Jerusalem

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Donnerstag, 3. Oktober 2013

„Der grüne Blitz“ von Jules Verne

Jules Verne (1828-1905) ist bis heute eine Ausnahmeerscheinung der Literaturgeschichte geblieben. Kein anderer Autor hat wie der überall auf der Welt von ganzen Generationen von begeisterten Lesern leidenschaftlich verehrte prophetische Vordenker technischen Fortschritts und wissenshungrige Stifter des Sciencefiction-Genres die menschliche Existenz im Spiegel der Erlebnisse seiner Protagonisten so sehr als mit wachen Sinnen gelebtes, immerwährendes geistiges und physisches Abenteuer inszeniert.

Diese vom spannenden Grundcharakter seiner Romane meist gekonnt überdeckte, höchst entschiedene optimistische Weltsicht wird erstaunlicherweise besonders deutlich am überraschenden Beispiel eines innerhalb seines umfangreichen Werkes kaum bekannten und für seine Art der Literatur alles andere als typischen, unscheinbaren kleinen Buches, des nun seit Jahrzehnten erstmals wieder greifbaren kuriosen Liebesromans „Der grüne Blitz“ aus dem Jahr 1882, der in neuer deutscher Übersetzung soeben innerhalb der ebenso verdienstvollen wie schmucken, stets unvorhersehbaren Klassikerreihe des mare-Buchverlags erschienen ist.



Einziges bescheidenes Kriterium für die bei mare erscheinenden Bücher ist ein darin deutlich erkennbarer Bezug zum Meer oder zur Seefahrt, der durchaus weitläufiger Natur sein kann. Diese Vorbedingung wird in Jules Vernes sympathisch-schrulligem einzigen Liebesroman allerdings mit zahllosen wunderbaren Beschreibungen einer zeitgenössischen sommerlichen Dampferfahrt durch die landschaftlich reizvolle, wilde Inselwelt der Hebriden an der schottischen Ostküste sowie zahlreichen oft seitenlangen Schilderungen der tobenden See aufs Leichteste wie nebenbei erfüllt.

Das Meer hat in Wahrheit keine eigene Farbe. Es ist nur ein Spiegelbild des Himmels! Ist es blau? Mit Blau kann man es nicht malen! Ist es grün? Mit Grün auch nicht! Eher würde man es in seinem Wüten erfassen, wenn es dunkel, bleigrau, bösartig ist, wenn der Himmel sämtliche Wolken, die er darüber dräuen lässt, zu vermengen scheint! Ach, Miss Campbell, je länger ich ihn mir anschaue, desto überwältigender finde ich diesen Ozean. Ozean! Dieses Wort sagt alles! [...] In seinen unauslotbaren Tiefen erstrecken sich grenzenlose Wiesen, gegen welche die unseren wüst und leer sind, hat Darwin gesagt.

Der titelgebende, so genannte „grüne Blitz“, dem die in Vernes Buch versammelte illustre Gruppe von sechs liebenswert-versnobten schottischen Romantikern bis zum Schluss vergeblich hinterherjagt, ist ein bereits seit altägyptischer Zeit bekanntes, äußerst selten zu beobachtendes real existierendes Naturphänomen, das der weit gereiste Schriftsteller und Dichter James Hamilton-Paterson (geboren 1941) in seinem lesenswerten Nachwort ausführlich erläutert:

Die Atmosphäre funktioniert wie ein Prisma, welches das Sonnenlicht in seine Spektralfarben aufspaltet, von denen jede in einem anderen Winkel gebrochen wird. Wenn die Sonne sinkt, dringen ihre Strahlen durch die nach unten immer dichter werdende Atmosphäre zum Betrachter, und immer mehr Spektralfarben werden absorbiert oder zerstreut, bis nur noch Rot und Grün übrig sind. [...] Dieses Grün wird für das Auge erst sichtbar, wenn das Rot nicht mehr da ist. Plötzlich zeigt sich ein grellgrüner Fleck, und wir nehmen einen grünen Blitz wahr. Dass wir dies nicht jedes Mal sehen, wenn die Sonne am wolkenlosen Himmel untergeht, liegt daran, dass die atmosphärischen Bedingungen genau richtig sein müssen. Werden die gelben und orangefarbenen Wellenlängen des Lichts nicht gründlich genug absorbiert, geht der Effekt verloren.

Im Buch liest die von ihren beiden wohlhabenden, unverheirateten und in Gefühlsdingen absolut unerfahrenen Onkeln an Eltern statt aufgezogene und zu deren großer Freude neuerdings von einem ihrer unzulänglichen eigenen Meinung nach in höchstem Maße geeigneten und noch dazu standesgemäßen Bewerber bedrängte ebenso hübsche wie selbstbewusste Helena in einem wissenschaftlichen Zeitungsartikel zufällig vom Phänomen des grünen Blitzes und erfährt außerdem, dass laut einer alten Highland-Legende derjenige, der diesen einmal gesehen habe, sich in Gefühlsdingen künftig nicht mehr irren könne:

Sein Erscheinen vernichtet Illusionen und Lügen; und wer das Glück hatte, ihn einmal zu erblicken, kann in seinem eigenen Herzen und in dem der anderen lesen.

Da Onkel Sam und Onkel Sib, zwei kauzige Alte, deren symbiotische Schrulligkeit sie als mögliche Kultfiguren der Schwulenbewegung zu prädestinieren scheint, ihrer Nichte in rührender väterlicher Liebe niemals eine Bitte abzuschlagen vermögen, willigen sie ein, mit ihr sowie ihren beiden Dienern von Glasgow aus zur schottischen Ostküste aufzubrechen, um einen Ort zu suchen, dessen geographische Lage ihnen die besten Voraussetzungen für die ersehnte gemeinsame Sichtung des seltenen Phänomens bieten könnte.

Allerdings wissen es die beiden verschlagenen Onkel gleichzeitig ebenso einzurichten, dass auch der von Helena aufgrund seiner bornierten Selbstbezogenheit und tölpelhaften Ungeschicklichkeit verachtete Bewerber mit dem lächerlichen Namen Aristobulus Ursiclos am Zielort Oban wie zufällig auf die kleine, dank ihrer finanziellen Mittel bestens ausgestattete Reisegesellschaft treffen kann, um sich ihr für die nächsten Wochen mit eigenmächtiger Impertinenz anzuschließen.

Jules Verne/Porträt von Nadar


Leider erweist sich Oban als gänzlich ungeeignet, um den grünen Blitz zu beobachten, da das beliebte Seebad keine unverstellte Horizontlinie aufweist. Also geht die Reise weiter, mit prominenten Zwischenstationen auf den Inseln Seil, Iona und Staffa, wo mal ungünstiges Wetter, mal andere unvorhersehbare Umstände bewirken, dass die wackeren Ausflügler das Naturphänomen ein ums andere Mal verpassen. Allerdings vermögen sie unterwegs dank Helenas ausgeprägter Geistesgegenwart einen jungen kernigen Maler aus dem gefürchteten Mahlstrom des Corryvreckan zu retten, der sich bald als charakterlicher Antagonist und Rivale des gefühlskalten, wissenschaftsgläubig-rationalen Aristobulus Ursiclos um die Gunst der schönen Helena erweist.

Durch sein Erscheinen verstärkt sich schließlich auch der wesentliche weltanschauliche Konflikt des Buches: denn während die Gruppe um Helena von einer beseelten Welt ausgeht, die es mit wachen Sinnen, rationalem Verstand, aber auch mit einem herzensoffenen Blick für die Schönheiten der Natur aktiv zu entdecken gilt, reduziert Ursiclos dieselbe allein auf einzelne, aus einem allgemeinen Zusammenhang herausgerissene, nüchtern erklärbare Erscheinungen, die er mit wissenschaftlichen Erklärungen vollkommen entzaubert und somit endgültig gebändigt zu wissen meint.

Am nächsten Tag und in den ersten Septembertagen ward Aristobulus Ursiclos nicht mehr gesehen. [...] In jedem Fall tat er gut daran, sich nicht zu zeigen. Es war nicht mehr nur Gleichgültigkeit, es war eine Art Abneigung, die er bei dem jungen Mädchen hervorrief. Ihrem Blitz die Poesie genommen zu haben, ihren Traum zur bloßen Materie gemacht zu haben, den Schal einer Walküre in ein ordinäres optisches Phänomen verwandelt zu haben! Vielleicht hätte sie ihm alles verziehen, alles, nur das nicht.

Doch auch nachdem man sich der lästigen Gesellschaft des humorlosen Wissenschaftlers auf glückliche Weise aktiv entledigt hat, sind noch zahlreiche abenteuerliche Hürden zu überwinden, bis die kuriose Reisegruppe im herandämmernden Herbstlicht die möglicherweise letzte Chance erhält, das Phänomen des grünen Blitzes mit eigenen Augen zu betrachten. Als es dann endlich soweit ist, scheinen jedoch andere Dinge wichtiger zu sein.

Die Tränen? ..., fragte Mistress Sinclair.
... nur eine Laune sind, die den Augapfel befeuchtet, eine Mischung aus Natriumchlorid, Calciumphosphat und Sodachlorat!
In chemischer Hinsicht haben sie recht, Sir, sagte Olivier Sinclair, aber auch nur in dieser.
Diese Einschränkung verstehe ich nicht, erwiderte Aristobulus Ursiclos säuerlich.

„Der grüne Blitz“ ist in seinem angenehm-altertümlichen, weltgewandten Plauderton trotz einer in weiten Teilen durchaus vorhersehbaren Handlung eine wunderbare, erfrischende und höchst unterhaltsame Lektüre, die Dank ihres auch heute noch gültigen Grundkonflikts sowie der vom Autor ebenso reizvoll wie treffend in Szene gesetzten Naturkulisse der Hebriden und einer ganzen Reihe von typisch-Verne'schen humorvoll-überzeichneten originellen Charaktere einen reizvollen Kontrapunkt zum bisher bekannten Werk des französischen Bestsellerautors zu setzen vermag.

„Dergrüne Blitz“, aus dem Französischen von Cornelia Hasting, erschienen bei mare, 287 Seiten, € 26,-

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