Jerusalem

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Montag, 18. November 2013

"Germania" von Harald Gilbers

Als ob die Bilanz des Nationalsozialismus, insbesondere in der moralischen Eskalation der Schoah sowie den blutigen Schlachten des Zweiten Weltkriegs, nicht schon grausam genug ausfiele, hat der langjährige Fernsehredakteur, Schriftsteller und freie Theaterregisseur Harald Gilbers das unter den chirurgischen Luftangriffen der Alliierten des Frühsommers 1944 in Trümmer fallende, desolate Berlin in seinem fesselnd-unterhaltsamen historischen Kriminalroman „Germania“ zum morbide-pittoresken Schauplatz eines mordlustigen, mit irrer Präzision zuschlagenden Serientäters gemacht, dessen blutige Untaten auf doppelte Weise die von den Machthabern staatlich legitimierte sittliche Verrohung eines ganzen Volkes widerspiegeln.



Die beklagenswerten, ausnahmslos weiblichen Opfer des psychopathischen Mörders werden stets nach demselben Muster, mit weit gespreizten Beinen sowie entblößten und grausam verstümmelten Geschlechtsteilen und zweier durch ihre Gehörgänge bis ins Gehirn hineingetriebenen Nägel in den Ohren vor verschiedenen Gedenkstätten auf dem Stadtgebiet von Berlin zu Ehren der Opfer des Ersten Weltkriegs augefunden. Die unbeholfenen Bekennerschreiben in fehlerhafter Rechtschreibung suggerieren eine deutliche ideologische Nähe des mutmaßlichen Täters zur nationalsozialistischen Führung:

Die Dirnen sind gefährlich. Viel noch als die Juden und die Bolschehwisten zusammen. Sie haben unsre Heimat unterwandert. Sie verschmutzen unser Bluht rauben unsere Lebenskraft. Jemand muß es die Leute sagen. Die Hure die ich in Schöneweide, hab liegenlassen ist nicht die letzte. Warum sieht der Führer zu, daß in den Puffs vom Lebensborn die gesamte SS verseucht wird? Unsre Bewegung, hat eine falsche richtung genommen.

Doch während an den militärischen Fronten sowie im gänzlich rechtsfrei scheinenden Raum der Konzentrationslager und des nationalsozialistischen Polizeistaats wahllos und nahezu ungeahndet gemordet werden darf, solange es dabei „nur“ die auch öffentlich als Untermenschen gebrandmarkten, vom System offiziell Diskriminierten trifft, kann der undurchschaubar-kafkaeske Apparat des zu Beginn des Zweiten Weltkriegs durch Zusammenlegung der unterschiedlichen Polizeiorgane geschaffenen Reichssicherheitshauptamtes spätestens nach dem zweiten Mordfall – zumal begangen an der Chefsekretärin eines einflussreichen Parteibonzen – nicht umhin, eine Sonderermittlungskommission unter Leitung eines SS-Kommandos zu nominieren.

Deren Chef, der ehrgeizige, aber in systematischer Polizeiarbeit gänzlich unerfahrene Hauptsturmführer Vogler, dessen vorrangigstes Ziel eine möglichst baldige Rückversetzung an die militärische Front ist, hat sich für die auch aus Gründen der Parteiräson dringend zu erreichende, unverzügliche Aufklärung des Falles die Rückendeckung seiner Vorgesetzten für einen vollkommen unkonventionellen und aus objektiver heutiger Sicht eher unrealistisch scheinenden Schachzug entschieden: nämlich den wegen seiner Ehe mit einer Christin noch halbwegs geschützten, jedoch kurz vor der Deportation stehenden ehemaligen jüdischen Polizeikommissar Richard Oppenheimer vorübergehend zur Unterstützung seiner Dienststelle zu reaktivieren.

Sie können das machen. Sie sind unvoreingenommen. Sie können Fragen stellen, die sich kein Nationalsozialist trauen würde auch nur anzudeuten. Nur auf diese Weise ist es sinnvoll, eine Untersuchung zu führen.“

Die völlig undenkbare Situation, dass ein Jude mit gelbem Stern am Revers gegen Ende der Nazi-Herrschaft in Deutschland eine geheime polizeiliche Ermittlung leitet, Zeugen befragt und dabei untergeordneten SS-Männern dienstliche Anweisungen erteilt, wird schon bald zumindest für Außenstehende von Voglers Befehl entschärft, den Stern dauerhaft von der Kleidung zu entfernen; im Laufe der weiteren Ermittlungsarbeit kommt es sogar zu einer gruseligen Begegnung mit Reichspropagandaminister Joseph Goebbels:

Sie sind also Jude, Oppenheimer?“
Ja.“
Nun gut, das kann vorkommen. Zumindest scheint Hauptsturmführer Vogler großes Vertrauen in Ihre Fähigkeiten zu haben. Trotzdem sollte niemand erfahren, dass Sie nichtarischer Herkunft sind. Wenn Ihr Name nicht wäre, könnte man sich durchaus täuschen lassen. [...] Was mich angeht, sind Sie bis zur Beendigung der Untersuchung von der Zugehörigkeit zujm jüdischen Volk suspendiert. Bis dahin sind Sie als Arier zu behandeln. Punktum. Vogler wird sich um alles Nötige kümmern. Das war's, meine Herren.“
Oppenheimer blickte Goebbels völlig überrumpelt an. Er hatte nicht gewusst, dass selbst die Religionszugehörigkeit in den Kompetenzbereich eines Propagandaministers fiel. Was würde jetzt geschehen? Würde ihm nun wie durch ein Wunder eine neue Vorhaut wachsen?

Der schottische Thriller-Spezialist Philip Kerr, zweimaliger Preisträger des renommierten Krimi-Preises, hat in seiner großartigen Berlin-Noir-Reihe um den ehemaligen Kriminaloberkommissar und Privatdetektiv Bernie Gunther, einer Art von freidenkerischem Philip Marlowe im Nazi-Deutschland der 1930er und 40er Jahre, einen bisher unerreichten Standard in diesem von ihm selbst erfundenen Genre gesetzt. Der eher aufklärerische Ansatz des Österreichers Otto Basil (1901-1983) in seiner grandiosen Farce „Wenn das der Führer wüßte“ (1966) unterscheidet sich ebenfalls deutlich davon wie der des englischen Historikers und Bestseller-Autors Robert Harris in seinem spannenden anti-utopistischen Roman „Vaterland“ – beide Bücher spielen in einem fiktiven Nachkriegseuropa, das durch einen allumfassenden Sieg der Nationalsozialisten geprägt ist.



Harald Gilbers gelingt es in seinem Debütroman auf äußerst unterhaltsame sowie historisch fundierte und von zahlreichen verlässlichen Quellen inspirierte Art und Weise, die Wartezeit bis zum Erscheinen des nächsten Bernie-Gunther-Falles „Böhmisches Blut“ im Januar 2014 mehr als angemessen zu überbrücken. Der Münchener Autor (geboren 1969) zeichnet in atmospärisch dichten Szenen ein beängstigend realistisches, ausgesprochen verstörendes Endzeitpanorama einer verdientermaßen dem Untergang geweihten Stadt. Dabei enthält er sich deutlich einer angesichts des zahlreiche weltanschauliche Fragen aufwerfenden Sujets durchaus naheliegenden, stereotypen Schwarz-Weiß-Charakterzeichnung seiner Hauptfiguren, die dadurch an Tiefenschärfe und Lebensnähe noch gewinnen. Die historische Durchdringung seines Stoffs in ihrer atmospärisch-hochintensiven Wirkung auf den Leser kommt der eines guten Sachbuchs sehr nahe.

Als Oppermann und Vogler während eines schweren Bombenangriffes gemeinsam im fürstlich bestückten Keller eines zu befragenden hochrangigen Parteimitglieds verschüttet werden und die beiden ungleichen Partner die Wartezeit bis zur ungewissen Rettung mit dem Genuss der dort gelagerten Lebensmittelvorräte und kostbaren Weine sowie dem Anhören der auch Musik verbotener Komponisten enthaltenden Schallplattensammlung überbrücken, deutet sich sogar die unwahrscheinliche Möglichkeit einer Art von Freundschaft zwischen den beiden ungleichen Partnern an.

Oppenheimer blieb der Bissen Eisbein fast im Hals stecken. Wenn er so darüber nachdachte, dann war er in einer interessanten Lage. Er saß mit einem SS-Mann zusammen, verschüttet unter Tonnen von Geröll, und hörte sich ausgerechnet Musik von einem jüdischen Komponisten und einem linken Dichter an. Konnte man das als Wehrkraftzersetzung deuten? Nun, zumindest konnte Oppenheimer behaupten, das er hier unten keine anderen Schallplatten gefunden hatte. „Soldaten wooohnen, auf den Kanooonen“, krächzte es durch den Raum. Es dauerte nicht lang, und auch Vogler sang den Refrain mit.

Was Oppenheimer jedoch nicht ahnen kann: Vogler hat von seinem obersten Vorgesetzten längst den unmissverständlichen Befehl erhalten, seinen unstatthaften Kollegen nach erfolgreichem Abschluss des Falles persönlich zu liquidieren – wobei nach nationalsozialistischer Lesart Erfolg nicht unbedingt mit einer wahrheitsgemäßen Rekonstruktion des Tathergangs und der Überführung des tatsächlichen Mörders gleichzusetzen ist.

„Germania“ ist ein ausgesprochen intelligentes kriminalistisches Gedankenspiel im Stile von Philip Kerrs Berlin-Noir-Romanen, das mit zahlreichen authentischen Details, scharfsinnigen Beobachtungen und treffenden Analysen sowie im streng focussierten Rahmen einer geradezu nervenzerrend-spannenden Handlung ein vermutlich authentisches Bild der allerletzten, finalen Stufe des Auseinanderbrechens eines geschlossenen verbrecherischen Systems zeichnet, das nicht nur aufgrund seiner moralischen Verkommenheit und seines Absolutheitsanspruchs geradezu zwingend scheitern musste, sondern vor allem wegen eines von ihm verantworteten unvorstellbaren und schwer zu vergegenwärtigenden Maßes an Mordtaten, das in der Menschheitsgeschichte bis heute ohne jede Parallele ist.

„Germania“, erschienen bei Knaur, 538 Seiten, € 9,99

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