Als ob die Bilanz des
Nationalsozialismus, insbesondere in der moralischen Eskalation der
Schoah sowie den blutigen Schlachten des Zweiten Weltkriegs, nicht
schon grausam genug ausfiele, hat der langjährige Fernsehredakteur,
Schriftsteller und freie Theaterregisseur Harald Gilbers das unter
den chirurgischen Luftangriffen der Alliierten des Frühsommers 1944
in Trümmer fallende, desolate Berlin in seinem
fesselnd-unterhaltsamen historischen Kriminalroman „Germania“ zum
morbide-pittoresken Schauplatz eines mordlustigen, mit irrer
Präzision zuschlagenden Serientäters gemacht, dessen blutige
Untaten auf doppelte Weise die von den Machthabern staatlich
legitimierte sittliche Verrohung eines ganzen Volkes widerspiegeln.
Die beklagenswerten, ausnahmslos
weiblichen Opfer des psychopathischen Mörders werden stets nach
demselben Muster, mit weit gespreizten Beinen sowie entblößten und
grausam verstümmelten Geschlechtsteilen und zweier durch ihre
Gehörgänge bis ins Gehirn hineingetriebenen Nägel in den Ohren vor
verschiedenen Gedenkstätten auf dem Stadtgebiet von Berlin zu Ehren
der Opfer des Ersten Weltkriegs augefunden. Die unbeholfenen
Bekennerschreiben in fehlerhafter Rechtschreibung suggerieren eine
deutliche ideologische Nähe des mutmaßlichen Täters zur
nationalsozialistischen Führung:
Die
Dirnen sind gefährlich. Viel noch als die Juden und die
Bolschehwisten zusammen. Sie haben unsre Heimat unterwandert. Sie
verschmutzen unser Bluht rauben unsere Lebenskraft. Jemand muß es
die Leute sagen. Die Hure die ich in Schöneweide, hab liegenlassen
ist nicht die letzte. Warum sieht der Führer zu, daß in den Puffs
vom Lebensborn die gesamte SS verseucht wird? Unsre Bewegung, hat
eine falsche richtung genommen.
Doch während an den
militärischen Fronten sowie im gänzlich rechtsfrei scheinenden Raum
der Konzentrationslager und des nationalsozialistischen Polizeistaats
wahllos und nahezu ungeahndet gemordet werden darf, solange es dabei
„nur“ die auch öffentlich als Untermenschen gebrandmarkten, vom
System offiziell Diskriminierten trifft, kann der
undurchschaubar-kafkaeske Apparat des zu Beginn des Zweiten
Weltkriegs durch Zusammenlegung der unterschiedlichen Polizeiorgane
geschaffenen Reichssicherheitshauptamtes spätestens nach dem zweiten
Mordfall – zumal begangen an der Chefsekretärin eines
einflussreichen Parteibonzen – nicht umhin, eine
Sonderermittlungskommission unter Leitung eines SS-Kommandos zu
nominieren.
Deren Chef, der ehrgeizige, aber
in systematischer Polizeiarbeit gänzlich unerfahrene
Hauptsturmführer Vogler, dessen vorrangigstes Ziel eine möglichst
baldige Rückversetzung an die militärische Front ist, hat sich für
die auch aus Gründen der Parteiräson dringend zu erreichende,
unverzügliche Aufklärung des Falles die Rückendeckung seiner
Vorgesetzten für einen vollkommen unkonventionellen und aus
objektiver heutiger Sicht eher unrealistisch scheinenden Schachzug
entschieden: nämlich den wegen seiner Ehe mit einer Christin noch
halbwegs geschützten, jedoch kurz vor der Deportation stehenden
ehemaligen jüdischen Polizeikommissar Richard Oppenheimer
vorübergehend zur Unterstützung seiner Dienststelle zu
reaktivieren.
„Sie
können das machen. Sie sind unvoreingenommen. Sie können Fragen
stellen, die sich kein Nationalsozialist trauen würde auch nur
anzudeuten. Nur auf diese Weise ist es sinnvoll, eine Untersuchung zu
führen.“
Die völlig undenkbare Situation,
dass ein Jude mit gelbem Stern am Revers gegen Ende der
Nazi-Herrschaft in Deutschland eine geheime polizeiliche Ermittlung
leitet, Zeugen befragt und dabei untergeordneten SS-Männern
dienstliche Anweisungen erteilt, wird schon bald zumindest für
Außenstehende von Voglers Befehl entschärft, den Stern dauerhaft
von der Kleidung zu entfernen; im Laufe der weiteren
Ermittlungsarbeit kommt es sogar zu einer gruseligen Begegnung mit
Reichspropagandaminister Joseph Goebbels:
„Sie
sind also Jude, Oppenheimer?“
„Ja.“
„Nun
gut, das kann vorkommen. Zumindest scheint Hauptsturmführer Vogler
großes Vertrauen in Ihre Fähigkeiten zu haben. Trotzdem sollte
niemand erfahren, dass Sie nichtarischer Herkunft sind. Wenn Ihr Name
nicht wäre, könnte man sich durchaus täuschen lassen. [...] Was
mich angeht, sind Sie bis zur Beendigung der Untersuchung von der
Zugehörigkeit zujm jüdischen Volk suspendiert. Bis dahin sind Sie
als Arier zu behandeln. Punktum. Vogler wird sich um alles Nötige
kümmern. Das war's, meine Herren.“
Oppenheimer
blickte Goebbels völlig überrumpelt an. Er hatte nicht gewusst,
dass selbst die Religionszugehörigkeit in den Kompetenzbereich eines
Propagandaministers fiel. Was würde jetzt geschehen? Würde ihm nun
wie durch ein Wunder eine neue Vorhaut wachsen?
Der schottische
Thriller-Spezialist Philip Kerr, zweimaliger Preisträger des
renommierten Krimi-Preises, hat in seiner großartigen
Berlin-Noir-Reihe um den ehemaligen Kriminaloberkommissar und
Privatdetektiv Bernie Gunther, einer Art von freidenkerischem Philip
Marlowe im Nazi-Deutschland der 1930er und 40er Jahre, einen bisher
unerreichten Standard in diesem von ihm selbst erfundenen Genre
gesetzt. Der eher aufklärerische Ansatz des Österreichers Otto
Basil (1901-1983) in seiner grandiosen Farce „Wenn das der Führer wüßte“ (1966) unterscheidet sich ebenfalls deutlich davon wie der
des englischen Historikers und Bestseller-Autors Robert Harris in
seinem spannenden anti-utopistischen Roman „Vaterland“ – beide
Bücher spielen in einem fiktiven Nachkriegseuropa, das durch einen
allumfassenden Sieg der Nationalsozialisten geprägt ist.
Harald Gilbers gelingt es in
seinem Debütroman auf äußerst unterhaltsame sowie historisch
fundierte und von zahlreichen verlässlichen Quellen inspirierte Art
und Weise, die Wartezeit bis zum Erscheinen des nächsten
Bernie-Gunther-Falles „Böhmisches Blut“ im Januar 2014 mehr als
angemessen zu überbrücken. Der Münchener Autor (geboren 1969)
zeichnet in atmospärisch dichten Szenen ein beängstigend
realistisches, ausgesprochen verstörendes Endzeitpanorama einer
verdientermaßen dem Untergang geweihten Stadt. Dabei enthält er
sich deutlich einer angesichts des zahlreiche weltanschauliche Fragen
aufwerfenden Sujets durchaus naheliegenden, stereotypen
Schwarz-Weiß-Charakterzeichnung seiner Hauptfiguren, die dadurch an
Tiefenschärfe und Lebensnähe noch gewinnen. Die historische
Durchdringung seines Stoffs in ihrer atmospärisch-hochintensiven
Wirkung auf den Leser kommt der eines guten Sachbuchs sehr nahe.
Als Oppermann und Vogler während
eines schweren Bombenangriffes gemeinsam im fürstlich bestückten
Keller eines zu befragenden hochrangigen Parteimitglieds verschüttet
werden und die beiden ungleichen Partner die Wartezeit bis zur
ungewissen Rettung mit dem Genuss der dort gelagerten
Lebensmittelvorräte und kostbaren Weine sowie dem Anhören der auch
Musik verbotener Komponisten enthaltenden Schallplattensammlung
überbrücken, deutet sich sogar die unwahrscheinliche Möglichkeit
einer Art von Freundschaft zwischen den beiden ungleichen Partnern
an.
Oppenheimer
blieb der Bissen Eisbein fast im Hals stecken. Wenn er so darüber
nachdachte, dann war er in einer interessanten Lage. Er saß mit
einem SS-Mann zusammen, verschüttet unter Tonnen von Geröll, und
hörte sich ausgerechnet Musik von einem jüdischen Komponisten und
einem linken Dichter an. Konnte man das als Wehrkraftzersetzung
deuten? Nun, zumindest konnte Oppenheimer behaupten, das er hier
unten keine anderen Schallplatten gefunden hatte. „Soldaten
wooohnen, auf den Kanooonen“, krächzte es durch den Raum. Es
dauerte nicht lang, und auch Vogler sang den Refrain mit.
Was Oppenheimer jedoch nicht
ahnen kann: Vogler hat von seinem obersten Vorgesetzten längst den
unmissverständlichen Befehl erhalten, seinen unstatthaften Kollegen
nach erfolgreichem Abschluss des Falles persönlich zu liquidieren –
wobei nach nationalsozialistischer Lesart Erfolg nicht unbedingt mit
einer wahrheitsgemäßen Rekonstruktion des Tathergangs und der
Überführung des tatsächlichen Mörders gleichzusetzen ist.
„Germania“ ist ein
ausgesprochen intelligentes kriminalistisches Gedankenspiel im Stile
von Philip Kerrs Berlin-Noir-Romanen, das mit zahlreichen
authentischen Details, scharfsinnigen Beobachtungen und treffenden
Analysen sowie im streng focussierten Rahmen einer geradezu
nervenzerrend-spannenden Handlung ein vermutlich authentisches Bild
der allerletzten, finalen Stufe des Auseinanderbrechens eines
geschlossenen verbrecherischen Systems zeichnet, das nicht nur
aufgrund seiner moralischen Verkommenheit und seines
Absolutheitsanspruchs geradezu zwingend scheitern musste, sondern vor
allem wegen eines von ihm verantworteten unvorstellbaren und schwer
zu vergegenwärtigenden Maßes an Mordtaten, das in der
Menschheitsgeschichte bis heute ohne jede Parallele ist.
„Germania“, erschienen bei
Knaur, 538 Seiten, € 9,99
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