Jerusalem

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Freitag, 25. Oktober 2013

„Neuland“ von Eshkol Nevo

Die möglicherweise naheliegende, jedoch allzu bequeme Behauptung, der israelische Schriftsteller Eshkol Nevo (geboren 1971) gebe sich als einer der begabtesten und originellsten Autoren seiner Generation damit zufrieden, ebenso anspielungsreiche wie fantasievolle Beziehungsromane für Intelligente zu schreiben, wird seiner grandiosen poetischen Leistung in seinem allerneuesten, mittlerweile dritten großen Roman „Neuland“ in keiner Weise gerecht. Denn auch wenn der gebürtige Jerusalemer darin einen eher konventionellen, „natürlichen“ und somit besonders zugänglichen Erzählstil pflegt, fühlt man sich doch als Leser inhaltlich geradezu unwiderstehlich gepackt von dem Eindruck, dass dieses Buch auf geradezu magische Art und Weise von niemand anderem als einem selbst handele.



Dabei diskutiert der ehemalige Werbetexter und studierte Psychologe im Rahmen der Handlung auf ausgesprochen behutsame und einfühlsame Art und Weise nichts Geringeres als den aktuellen Zustand seines innerlich tief gespaltenen, an seinen eigenen Ansprüchen und den heterogenen politischen Erfordernissen zerbrechenden Landes sowie die seelische Verfassung seiner traumatisierten und in ihrer persönlichen individuellen Entwicklung durch den kriegerischen Alltag nachhaltig eingeschränkten Bevölkerung. Die Tatsache, dass Nevos Roman in Israel mit 150.000 verkauften Exemplaren (bei einer Gesamtbevölkerung von acht Millionen) zu einem der größten Bestseller der vergangenen Jahre avancieren konnte, scheint den versöhnlichen Ansatz des Autors zu bestätigen, eine unbequeme Wahrheit eher von innen heraus, mit Bedacht und einem empathischen Bewusstsein für die eigene Wunde zu vergegenwärtigen.

Wir hätten nach Uganda gehen sollen, fuhr er fort, oder nach Argentinien, oder einfach von Ort zu Ort weiterziehen, dann hätten wir nicht einen solchen Hass auf uns gezogen. Stattdessen haben wir auf diesem alten, schlechten Land beharrt, wo die glühende Sonne alles versengt. Ein Land, an dem die Erwartungen zu vieler Religionen hängen. Ein Land mit einer unerträglichen Akustik. Wie soll ein Klang richtig schwingen, bei so viel Spannung in der Luft?

Wie die kühne Wahl des Romantitels unterstreicht, soll „Neuland“ ausdrücklich als eine zeitgemäße Erwiderung auf Theodor Herzls utopischen Roman „Altneuland“ aus dem Jahre 1902 begriffen werden, einen der wesentlichen Quellentexte des politischen Zionismus, dessen noch im selben Jahr erschienene neuhebräische Übersetzung („Hügel des Frühlings“) sechs Jahre später der in Palästina neu gegründeten jüdischen Stadt Tel-Aviv ihren Namen verleihen sollte. Wo sich „Altneuland“ aus dem Geiste des europäischen Kolonialismus heraus allerdings als fertige Antwort versteht („Wenn ihr wollt, ist es kein Märchen“), dürfen wir Eshkol Nevos aktuelle Entgegnung eher als offene Frage verstehen, oder besser noch: als ganzen Fragenkatalog im Sinne einer Gegenrede zu einem allzu leichtfertig gegebenen, von der Realität bereits widerlegten Versprechen.



„Neuland“ ist das fesselnde literarische Dokument eines umfassenden persönlichen und politischen Aufbruchs: anknüpfend an moderne israelische Klassiker wie Abraham B. Jehoschuas „Die Rückkehr aus Indien“, beschreiten seine beiden unwiderstehlichen, lebensnah gezeichneten Protagonisten, die Radioredakteurin Inbar und der Geschichtslehrer Dori, auf der Suche nach dessen in den Weiten des südamerikanischen Kontinents verschollenem Vater, eine Art positiver Variante der Reise ins „Herz der Finsternis“, denn in der in vielerlei Hinsicht weit offenen, ebenso geheimnisvollen wie beseelten, ursprünglichen, wildwachsenden Natur Südamerikas vermögen sie schließlich einen möglichen freieren Gegenentwurf zu ihrer streng reglementierten Lebensrealität in Israel zu erkennen: hier hat selbst der Genuss von bewusstseinserweiternden Drogen eine andere, zukunftsweisende Bedeutung.

Neuland wird die Mahnung sein. Neuland wird daran erinnern, dass der Staat der Juden ein Athen werden sollte, bevor er ein Sparta wurde.

Nach dem qualvollen Krebstod seiner geliebten Frau ist der erfolgreiche Wirtschaftsberater und hochdekorierte israelische Kriegsheld Meni Peleg zum sprach- und verständnislosen Entsetzen seiner beiden erwachsenen Kinder zu einer Reise nach Südamerika aufgebrochen. Anfangs meldet er sich noch regelmäßig bei seiner Familie, doch eines Tages bleiben Nachrichten von ihm dauerhaft aus. Sein lieblos und unglücklich verheirateter Sohn Dori, begeisterter Vater eines fünfjährigen Sohnes, und seine frisch geschiedene Schwester Ze'ela beauftragen daraufhin den umtriebigen peruanischen Privatdetektiv Alfredo („Du musst unbedingt anfangen zu ficken. Man sieht deinem Körper ja an, dass du nicht richtig fickst.“) mit der Suche nach Meni, obwohl dieser eigentlich auf das Wiederfinden verschwundener Jugendlicher spezialisiert ist.

Alfredo ist nicht der Typ, der aufgibt. Er hat uns zwei Wochen lang an Orte gebracht, die in keinem Reiseführer und auch auf keiner Landkarte stehen. An einem dieser Orte haben wir zum Schluss unsern Schlomi gefunden. Völlig unterernährt. Die Ärzte sagten, wenn wir ihn, Gott behüte, eine Woche später gefunden hätten, hättte er nicht mehr gelebt. Allen, für die Nichtfinden nicht infrage kommt, empfehlen wir Alfredo aufs Wärmste. Er sieht vielleicht ein bisschen ruppig aus, aber er hat ein Riesenherz. Und das Wichtigste: er ist professionell, absolut professionell.

Zu Alfredos Unterstützung reist Dori schließlich allein nach Quito, um gemeinsam mit ihm die Spur seines Vaters aufzunehmen, dessen möglicherweise unverwechselbarstes Kennzeichen die stets von ihm überall hin mitgeschleppte orthopädische Sitzhilfe „Dr. Gav“ ist. Unterwegs begegnet Dori der Radioredakteurin Inbar, die jahrelang eine populäre psychologische Ratgebersendung im israelischen Rundfunk betreut hat, in deren Rahmen Hörer per Telefon um professionellen Rat bitten können. Der nur wenige Wochen zurückliegende dramatische Selbstmord eines Hörers hat die verzweifelt um persönlichen Halt ringende Frau innerlich auf den nie verwundenen Suizid ihres Bruders während dessen Militärdienst zurückgeworfen – was sie dazu bewog, kurzentschlossen ihren Job zu kündigen und spontan das erstbeste Flugzeug ins Ausland zu besteigen.

Eshkol Nevo/Foto: Stephan Röhl


So befinden sich unverhofft zwei seelenverwandte, nach Halt ringende, emotional disziplinierte – oder wie Alfredo sagen würde: verkrampfte Erwachsene, die mehr vom Leben erwarten als in liebloser Routine erstarrte zwischenmenschliche Beziehungen, auf einer der beliebtesten und am stärksten frequentierten touristischen Routen junger, aus dem Militärdienst entlassener Israelis.

Sind sie nicht schön, diese jungen Menschen? [...] In den ersten drei Monaten meiner Reise hab ich sie nur beobachtet. Denn bevor... bevor ich den Trank genommen habe, verlief alles ziemlich normal. [...] Zuerst habe ich mir junge Leute aus der ganzen Welt angeschaut, aber nach und nach konzentrierte ich mich auf die Israelis. Sie haben etwas ... Hypnotisierendes. So viel Energie. Und so wenig Freude. Bei jedem von ihnen habe ich gleich die Wunde gesehen. Ich habe sie mir nicht vorgestellt, ich habe sie gesehen. Die meisten wollten ihre Wunde nicht wahrhaben, aber es gab auch einige, die ihren Reisegefährten davon erzählten. Eure Generation ist da so viel offener. Und ich hab am Nebentisch gesessen und mitgehört. Habe sie einerseits bewundert, und auf der anderen Seite ... nichts verstanden. [...] Wie junge Leute dermaßen deprimiert sein können. Warum sie im Vorhinein schon die Hoffnung aufgeben, nach ihrer Rückkehr etwas verändern zu können.

Während sich Dori und Inbar auf ihrer mühseligen, unwahrscheinlichen und zahlreiche ungeahnte Wendungen nehmenden Reise durch Peru, Bolivien und Argentinien unaufhaltsam aufeinander zubewegen, erfahren wir in regelmäßigen, erzählerisch höchst überzeugend und mit großem psychologischen Einfühlungsvermögen ausgestalteten Rückblenden auch vom wechselhaften Schicksal ihrer Eltern im jungen, krisengeschüttelten Staat Israel sowie ihrer aus Europa eingewanderten Großeltern, für die der Zionismus nicht nur eine abstrakte politische Idee war, sondern vor allem auch ein ganz konkreter Ausweg aus dem Elend ihrer Herkunftsländer – und ein geeignetes, segensreiches, allerletztes Mittel, der unmittelbar bevorstehenden Schoah noch lebendig zu entkommen. So hat Eshkol Nevo seinen über sechshundert Seiten starken epochalen Roman auch namentlich dem Andenken seiner verstorbenen Großmutter gewidmet:

Wäre sie dort nicht weggegangen, wäre ich nicht hier.

Die Suche nach Meni Peleg führt Dori und Inbar schließlich nicht nur zu einer nahezu vergessenen, einstmals populären, jedoch heute verwaisten, real existierenden historischen Alternative zum Zionismus mit dem klangvollen kuriosen Namen Moises Ville, sondern am Ende ihrer Reise auch zu einem neuen hoffnungsvollen individuellen Ansatz, sich dem Strom des Lebens in Israel auf zukunftsweisende, optimistische und selbstbestimmte Art und Weise wieder neu zu stellen.

Siehst du das Meer?, fragt sie ihn schließlich.
Welches Meer?, fragt er und dreht den Kopf zu ihr.
Das Meer von Jerusalem, sagt sie und drückt leicht seine Hand, die in ihrer liegt.
Und er schaut wieder nach vorne. Erst versteht er nicht, wovon sie redet, und sieht kein Meer, nur einen Stand mit Darbukatrommeln und ein Taxi, das mit zwei Rädern auf dem Gehweg parkt –
Doch nach und nach geschieht es –
Der Abendwind weht Wellen des Exils und Wellen der Heimkehr über die Welt, Wellen des Fremdseins und Wellen der Nähe –
Die Wellen schlagen immer höher wie Druckwellen einer sehr starken Explosion, die eine nach der anderen in der Tiefe der Wüste Judäa geboren werden, auf den die Stadt umgebenden Hügeln ihren Höhepunkt erreichen und sich immer wieder zu seinen und Inbars Füßen auslaufen und dort den feinen Schaum einer Möglichkeit hinterlassen.
Dann ziehen sie sich zurück, um wieder von Neuem zu beginnen.

Eshkol Nevos unwiderstehlicher dritter Roman „Neuland“ ist nicht nur eine äußerst kluge und packende gedankliche Reise zu den historischen Quellen und Auswirkungen des politischen Zionismus, sondern auch eine wunderbare, zärtliche und poetische Liebesgeschichte der reinen Möglichkeitsform, die viel Raum für die Widersprüchlichkeiten und Unzulänglichkeiten der menschlichen Natur lässt und uns aus diesem Grund umso stärker zu packen und aufzurütteln vermag als manches politische Sachbuch. Wer wirklich am Schicksal des modernen Israel interessiert ist, kommt an der höchst angenehmen und inspirierenden Lektüre dieses Roman nicht vorbei.

„Neuland“, aus dem Hebräischen von Anne Birkenhauer, erschienen bei dtv, 638 Seiten, € 24,90

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