Dass
der klassische akademische Literaturbetrieb mit seinem
analytisch-rationalistischen Ansatz lückenloser
wissenschaftlicher Ausdeutbarkeit und seinem ebenso ärmlichen
wie eigennützigen Bestreben, einen letztlich nur sehr schmalen
elitären literarischen Kanon des einfachsten Konsens blindwütig
zu fördern und zu bewahren, der Herausbildung von wirklich
eigenständigen, kraftvollen, neuen künstlerischen
Persönlichkeiten nicht gerade förderlich zu sein scheint,
ist heute kaum mehr als eine beklagenswerte Binsenweisheit: Literatur
wird hierdurch nicht nur bagatellisiert, sondern auch vom
tatsächlichen Leben abgetrennt.
Dennoch
dürfen wir als neugierige Leser auf der Suche nach einer
unverfälschten Seelen-Sprache immer wieder fasziniert
beobachten, wie gerade jenseits des akademischen Lehrbetriebs und des
populären Irrtums der technischen Erlernbarkeit literarischen
Schaffens vollkommen einzigartige, kraftvolle Poeten heranwachsen,
die für die Beschreibung ihrer individuellen Lebenswirklichkeit
ganz neue, bisher ungehörte, unnachahmliche Worte, Bilder und
Formen zu finden vermögen, deren wunderbarem Reichtum wir uns
willkürlich kaum entziehen können, weil in ihnen
unwiderstehlich deutlich wird, dass die poetische Weltsicht eine ganz
eigene, allgemeingültige und -verständliche Sprache ist,
die wir auch ohne akademische Vorbildung intuitiv zu durchdringen
vermögen.
Sein Lebtag lang
Las er nichts, schrieb er
nichts.
Er fällte keinen Baum
Und schlachtete keine Kuh.
Er las nicht die New York
Times,
Und ließ auch niemals
ihren Namen fallen.
Sein Lebtag lang
Erhob er gegen niemanden die
Stimme,
Außer um zu sagen:
Bitte sehr...
In Gottes Namen, bitte sehr!
Dennoch
Hat er immer schon verloren.
Seine Lage ist hoffnungslos,
Sein Menschenrecht ein
Körnchen Salz,
Aufgelöst im Ozean.
Meine Damen und Herren,
Mein Klient weiß nichts
über seinen Feind,
Und ich versichere Ihnen,
Begegnete er dem Raumschiff
Enterprise,
Er würde der Besatzung
Spiegeleier anbieten
Und frische Milch!
Der
Schöpfer dieser entwaffnenden Verse, der palästinensische
Dichter Taha Mohammad Ali, wurde 1931 in Saffoura in Galiläa
geboren, dem antiken Sepphuris, das bis ins Zwanzigste Jahrhundert
hinein als wichtiges landwirtschaftliches Zentrum Galiläas
bekannt und für seine weitläufigen Weizenfelder, seine
Granatäpfel und Oliven berühmt war. Im israelischen
Unabhängigkeitskrieg von 1948 wurden alle seine Einwohner von
der israelischen Armee vertrieben und das Dorf anschließend dem
Erdboden gleich gemacht; heute, nach umfangreichen
Ausgrabungsarbeiten, sind dort im Rahmen eines sogenannten
„archäologischen Parks“ vor allem jüdische Überreste
aus Römischer und Byzantinischer Zeit zu besichtigen, während
die Geschichte der arabischen Kalifate und des Osmanischen Reichs
offiziell keinerlei Erwähnung findet.
Wenn sie lächelt
erscheinen in ihren Augen die Gärten der Trauer,
Wenn sie klagt, klingen in
ihrem Gurren die Trümmer der Freude.
Nach
einem Flüchtlingsjahr im Libanon siedelte sich Taha Muhammad
Alis Familie im nahe gelegenen Nazareth an, wo der literarische
Autodidakt, der lediglich eine Grundschulbildung von vier Jahren
besaß, mit seinen Söhnen einen Souvenirladen neben der
christlichen Verkündigungskirche führte, während er
sich nachts intensiv mit der klassischen arabischen sowie wie mit
moderner amerikanischer und englischer Literaur beschäftigte.
Erst
in seinem fünften Lebensjahrzehnt, Anfang der 1970er Jahre,
begann Ali erste Gedichte und Kurzgeschichten zu veröffentlichen,
hauptsächlich in seiner arabischen Muttersprache, zum Teil aber
auch in modernem Hebräisch. Obwohl in seinen unmittelbar
zugänglichen Gedichten immer auch die tausendjährige
arabische Poesie durchscheint, ist es ihm, anders als etwa seinem vor
allem als politischer Dichter und poetisches Gewissen Palästinas
wahrgenommenen, im Exil lebenden Landsmann Mahmoud Darwish
(1941-2008), gelungen, seine eigene Lyrik nahezu vollkommen von den
strengen formalen und thematischen Zwängen der arabischen
Tradition zu befreien und eine ganz eigenständige, im westlichen
Sinne moderne Dichtung zu schaffen, die auch sprachlich im
schwierigen Hier und Jetzt seiner spezifischen widersprüchlichen
Lebenswirklichkeit verwurzelt war.
Ich liebe das Leben für
das,
Was zu begreifen,
Aufzuzeichnen,
Auszusprechen,
Mir unmöglich ist.
Liebenswert sind mir die
Träume und die Welt
Bei jenem Wald aus Licht
An den Ufern der Dunkelheit
Aufgrund meiner beschämenden
Unwissenheit
Über die Richtung des
Schiffs
Und der Reise Ziel –
Liebenswert daran ist mir,
Was ich nicht anzudeuten,
Nicht aufzuzeigen wage!
*
Selbst wenn es keine Tage mehr
Mit dem berauschenden Rascheln
Des Schilfrohrs gäbe,
Keine Tage mehr
Mit der wohligen Wärme
Eines winterlichen Ofens;
Selbst wenn es keine Tage mehr
gäbe,
Mit all den Dingen, die so
liebenswert sind,
Wie ein „Hallo, wie
geht's?“,
Das von einem süßen
Lächeln begleitet wird,
Selbst dann noch
Werde ich das Leben
Tausend Todesarten vorziehen.
*
Aber
Die Tragödie meiner
Gegner
Ist,
Dass sie den Mord an mir
Voller Hast abwickeln,
Wie ein gehetzter Dieb
Sein verlogenes Gebet abspult.
Sie begreifen nicht,
Warum ich meine Seele
verschenke,
Als würde ich gefälschtes
Geld ausgeben.
Wie könnte ich aber mein
Blut verleugnen?
Jahrzehnte
Voller Freuden und Liebe,
Wie könnte ich sie
Auf dem Pfad der Liebe achtlos
verschütten?
Taha
Muhammad Alis Poesie ist ebenso persönlich wie politisch, ebenso
kämpferisch wie verletzlich, ebenso sinnlich wie konkret, ebenso
streitbar wie versöhnlich. Sie vermag die zahlreichen, scheinbar
widersprüchliche Emotionen eines mit wachen Sinnen aktiv
gelebten erwachsenen Lebens ebenso aufrichtig und glaubwürdig zu
transportieren, auch in ihrem emotionalen Gehalt, wie die komplexen
Befindlichkeiten angesichts des ungeklärten Status des
palästinensischen Volkes sowie der gesellschaftlichen
Diskriminierung der arabischen Bürger im Staate Israel.
Der
kundige Übersetzer Stefan Weidner weist in seinem ausgesprochen
informativen Nachwort besonders auf den immer wiederkehrenden Aspekt
des Verlusts innerhalb der klassischen arabischen Poesie hin – die
Trauer um die verlorenen Zelt- und Weideplätze sowie das Leiden
am unbarmherzigen Walten des Schicksals – den er bei Ali auf
kongeniale Art in die Lebenswirklichkeit der Moderne übertragen
sieht, welche das Individuum nunmehr mit aller Macht als autonomen
Herrn über sein eigenes Schicksal zu betrachten gewillt ist.
Diese
sachlich-akademische Erklärung greift allerdings angesichts der
großen Universalität der Lyrik als direkte Sprache der
Seele zu kurz: denn die Erfahrung des Verlusts ist, losgelöst
vom kollektiven Schicksal der Palästinenser, aber auch der
europäischen Juden im Nationalsozialismus oder jedes anderen
Emigranten, eben auch eine der wesentlichen universellen
individuellen Erfahrungen, deren tiefen Schmerz jeder Leser für
sich allein unmittelbar nachvollziehen kann. Aus dieser Perspektive
darf Taha Muhammad Alis Poesie ohne jede Einschränkung als eine
der bedeutendsten Dichtungen des Schmerzes im Zwanzigsten Jahrhundert
gelten – nicht zufällig greift der Lyriker in zahlreichen
Gedichten immer wieder auch ganz bewusst den vornehmlich durch das
jüdische Schicksal besetzten Begriff des Exodus auf.
Ein Bauer,
Sohn eines Bauern,
Habe ich die Arglosigkeit
einer Mutter,
Und die Gerissenheit
Eines Fischverkäufers.
Ich höre nicht auf zu
mahlen,
Solang im Hals meiner Mühle
Noch ein einziges Korn steckt.
Ich höre nicht auf zu
säen,
Solang in meinem Sack
Noch eine Handvoll
Von Korn ist.
Die
Tatsache, dass Taha Muhammad Alis unverkennbare Stimme gehört
werden kann, nicht nur in seiner Muttersprache oder in Hebräisch,
sondern auch in englischer, französischer und deutscher
Übersetzung, obwohl er Zeit seines Lebens weder zum
literarischen Establishment seines eigenen Landes noch des Staates
Israel gehörte, grenzt an ein kleines
literaturwissenschaftliches Wunder. Für uns Leser ist seine
Poesie ein echter Glücksfall, da wir darin nicht nur das
Schicksal Palästinas, sondern auch unser eigenes persönliches
Empfinden aufs Wahrhaftigste gespiegelt sehen dürfen: die Poesie
als Sprache der Seele. Taha Muhammad Ali starb am 2. Oktober 2011 als
weltweit geachteter, vollendeter Dichter in Nazareth.
„Anden Ufern der Dunkelheit – Gedichte aus Palästina“, aus dem
Arabischen und mit einem Nachwort von Stefan Weidner, erschienen als
Fischer Taschenbuch, 110 Seiten, € 9,99
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