übersetzer und Spezialisten für
mittelhochdeutsche Dichtung Hubert Witt kongenial teils gereimt
übertragenen, teils in freie Metrik übersetzten achtzig Gedichte
und Poeme führen dem Leser auf vorbildliche, absolut beeindruckende
Art und Weise sehr anschaulich vor Augen, wie aus einem ausgesprochen
talentierten jungen Dichter unter der leidvollen Erfahrung der
nationalsozialistischen Verfolgung sowie des eigenhändigen
bewaffneten Kampfes gegen die Besatzungstruppen ein wirklich großer
Lyriker von internationalem Rang wurde.
Jüdische Widerstandskämpfer nach der Befreiung Wilnas durch die Rote Armee |
Was an
Sutzkevers Lyrik am meisten beeindruckt, ist seine vitale, trotz
allem lebensbejahende Weltsicht, die in ihrem Streben nach poetischer
Schönheit immer wieder herausragende, tief beeindruckende Metaphern
für das geistige und physische Überleben im Angesicht des jegliche
menschliche Maßstäbe sprengenden Mordens findet und damit letztlich
auch Adornos unsinnige Ächtung der Poesie nach dem Holocaust ad
absurdum führt.
Sing kein Trauerlied,
entehre die Trauer nicht.
Worte verraten.
Namen wandeln sich
ins Gegenteil.
Blick auf den Schnee,
beleuchte mit seiner Ruh
dein Erinnern.
Licht ist die Sprache deines Herzens.
Und du
bist neugeboren.
Streck deine Finger zum Schnee,
zu den kalten
Geweben.
Wecke in ihnen
das verborgene
Leben.
III.
Maurice Bavaud
Der 9.
November markiert auch den Jahrestag zweier gescheiterter
Attentatsversuche auf das Leben Adolf Hitlers, die zwei mutige
Einzeltäter während offizieller „Gedenkveranstaltungen“ der
Nationalsozialisten anlässlich des Jahrestags von Hitlers
gescheitertem Münchener Putschversuch vom 9. November 1923
durchzuführen geplant hatten. Während Georg Elsers (1903-1945)
ausgeklügelte Zeitbombe im Münchener Bürgerbräukeller am 8.
November 1939 Hitler nur um wenige Minuten verfehlte, kam der
Schweizer Priesteranwärter Maurice Bavaud, dessen Schicksal einer
breiten Öffentlichkeit in Deutschland immer noch zu wenig bekannt
ist, während eines offiziellen Gedenkmarsches am 9. November 1938
gar nicht erst zum Abschluss, sondern musste seine Pläne, den
Diktator zu ermorden, bis auf weiteres verschieben.
Georg-Elser-Sondermarke aus dem Jahr 2003 |
Nachdem
er dem selbsternannten „Führer“ anschließend wochenlang
hinterhergereist war, wobei er all seine Ersparnisse verbrauchte,
wurde er auf der Rückreise nach Paris ohne Fahrschein als
Schwarzfahrer verhaftet und aufgrund verdächtiger bei ihm gefundener
Dokumente sowie seiner ebenfalls mitgeführten Waffe der Gestapo
übergeben, die ihm unter Folter ein umfassendes Geständnis
entpresste. Da der umstrittene Schweizer Botschafter Hans Frölicher
(1887-1961) es ablehnte, sich für den Gefangenen einzusetzen, dessen
Pläne er öffentlich als „verabscheuungswürdig“ kritisierte,
wurde Bavaud in einem unrechtmäßigen Geheimverfahren kurzerhand
zum Tode verurteilt und am 14. Mai 1941 in Berlin-Plötzensee
hingerichtet. Seine Rehabilitation erfolgte erst Ende der 1950er
Jahre.
Maurice Bavaud |
Bemerkenswert
sind die Attentatsversuche von Elser und Bavaud besonders deshalb,
weil sie beide trotz ihres eher bescheidenen, kleinbrügerlichen
Hintergrunds auf vollkommen eigenständige Art und Weise nach einer
umfassenden persönlichen Analyse der politischen Umstände Ihrer
Zeit unabhängig voneinander zu dem klaren, unumstößlichen Urteil
gekommen waren, dass nur die Beseitigung Hitlers die schlimmen zu
erwartenden Folgen seiner schändlichen Politik verhindern könne.
Anders als die meisten ihrer gleichgesinnten Zeitgenossen richteten
Elser und Bavaud aber auch ihr individuelles Handeln vollkommen auf
das zu erreichende Ziel aus – und das verdient gerade in einem
Land, in dem Widerstand in der der öffentlichen Wahrnehung
weitgehend mit dem späten und zögerlichen militärischen
Umsturzversuch vom 20. Juli 1944 gleichgesetzt wird, weit mehr als
unsere bloße Anerkennung.
„Herschel – Das Attentat des Herschel Grynszpan am 6. November 1938 und der Beginn des Holocaust“, erschienen bei Berlin Story, 368 Seiten, €
19,90
„Gesänge vom Meer des Todes“,
aus dem Jiddischen von Hubert Witt, erschienen bei Ammann, 191
Seiten, € 22,95
„Es ist kalt in Brandenburg – Ein Hitler-Attentat“, erschienen im Limmat Verlag, 180 Seiten, €
25,-
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