Die Geschichte der versuchten
Vernichtung des europäischen Judentums durch Nazi-Deutschland ist so
überaus vielschichtig, dass bis heute mit jeder weiteren
Neuveröffentlichung zu diesem Thema nicht nur bisher unbekannte
Details, sondern vor allem auch ganz neue persönliche Sichtweisen
unser Bewußtsein erschüttern und uns auf diese Weise
unmissverständlich vor Augen führen, dass sich diese bitterste
kollektive Erfahrung des Zwanzigsten Jahrhunderts tatsächlich aus
zahlreichen schrecklichen Einzelschicksalen zusammensetzt, welches
jedes für sich allein betrachtet schon eine weltaufrüttelnde
Tragödie und fundamentale Anklage darstellt.
Dass die traumatische Erfahrung
der Schoah mit der in manchen Fällen selbst herbeigeführten Rettung
oder aber mit der glücklichen Befreiung durch die Alliierten dennoch
nicht überwunden sein kann, sondern das Leben der Überlebenden
unwiderruflich weiterhin davon in höchstem Maße betroffen bleiben
muss, ist jedoch eine Geschichte, die die wenigsten Bücher zu diesem
Thema erzählen: zu sehr möchten wir als Leser und Zuhörer glauben,
dass mit der letztendlichen Überwindung der unmittelbaren Gefahr nun
auch sprichwörtlich „alles gut“ sei.
Und auch wenn die literarische
Auseinandersetzung für viele Betroffenen eine wirksame Hilfe sein
kann, was wir als empathische, aufgeklärte und fest an die
integrativen Mittel der modernen Psychologie glaubenden Leser ebenso
gerne glauben möchten, zeigen doch die traurigen Beispiele mancher
der tapfersten und radikalsten Chronisten des Holocaust, etwa Primo Levis (1919-1987) oder Tadeusz Borowskis (1922-1951), dass selbst die
Erinnerung an das Erlebte und Erlittene auch noch nach Jahrzehnten
scheinbarer Normalität sich als unentrinnbar und tödlich zu
erweisen vermag.
Ich
wollte nicht mehr an die Vergangenheit denken. Das gelang mir nur zum
Teil, denn nachts hatte ich schreckliche Träume der Verfolgung. Die
Stiefel der SS trampelten auf meinen Nerven rum. [...] Viele Juden
kamen zu mir und fragten, ob ich ihre Verwandten in Auschwitz gesehen
hätte. Obwohl ich die Menschen, die nach ihren Angehörigen fragten,
verstehen konnte, war das fast unerträglich. Ich konnte kaum auf die
Straße gehen, ohne dass man mich angesprochen und gefragt hätte,
denn ich trug ja die Nummer des KZ Auschwitz auf meinem linken Arm.
Wenn man die soeben erstmals
erschienenen Memoiren der im hohen Alter von Achtundachtzig immer
noch beeindruckend-vitalen Auschwitz-Überlebenden Esther Bejarano
liest, als Lead-Sängerin der multikulturell besetzten Kölner
Microhone Mafia das vermutlich älteste noch
aktiv-musizierende Mitglied einer Rap-Band in Deutschland, oder aber
sich das ebenso informative wie bewegende Filmporträt des
italienischen Fernsehens auf der diesem Buch beiligenden
verdienstvollen 45minütigen DVD anschaut, kann man nicht anders als
beeindruckt zu konstatieren, dass die Lebensleistung der
sympathischen Wahlhamburgerin, die auch als Vorsitzende des deutschen
Auschwitz-Kommitees bis heute politisch ungebrochen-aktiv ist, einem
„Happy End“ so nahe kommt, wie man sich es sich unter den
gegebenen Bedingungen als Außenstehender nur vorstellen kann.
Dabei ist Esther Bejarano Zeit
ihres Lebens immer und gegen alle äußeren Widerstände entschieden
ihren eigenen, auch nach 1945 oftmals unbequemen Weg gegangen und
kann dennoch heute mit größter innerer Überzeugung von sich selbst
behaupten, sie habe eben Glück gehabt: Glück vor allem, nach einer
trotz der beginnenden Diskriminierung und Verfolgung durch die
Nationalsozialisten noch weitgehend unbeschwerten und liebevollen
Kindheit in Saarbrücken und Ulm, beim improvisierten Vorspiel für
das Mädchenorchester in Auschwitz, wohin sie nach zwei Jahren
Zwangsarbeit im brandenburgischen Neuendorf deportiert worden war,
auf dem ihr unbekannten Musikinstrument Akkordeon intuitiv die
richtigen Töne getroffen zu haben.
Ich
habe viel Glück in meinem Leben gehabt, ein ganz großes Glück, ein
unheimliches Glück.
Als innerhalb des Lagers
privilegiertes Mitglied dieses international besetzten Orchesters,
das üblicherweise morgens und abends am Lagertor spielen musste, um
den Ein- und Auszug der zur „Vernichtung durch Arbeit“ verdammten
Häftlinge mit Marschmusik zu begleiten, konnte sie der
unaussprechliche Hölle von Auschwitz für über sechs Monate die
Stirn bieten, wobei ihr ausgerechnet der als wollüstiger Sadist und
eiskalter Mörder berüchtigte Hauptscharführer und Leiter der
Krematorien Otto Moll als unwahrscheinlicher „Schutzteufel“
mehrere Male aktiv das Leben rettete. Und wieder hatte sie „Glück“:
Beim
morgendlichen Appell wurde folgende Bekanntmachung vorgetragen:
„Jeder, der arisches Blut in seinen Adern hat, soll sich bei den
Blockältesten melden.“ Nach reichlicher Prüfung der Angaben
würden diejenigen, die akzeptiert würden, in ein anderes Lager
kommen, das kein Vernichtungslager sei. [...] Nach reiflicher
Überlegung kamen wir zum Entschluss, dass ich mich [als sogenannte
„Vierteljüdin“] erstmal melde. Meine Freundinnen meinten, ich
hätte geradezu die Pflicht zu versuchen, aus Auschwitz rauszukommen,
damit ich später den Menschen erzählen könnte, was für
schreckliche Verbrechen an uns begangen wurden.
Nach ihrer auf diese Weise
verursachten Verlegung ins KZ Ravensbrück konnte sie sich für eine
der begehrten Tätigkeiten innerhalb der angegliederten Siemens-Werke
qualifizieren. Auf einem der berüchtigten Todesmärsche zur
Liquidierung des Lagers konnte sie unmittelbar vor Kriegsende
gemeinsam mit sechs Kameradinnen vom Wachpersonal unbehelligt in den
Wald fliehen, nachdem sie aus einem von ihr heimlich belauschten
Gespräch zweier SS-Leute erfahren hatte, dass der strenge
Schießbefehl aufgehoben worden sei.
Nach der Befreiung Deutschlands
wanderte Esther Bejarano nach Palästina aus, worauf sie sich schon
vor Kriegsausbruch intensiv vorbereitet hatte. Nach schwierigen
Anfangsjahren und der Teilnahme am Unabhängigkeitskrieg als Mitglied
der Unterhaltungstruppe heiratete Esther ihre große Liebe, den im
Jischuv geborenen Nissim Bejarano, und erarbeitete sich über einen
Zeitraum von zehn Jahren mit viel Fleiß eine bescheidene Existenz
als freiberufliche Musiklehrerin, bis sie im Jahr 1960 endlich als
ordentliche Lehrkraft in das neu eröffnete Konservatorium von B'er
Sheva aufgenommen wurde.
Es
gibt Leute, die sagen, nach Auschwitz kann man keine Musik mehr
spielen und komponieren, keine Bilder mehr malen, keine Gedichte mehr
schreiebn. Das stimmt alles nicht. Im Gegenteil, man muss Musik
machen, und ich bin so froh, dass ich heute solche Musik machen kann,
die uns hilft, zu erinnern und nachzudenken. [...] Das ist meine
Devise, nur so kann ich weiter leben und überwinden, was ich in der
Vergangenheit erlebt habe.
Im selben Jahr allerdings kehrte
die Familie Bejarano mit ihren beiden Kindern auf dringenden Wunsch
von Nissim und gegen Esthers Bedenken in die Bundesrepublik
Deutschland zurück: der aufgrund der jahrelangen kriegerischen
Auseinandersetzungen Israels mit den unmittelbaren Nachbarstaaten und
angesichts der andauernden Diskriminierung der Palästinenser
mittlerweile überzeugte Pazifist wollte nicht länger innerhalb
massiver kriegerischer Auseinandersetzungen auf der Seite des
Aggressors kämpfen müssen – eine Haltung, die wir in diesem
gesellschaftlichen Umfeld selbst aus heutiger Sicht noch als in
höchstem Maße visionär und mutig anerkennen müssen.
Im
Jahre 1956 begann der Sinaikrieg. Nissim wurde eingezogen. [...] Er
kam mit dem festen Entschluss von der Front zurück, nie wieder in
den Krieg zu gehen, nie wieder zu kämpfen. Das war kein
Verteidigungskrieg mehr, das wollte er nicht mehr mitmachen. [...] Es
gab heute wie damals keine Kriegsdienstverweigerung. Wenn er sich
geweigert hätte, in die Armee zu gehen, wenn er nicht mitgekämpft
hätte, wäre er im Knast gelandet.
Der Neuanfang in Hamburg war
schwer und gleicht dem Leben der zahlreichen Gastarbeiter aus Ländern
wie Italien, Griechenland und der Türkei: Nissim arbeitete zunächst
in einer Hähnchenbraterei auf der Reeperbahn, Esther in einer
Wäscherei. 1969 konnte Esther eine kleine Boutique eröffnen, mit
der sie wenige Jahre später an einen attraktiveren Standort umzog,
während ihr Mann als Feinmechaniker arbeitete. In diese Jahre der
persönlichen Konsolidierung, die zeitlich mit dem Auszug der
mittlerweile erwachsenen Kinder zusammenfällt, begann auch ihr
politisches Engagement gegen Rechts, das sie bis heute vor allem auch
mit musikalischen Mitteln betreibt, zunächst mit jiddischen Liedern
und der Band Coincidence (gemeinsam mit ihren Kindern Joram
und Edna), seit 2009 als Mitglied der Kölner Microphone Mafia.
Was an Esther Bejaranos
Erinnerungen unwillkürlich begeistert, ist ihr ureigener, ganz
persönlicher Erzählton, eine mitreißende, sympathische Mischung
aus leidgeprüfter, welterfahrener Bescheidenheit, ungebrochener
Lebenslust, scharfem Verstand und klarer Urteilskraft, mit deren
Hilfe sie stets die eigene Dankbarkeit über das Wunder ihres
Überlebens bekräftigt und die persönliche Freude an den einfachen
Dingen des Lebens glaubwürdig zu feiern vermag. Mitunter bedient sie
sich eines distanziert-chronistischen Untertons, der auf den ersten
Blick sachlich wirkt, in Wahrheit aber nur die glücklichen Umstände
ihres beeindruckenden Lebenswegs unterstreicht.
Fast ebenso informativ jedoch ist
der zweite Teil des Buches, der im wesentlichen aus den von der
italienischen Journalistin und verdienstvollen Hauptinitiatorin des
Buches, Antonella Romeo, zusammengetragenen sowie ausführlich
kommentierten und gründlich nach Themenkreisen geordneten
Redebeiträgen Esther Bajaranos aus dem beiliegenden DVD-Filmporträt
besteht. In deren entschieden politischer Weltsicht und warmherziger
Mitmenschlichkeit, wie sie aus ihren hier aufgezeichneten eigenen
Worten und Taten deutlich wird, vermögen wir als nachhaltig
beeindruckte Leser einen durch und durch geglückten Lebensweg zu
erkennen, dem man nur den tiefsten Respekt zollen kann.
„Erinnerungen“, mit einem
Grußwort von Kultursenatorin Barbara Kisseler sowie Nachworten von
Peggy Parnass und Bruno Maida, erschienen im Laika Verlag, 208
Seiten, DVD 45 min., € 21,-
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