Jerusalem

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Dienstag, 15. Oktober 2013

„An den Ufern der Dunkelheit“ von Taha Muhammad Ali

Dass der klassische akademische Literaturbetrieb mit seinem analytisch-rationalistischen Ansatz lückenloser wissenschaftlicher Ausdeutbarkeit und seinem ebenso ärmlichen wie eigennützigen Bestreben, einen letztlich nur sehr schmalen elitären literarischen Kanon des einfachsten Konsens blindwütig zu fördern und zu bewahren, der Herausbildung von wirklich eigenständigen, kraftvollen, neuen künstlerischen Persönlichkeiten nicht gerade förderlich zu sein scheint, ist heute kaum mehr als eine beklagenswerte Binsenweisheit: Literatur wird hierdurch nicht nur bagatellisiert, sondern auch vom tatsächlichen Leben abgetrennt.

Dennoch dürfen wir als neugierige Leser auf der Suche nach einer unverfälschten Seelen-Sprache immer wieder fasziniert beobachten, wie gerade jenseits des akademischen Lehrbetriebs und des populären Irrtums der technischen Erlernbarkeit literarischen Schaffens vollkommen einzigartige, kraftvolle Poeten heranwachsen, die für die Beschreibung ihrer individuellen Lebenswirklichkeit ganz neue, bisher ungehörte, unnachahmliche Worte, Bilder und Formen zu finden vermögen, deren wunderbarem Reichtum wir uns willkürlich kaum entziehen können, weil in ihnen unwiderstehlich deutlich wird, dass die poetische Weltsicht eine ganz eigene, allgemeingültige und -verständliche Sprache ist, die wir auch ohne akademische Vorbildung intuitiv zu durchdringen vermögen.

Sein Lebtag lang
Las er nichts, schrieb er nichts.
Er fällte keinen Baum
Und schlachtete keine Kuh.
Er las nicht die New York Times,
Und ließ auch niemals ihren Namen fallen.
Sein Lebtag lang
Erhob er gegen niemanden die Stimme,
Außer um zu sagen:
Bitte sehr...
In Gottes Namen, bitte sehr!

Dennoch
Hat er immer schon verloren.
Seine Lage ist hoffnungslos,
Sein Menschenrecht ein Körnchen Salz,
Aufgelöst im Ozean.

Meine Damen und Herren,
Mein Klient weiß nichts über seinen Feind,
Und ich versichere Ihnen,
Begegnete er dem Raumschiff Enterprise,
Er würde der Besatzung Spiegeleier anbieten
Und frische Milch!

Der Schöpfer dieser entwaffnenden Verse, der palästinensische Dichter Taha Mohammad Ali, wurde 1931 in Saffoura in Galiläa geboren, dem antiken Sepphuris, das bis ins Zwanzigste Jahrhundert hinein als wichtiges landwirtschaftliches Zentrum Galiläas bekannt und für seine weitläufigen Weizenfelder, seine Granatäpfel und Oliven berühmt war. Im israelischen Unabhängigkeitskrieg von 1948 wurden alle seine Einwohner von der israelischen Armee vertrieben und das Dorf anschließend dem Erdboden gleich gemacht; heute, nach umfangreichen Ausgrabungsarbeiten, sind dort im Rahmen eines sogenannten „archäologischen Parks“ vor allem jüdische Überreste aus Römischer und Byzantinischer Zeit zu besichtigen, während die Geschichte der arabischen Kalifate und des Osmanischen Reichs offiziell keinerlei Erwähnung findet.

Wenn sie lächelt erscheinen in ihren Augen die Gärten der Trauer,
Wenn sie klagt, klingen in ihrem Gurren die Trümmer der Freude.

Nach einem Flüchtlingsjahr im Libanon siedelte sich Taha Muhammad Alis Familie im nahe gelegenen Nazareth an, wo der literarische Autodidakt, der lediglich eine Grundschulbildung von vier Jahren besaß, mit seinen Söhnen einen Souvenirladen neben der christlichen Verkündigungskirche führte, während er sich nachts intensiv mit der klassischen arabischen sowie wie mit moderner amerikanischer und englischer Literaur beschäftigte.



Erst in seinem fünften Lebensjahrzehnt, Anfang der 1970er Jahre, begann Ali erste Gedichte und Kurzgeschichten zu veröffentlichen, hauptsächlich in seiner arabischen Muttersprache, zum Teil aber auch in modernem Hebräisch. Obwohl in seinen unmittelbar zugänglichen Gedichten immer auch die tausendjährige arabische Poesie durchscheint, ist es ihm, anders als etwa seinem vor allem als politischer Dichter und poetisches Gewissen Palästinas wahrgenommenen, im Exil lebenden Landsmann Mahmoud Darwish (1941-2008), gelungen, seine eigene Lyrik nahezu vollkommen von den strengen formalen und thematischen Zwängen der arabischen Tradition zu befreien und eine ganz eigenständige, im westlichen Sinne moderne Dichtung zu schaffen, die auch sprachlich im schwierigen Hier und Jetzt seiner spezifischen widersprüchlichen Lebenswirklichkeit verwurzelt war.

Ich liebe das Leben für das,
Was zu begreifen,
Aufzuzeichnen,
Auszusprechen,
Mir unmöglich ist.
Liebenswert sind mir die Träume und die Welt
Bei jenem Wald aus Licht
An den Ufern der Dunkelheit
Aufgrund meiner beschämenden Unwissenheit
Über die Richtung des Schiffs
Und der Reise Ziel –
Liebenswert daran ist mir,
Was ich nicht anzudeuten,
Nicht aufzuzeigen wage!

*

Selbst wenn es keine Tage mehr
Mit dem berauschenden Rascheln
Des Schilfrohrs gäbe,
Keine Tage mehr
Mit der wohligen Wärme
Eines winterlichen Ofens;
Selbst wenn es keine Tage mehr gäbe,
Mit all den Dingen, die so liebenswert sind,
Wie ein „Hallo, wie geht's?“,
Das von einem süßen Lächeln begleitet wird,
Selbst dann noch
Werde ich das Leben
Tausend Todesarten vorziehen.

*

Aber
Die Tragödie meiner Gegner
Ist,
Dass sie den Mord an mir
Voller Hast abwickeln,
Wie ein gehetzter Dieb
Sein verlogenes Gebet abspult.
Sie begreifen nicht,
Warum ich meine Seele verschenke,
Als würde ich gefälschtes Geld ausgeben.

Wie könnte ich aber mein Blut verleugnen?
Jahrzehnte
Voller Freuden und Liebe,
Wie könnte ich sie
Auf dem Pfad der Liebe achtlos verschütten?

Taha Muhammad Alis Poesie ist ebenso persönlich wie politisch, ebenso kämpferisch wie verletzlich, ebenso sinnlich wie konkret, ebenso streitbar wie versöhnlich. Sie vermag die zahlreichen, scheinbar widersprüchliche Emotionen eines mit wachen Sinnen aktiv gelebten erwachsenen Lebens ebenso aufrichtig und glaubwürdig zu transportieren, auch in ihrem emotionalen Gehalt, wie die komplexen Befindlichkeiten angesichts des ungeklärten Status des palästinensischen Volkes sowie der gesellschaftlichen Diskriminierung der arabischen Bürger im Staate Israel.

Der kundige Übersetzer Stefan Weidner weist in seinem ausgesprochen informativen Nachwort besonders auf den immer wiederkehrenden Aspekt des Verlusts innerhalb der klassischen arabischen Poesie hin – die Trauer um die verlorenen Zelt- und Weideplätze sowie das Leiden am unbarmherzigen Walten des Schicksals – den er bei Ali auf kongeniale Art in die Lebenswirklichkeit der Moderne übertragen sieht, welche das Individuum nunmehr mit aller Macht als autonomen Herrn über sein eigenes Schicksal zu betrachten gewillt ist.

Diese sachlich-akademische Erklärung greift allerdings angesichts der großen Universalität der Lyrik als direkte Sprache der Seele zu kurz: denn die Erfahrung des Verlusts ist, losgelöst vom kollektiven Schicksal der Palästinenser, aber auch der europäischen Juden im Nationalsozialismus oder jedes anderen Emigranten, eben auch eine der wesentlichen universellen individuellen Erfahrungen, deren tiefen Schmerz jeder Leser für sich allein unmittelbar nachvollziehen kann. Aus dieser Perspektive darf Taha Muhammad Alis Poesie ohne jede Einschränkung als eine der bedeutendsten Dichtungen des Schmerzes im Zwanzigsten Jahrhundert gelten – nicht zufällig greift der Lyriker in zahlreichen Gedichten immer wieder auch ganz bewusst den vornehmlich durch das jüdische Schicksal besetzten Begriff des Exodus auf.

Ein Bauer,
Sohn eines Bauern,
Habe ich die Arglosigkeit einer Mutter,
Und die Gerissenheit
Eines Fischverkäufers.
Ich höre nicht auf zu mahlen,
Solang im Hals meiner Mühle
Noch ein einziges Korn steckt.
Ich höre nicht auf zu säen,
Solang in meinem Sack
Noch eine Handvoll
Von Korn ist.

Die Tatsache, dass Taha Muhammad Alis unverkennbare Stimme gehört werden kann, nicht nur in seiner Muttersprache oder in Hebräisch, sondern auch in englischer, französischer und deutscher Übersetzung, obwohl er Zeit seines Lebens weder zum literarischen Establishment seines eigenen Landes noch des Staates Israel gehörte, grenzt an ein kleines literaturwissenschaftliches Wunder. Für uns Leser ist seine Poesie ein echter Glücksfall, da wir darin nicht nur das Schicksal Palästinas, sondern auch unser eigenes persönliches Empfinden aufs Wahrhaftigste gespiegelt sehen dürfen: die Poesie als Sprache der Seele. Taha Muhammad Ali starb am 2. Oktober 2011 als weltweit geachteter, vollendeter Dichter in Nazareth.

„Anden Ufern der Dunkelheit – Gedichte aus Palästina“, aus dem Arabischen und mit einem Nachwort von Stefan Weidner, erschienen als Fischer Taschenbuch, 110 Seiten, € 9,99

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