Jules
Verne (1828-1905) ist bis heute eine Ausnahmeerscheinung der
Literaturgeschichte geblieben. Kein anderer Autor hat wie der überall
auf der Welt von ganzen Generationen von begeisterten Lesern
leidenschaftlich verehrte prophetische Vordenker technischen
Fortschritts und wissenshungrige Stifter des Sciencefiction-Genres
die menschliche Existenz im Spiegel der Erlebnisse seiner
Protagonisten so sehr als mit wachen Sinnen gelebtes, immerwährendes
geistiges und physisches Abenteuer inszeniert.
Diese
vom spannenden Grundcharakter seiner Romane meist gekonnt überdeckte,
höchst entschiedene optimistische Weltsicht wird
erstaunlicherweise besonders deutlich am überraschenden Beispiel
eines innerhalb seines umfangreichen Werkes kaum bekannten und für
seine Art der Literatur alles andere als typischen, unscheinbaren
kleinen Buches, des nun seit Jahrzehnten erstmals wieder greifbaren
kuriosen Liebesromans „Der grüne Blitz“ aus dem Jahr
1882, der in neuer deutscher Übersetzung soeben innerhalb der
ebenso verdienstvollen wie schmucken, stets unvorhersehbaren
Klassikerreihe des mare-Buchverlags erschienen ist.
Einziges
bescheidenes Kriterium für die bei mare erscheinenden
Bücher ist ein darin deutlich erkennbarer Bezug zum Meer oder
zur Seefahrt, der durchaus weitläufiger Natur sein kann. Diese
Vorbedingung wird in Jules Vernes sympathisch-schrulligem einzigen
Liebesroman allerdings mit zahllosen wunderbaren Beschreibungen einer
zeitgenössischen sommerlichen Dampferfahrt durch die
landschaftlich reizvolle, wilde Inselwelt der Hebriden an der
schottischen Ostküste sowie zahlreichen oft seitenlangen
Schilderungen der tobenden See aufs Leichteste wie nebenbei erfüllt.
Das
Meer hat in Wahrheit keine eigene Farbe. Es ist nur ein Spiegelbild
des Himmels! Ist es blau? Mit Blau kann man es nicht malen! Ist es
grün? Mit Grün auch nicht! Eher würde man es in seinem
Wüten erfassen, wenn es dunkel, bleigrau, bösartig ist,
wenn der Himmel sämtliche Wolken, die er darüber dräuen
lässt, zu vermengen scheint! Ach, Miss Campbell, je länger
ich ihn mir anschaue, desto überwältigender finde ich
diesen Ozean. Ozean! Dieses Wort sagt alles! [...] In seinen
unauslotbaren Tiefen erstrecken sich grenzenlose Wiesen, gegen welche
die unseren wüst und leer sind, hat Darwin gesagt.
Der
titelgebende, so genannte „grüne Blitz“, dem die in Vernes
Buch versammelte illustre Gruppe von sechs liebenswert-versnobten
schottischen Romantikern bis zum Schluss vergeblich hinterherjagt,
ist ein bereits seit altägyptischer Zeit bekanntes, äußerst
selten zu beobachtendes real existierendes Naturphänomen, das
der weit gereiste Schriftsteller und Dichter James Hamilton-Paterson
(geboren 1941) in seinem lesenswerten Nachwort ausführlich
erläutert:
Die
Atmosphäre funktioniert wie ein Prisma, welches das Sonnenlicht
in seine Spektralfarben aufspaltet, von denen jede in einem anderen
Winkel gebrochen wird. Wenn die Sonne sinkt, dringen ihre Strahlen
durch die nach unten immer dichter werdende Atmosphäre zum
Betrachter, und immer mehr Spektralfarben werden absorbiert oder
zerstreut, bis nur noch Rot und Grün übrig sind. [...]
Dieses Grün wird für das Auge erst sichtbar, wenn das Rot
nicht mehr da ist. Plötzlich zeigt sich ein grellgrüner
Fleck, und wir nehmen einen grünen Blitz wahr. Dass wir dies
nicht jedes Mal sehen, wenn die Sonne am wolkenlosen Himmel
untergeht, liegt daran, dass die atmosphärischen Bedingungen
genau richtig sein müssen. Werden die gelben und orangefarbenen
Wellenlängen des Lichts nicht gründlich genug absorbiert,
geht der Effekt verloren.
Im
Buch liest die von ihren beiden wohlhabenden, unverheirateten und in
Gefühlsdingen absolut unerfahrenen Onkeln an Eltern statt
aufgezogene und zu deren großer Freude neuerdings von einem
ihrer unzulänglichen eigenen Meinung nach in höchstem Maße
geeigneten und noch dazu standesgemäßen Bewerber bedrängte
ebenso hübsche wie selbstbewusste Helena in einem
wissenschaftlichen Zeitungsartikel zufällig vom Phänomen
des grünen Blitzes und erfährt außerdem, dass laut
einer alten Highland-Legende derjenige, der diesen einmal gesehen
habe, sich in Gefühlsdingen künftig nicht mehr irren könne:
Sein
Erscheinen vernichtet Illusionen und Lügen; und wer das Glück
hatte, ihn einmal zu erblicken, kann in seinem eigenen Herzen und in
dem der anderen lesen.
Da Onkel Sam und Onkel Sib, zwei
kauzige Alte, deren symbiotische Schrulligkeit sie als mögliche
Kultfiguren der Schwulenbewegung zu prädestinieren scheint,
ihrer Nichte in rührender väterlicher Liebe niemals eine
Bitte abzuschlagen vermögen, willigen sie ein, mit ihr sowie
ihren beiden Dienern von Glasgow aus zur schottischen Ostküste
aufzubrechen, um einen Ort zu suchen, dessen geographische Lage ihnen
die besten Voraussetzungen für die ersehnte gemeinsame Sichtung
des seltenen Phänomens bieten könnte.
Allerdings wissen es die beiden
verschlagenen Onkel gleichzeitig ebenso einzurichten, dass auch der
von Helena aufgrund seiner bornierten Selbstbezogenheit und
tölpelhaften Ungeschicklichkeit verachtete Bewerber mit dem
lächerlichen Namen Aristobulus Ursiclos am Zielort Oban wie
zufällig auf die kleine, dank ihrer finanziellen Mittel bestens
ausgestattete Reisegesellschaft treffen kann, um sich ihr für
die nächsten Wochen mit eigenmächtiger Impertinenz
anzuschließen.
Jules Verne/Porträt von Nadar |
Leider
erweist sich Oban als gänzlich ungeeignet, um den grünen
Blitz zu beobachten, da das beliebte Seebad keine unverstellte
Horizontlinie aufweist. Also geht die Reise weiter, mit prominenten
Zwischenstationen auf den Inseln Seil, Iona und Staffa, wo mal
ungünstiges Wetter, mal andere unvorhersehbare Umstände
bewirken, dass die wackeren Ausflügler das Naturphänomen
ein ums andere Mal verpassen. Allerdings vermögen sie unterwegs
dank Helenas ausgeprägter Geistesgegenwart einen jungen kernigen
Maler aus dem gefürchteten Mahlstrom des Corryvreckan zu retten,
der sich bald als charakterlicher Antagonist und Rivale des
gefühlskalten, wissenschaftsgläubig-rationalen Aristobulus
Ursiclos um die Gunst der schönen Helena erweist.
Durch
sein Erscheinen verstärkt sich schließlich auch der
wesentliche weltanschauliche Konflikt des Buches: denn während
die Gruppe um Helena von einer beseelten Welt ausgeht, die es mit
wachen Sinnen, rationalem Verstand, aber auch mit einem
herzensoffenen Blick für die Schönheiten der Natur aktiv zu
entdecken gilt, reduziert Ursiclos dieselbe allein auf einzelne, aus
einem allgemeinen Zusammenhang herausgerissene, nüchtern
erklärbare Erscheinungen, die er mit wissenschaftlichen
Erklärungen vollkommen entzaubert und somit endgültig
gebändigt zu wissen meint.
Am
nächsten Tag und in den ersten Septembertagen ward Aristobulus
Ursiclos nicht mehr gesehen. [...] In jedem Fall tat er gut daran,
sich nicht zu zeigen. Es war nicht mehr nur Gleichgültigkeit, es
war eine Art Abneigung, die er bei dem jungen Mädchen
hervorrief. Ihrem Blitz die Poesie genommen zu haben, ihren Traum zur
bloßen Materie gemacht zu haben, den Schal einer Walküre
in ein ordinäres optisches Phänomen verwandelt zu haben!
Vielleicht hätte sie ihm alles verziehen, alles, nur das nicht.
Doch
auch nachdem man sich der lästigen Gesellschaft des humorlosen
Wissenschaftlers auf glückliche Weise aktiv entledigt hat, sind
noch zahlreiche abenteuerliche Hürden zu überwinden, bis
die kuriose Reisegruppe im herandämmernden Herbstlicht die
möglicherweise letzte Chance erhält, das Phänomen des
grünen Blitzes mit eigenen Augen zu betrachten. Als es dann
endlich soweit ist, scheinen jedoch andere Dinge wichtiger zu sein.
–
Die Tränen? ..., fragte
Mistress Sinclair.
–
... nur eine Laune sind, die
den Augapfel befeuchtet, eine Mischung aus Natriumchlorid,
Calciumphosphat und Sodachlorat!
–
In chemischer Hinsicht haben
sie recht, Sir, sagte Olivier Sinclair, aber auch nur in dieser.
–
Diese Einschränkung
verstehe ich nicht, erwiderte Aristobulus Ursiclos säuerlich.
„Der
grüne Blitz“ ist in seinem angenehm-altertümlichen,
weltgewandten Plauderton trotz einer in weiten Teilen durchaus
vorhersehbaren Handlung eine wunderbare, erfrischende und höchst
unterhaltsame Lektüre, die Dank ihres auch heute noch gültigen
Grundkonflikts sowie der vom Autor ebenso reizvoll wie treffend in
Szene gesetzten Naturkulisse der Hebriden und einer ganzen Reihe von
typisch-Verne'schen humorvoll-überzeichneten originellen
Charaktere einen reizvollen Kontrapunkt zum bisher bekannten Werk des
französischen Bestsellerautors zu setzen vermag.
„Dergrüne Blitz“, aus dem Französischen von Cornelia Hasting,
erschienen bei mare, 287 Seiten, € 26,-
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