Die
möglicherweise naheliegende, jedoch allzu bequeme Behauptung, der
israelische Schriftsteller Eshkol Nevo (geboren 1971) gebe sich als
einer der begabtesten und originellsten Autoren seiner Generation
damit zufrieden, ebenso anspielungsreiche wie fantasievolle
Beziehungsromane für Intelligente zu schreiben, wird seiner
grandiosen poetischen Leistung in seinem allerneuesten, mittlerweile
dritten großen Roman „Neuland“ in keiner Weise gerecht. Denn
auch wenn der gebürtige Jerusalemer darin einen eher
konventionellen, „natürlichen“ und somit besonders zugänglichen
Erzählstil pflegt, fühlt man sich doch als Leser inhaltlich
geradezu unwiderstehlich gepackt von dem Eindruck, dass dieses Buch
auf geradezu magische Art und Weise von niemand anderem als einem
selbst handele.
Dabei
diskutiert der ehemalige Werbetexter und studierte Psychologe im
Rahmen der Handlung auf ausgesprochen behutsame und einfühlsame Art
und Weise nichts Geringeres als den aktuellen Zustand seines
innerlich tief gespaltenen, an seinen eigenen Ansprüchen und den
heterogenen politischen Erfordernissen zerbrechenden Landes sowie die
seelische Verfassung seiner traumatisierten und in ihrer persönlichen
individuellen Entwicklung durch den kriegerischen Alltag nachhaltig
eingeschränkten Bevölkerung. Die Tatsache, dass Nevos Roman in
Israel mit 150.000 verkauften Exemplaren (bei einer Gesamtbevölkerung
von acht Millionen) zu einem der größten Bestseller der vergangenen
Jahre avancieren konnte, scheint den versöhnlichen Ansatz des Autors
zu bestätigen, eine unbequeme Wahrheit eher von innen heraus, mit
Bedacht und einem empathischen Bewusstsein für die eigene Wunde zu
vergegenwärtigen.
Wir
hätten nach Uganda gehen sollen, fuhr er fort, oder nach
Argentinien, oder einfach von Ort zu Ort weiterziehen, dann hätten
wir nicht einen solchen Hass auf uns gezogen. Stattdessen haben wir
auf diesem alten, schlechten Land beharrt, wo die glühende Sonne
alles versengt. Ein Land, an dem die Erwartungen zu vieler Religionen
hängen. Ein Land mit einer unerträglichen Akustik. Wie soll ein
Klang richtig schwingen, bei so viel Spannung in der Luft?
Wie
die kühne Wahl des Romantitels unterstreicht, soll „Neuland“
ausdrücklich als eine zeitgemäße Erwiderung auf Theodor Herzls
utopischen Roman „Altneuland“ aus dem Jahre 1902 begriffen
werden, einen der wesentlichen Quellentexte des politischen
Zionismus, dessen noch im selben Jahr erschienene neuhebräische
Übersetzung („Hügel des Frühlings“) sechs Jahre später der in
Palästina neu gegründeten jüdischen Stadt Tel-Aviv ihren Namen
verleihen sollte. Wo sich „Altneuland“ aus dem Geiste des
europäischen Kolonialismus heraus allerdings als fertige Antwort
versteht („Wenn ihr wollt, ist es kein Märchen“), dürfen wir
Eshkol Nevos aktuelle Entgegnung eher als offene Frage verstehen,
oder besser noch: als ganzen Fragenkatalog im Sinne einer Gegenrede
zu einem allzu leichtfertig gegebenen, von der Realität bereits
widerlegten Versprechen.
„Neuland“
ist das fesselnde literarische Dokument eines umfassenden
persönlichen und politischen Aufbruchs: anknüpfend an moderne
israelische Klassiker wie Abraham B. Jehoschuas „Die Rückkehr aus
Indien“, beschreiten seine beiden unwiderstehlichen, lebensnah
gezeichneten Protagonisten, die Radioredakteurin Inbar und der
Geschichtslehrer Dori, auf der Suche nach dessen in den Weiten des
südamerikanischen Kontinents verschollenem Vater, eine Art positiver
Variante der Reise ins „Herz der Finsternis“, denn in der in
vielerlei Hinsicht weit offenen, ebenso geheimnisvollen wie
beseelten, ursprünglichen, wildwachsenden Natur Südamerikas
vermögen sie schließlich einen möglichen freieren Gegenentwurf zu
ihrer streng reglementierten Lebensrealität in Israel zu erkennen:
hier hat selbst der Genuss von bewusstseinserweiternden Drogen eine
andere, zukunftsweisende Bedeutung.
Neuland
wird die Mahnung sein. Neuland wird daran erinnern, dass der Staat
der Juden ein Athen werden sollte, bevor er ein Sparta wurde.
Nach
dem qualvollen Krebstod seiner geliebten Frau ist der erfolgreiche
Wirtschaftsberater und hochdekorierte israelische Kriegsheld Meni
Peleg zum sprach- und verständnislosen Entsetzen seiner beiden
erwachsenen Kinder zu einer Reise nach Südamerika aufgebrochen.
Anfangs meldet er sich noch regelmäßig bei seiner Familie, doch
eines Tages bleiben Nachrichten von ihm dauerhaft aus. Sein lieblos
und unglücklich verheirateter Sohn Dori, begeisterter Vater eines
fünfjährigen Sohnes, und seine frisch geschiedene Schwester Ze'ela
beauftragen daraufhin den umtriebigen peruanischen Privatdetektiv
Alfredo („Du musst unbedingt anfangen zu ficken. Man sieht deinem
Körper ja an, dass du nicht richtig fickst.“) mit der Suche nach
Meni, obwohl dieser eigentlich auf das Wiederfinden verschwundener
Jugendlicher spezialisiert ist.
Alfredo
ist nicht der Typ, der aufgibt. Er hat uns zwei Wochen lang an Orte
gebracht, die in keinem Reiseführer und auch auf keiner Landkarte
stehen. An einem dieser Orte haben wir zum Schluss unsern Schlomi
gefunden. Völlig unterernährt. Die Ärzte sagten, wenn wir ihn,
Gott behüte, eine Woche später gefunden hätten, hättte er nicht
mehr gelebt. Allen, für die Nichtfinden nicht infrage kommt,
empfehlen wir Alfredo aufs Wärmste. Er sieht vielleicht ein bisschen
ruppig aus, aber er hat ein Riesenherz. Und das Wichtigste: er ist
professionell, absolut professionell.
Zu
Alfredos Unterstützung reist Dori schließlich allein nach Quito, um
gemeinsam mit ihm die Spur seines Vaters aufzunehmen, dessen
möglicherweise unverwechselbarstes Kennzeichen die stets von ihm
überall hin mitgeschleppte orthopädische Sitzhilfe „Dr. Gav“
ist. Unterwegs begegnet Dori der Radioredakteurin Inbar, die
jahrelang eine populäre psychologische Ratgebersendung im
israelischen Rundfunk betreut hat, in deren Rahmen Hörer per Telefon
um professionellen Rat bitten können. Der nur wenige Wochen
zurückliegende dramatische Selbstmord eines Hörers hat die
verzweifelt um persönlichen Halt ringende Frau innerlich auf den nie
verwundenen Suizid ihres Bruders während dessen Militärdienst
zurückgeworfen – was sie dazu bewog, kurzentschlossen ihren Job zu
kündigen und spontan das erstbeste Flugzeug ins Ausland zu
besteigen.
Eshkol Nevo/Foto: Stephan Röhl |
So
befinden sich unverhofft zwei seelenverwandte, nach Halt ringende,
emotional disziplinierte – oder wie Alfredo sagen würde:
verkrampfte Erwachsene, die mehr vom Leben erwarten als in liebloser
Routine erstarrte zwischenmenschliche Beziehungen, auf einer der
beliebtesten und am stärksten frequentierten touristischen Routen
junger, aus dem Militärdienst entlassener Israelis.
Sind
sie nicht schön, diese jungen Menschen? [...] In den ersten drei
Monaten meiner Reise hab ich sie nur beobachtet. Denn bevor... bevor
ich den Trank genommen habe, verlief alles ziemlich normal. [...]
Zuerst habe ich mir junge Leute aus der ganzen Welt angeschaut, aber
nach und nach konzentrierte ich mich auf die Israelis. Sie haben
etwas ... Hypnotisierendes. So viel Energie. Und so wenig Freude. Bei
jedem von ihnen habe ich gleich die Wunde gesehen. Ich habe sie mir
nicht vorgestellt, ich habe sie gesehen. Die meisten wollten ihre
Wunde nicht wahrhaben, aber es gab auch einige, die ihren
Reisegefährten davon erzählten. Eure Generation ist da so viel
offener. Und ich hab am Nebentisch gesessen und mitgehört. Habe sie
einerseits bewundert, und auf der anderen Seite ... nichts
verstanden. [...] Wie junge Leute dermaßen deprimiert sein können.
Warum sie im Vorhinein schon die Hoffnung aufgeben, nach ihrer
Rückkehr etwas verändern zu können.
Während
sich Dori und Inbar auf ihrer mühseligen, unwahrscheinlichen und
zahlreiche ungeahnte Wendungen nehmenden Reise durch Peru, Bolivien
und Argentinien unaufhaltsam aufeinander zubewegen, erfahren wir in
regelmäßigen, erzählerisch höchst überzeugend und mit großem
psychologischen Einfühlungsvermögen ausgestalteten Rückblenden
auch vom wechselhaften Schicksal ihrer Eltern im jungen,
krisengeschüttelten Staat Israel sowie ihrer aus Europa
eingewanderten Großeltern, für die der Zionismus nicht nur eine
abstrakte politische Idee war, sondern vor allem auch ein ganz
konkreter Ausweg aus dem Elend ihrer Herkunftsländer – und ein
geeignetes, segensreiches, allerletztes Mittel, der unmittelbar
bevorstehenden Schoah noch lebendig zu entkommen. So hat Eshkol Nevo
seinen über sechshundert Seiten starken epochalen Roman auch
namentlich dem Andenken seiner verstorbenen Großmutter gewidmet:
Wäre
sie dort nicht weggegangen, wäre ich nicht hier.
Die
Suche nach Meni Peleg führt Dori und Inbar schließlich nicht nur zu
einer nahezu vergessenen, einstmals populären, jedoch heute
verwaisten, real existierenden historischen Alternative zum Zionismus
mit dem klangvollen kuriosen Namen Moises Ville, sondern am
Ende ihrer Reise auch zu einem neuen hoffnungsvollen individuellen
Ansatz, sich dem Strom des Lebens in Israel auf zukunftsweisende,
optimistische und selbstbestimmte Art und Weise wieder neu zu
stellen.
Siehst
du das Meer?, fragt sie ihn schließlich.
Welches
Meer?, fragt er und dreht den Kopf zu ihr.
Das
Meer von Jerusalem, sagt sie und drückt leicht seine Hand, die in
ihrer liegt.
Und
er schaut wieder nach vorne. Erst versteht er nicht, wovon sie redet,
und sieht kein Meer, nur einen Stand mit Darbukatrommeln und ein
Taxi, das mit zwei Rädern auf dem Gehweg parkt –
Doch
nach und nach geschieht es –
Der
Abendwind weht Wellen des Exils und Wellen der Heimkehr über die
Welt, Wellen des Fremdseins und Wellen der Nähe –
Die
Wellen schlagen immer höher wie Druckwellen einer sehr starken
Explosion, die eine nach der anderen in der Tiefe der Wüste Judäa
geboren werden, auf den die Stadt umgebenden Hügeln ihren Höhepunkt
erreichen und sich immer wieder zu seinen und Inbars Füßen
auslaufen und dort den feinen Schaum einer Möglichkeit hinterlassen.
Dann
ziehen sie sich zurück, um wieder von Neuem zu beginnen.
Eshkol
Nevos unwiderstehlicher dritter Roman „Neuland“ ist nicht nur
eine äußerst kluge und packende gedankliche Reise zu den
historischen Quellen und Auswirkungen des politischen Zionismus,
sondern auch eine wunderbare, zärtliche und poetische
Liebesgeschichte der reinen Möglichkeitsform, die viel Raum für die
Widersprüchlichkeiten und Unzulänglichkeiten der menschlichen Natur
lässt und uns aus diesem Grund umso stärker zu packen und
aufzurütteln vermag als manches politische Sachbuch. Wer wirklich am
Schicksal des modernen Israel interessiert ist, kommt an der höchst
angenehmen und inspirierenden Lektüre dieses Roman nicht vorbei.
Keine Kommentare:
Kommentar veröffentlichen
Hinweis: Nur ein Mitglied dieses Blogs kann Kommentare posten.