Jerusalem

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Mittwoch, 9. Oktober 2013

"Erinnerungen" von Esther Bejarano


Die Geschichte der versuchten Vernichtung des europäischen Judentums durch Nazi-Deutschland ist so überaus vielschichtig, dass bis heute mit jeder weiteren Neuveröffentlichung zu diesem Thema nicht nur bisher unbekannte Details, sondern vor allem auch ganz neue persönliche Sichtweisen unser Bewußtsein erschüttern und uns auf diese Weise unmissverständlich vor Augen führen, dass sich diese bitterste kollektive Erfahrung des Zwanzigsten Jahrhunderts tatsächlich aus zahlreichen schrecklichen Einzelschicksalen zusammensetzt, welches jedes für sich allein betrachtet schon eine weltaufrüttelnde Tragödie und fundamentale Anklage darstellt.

Dass die traumatische Erfahrung der Schoah mit der in manchen Fällen selbst herbeigeführten Rettung oder aber mit der glücklichen Befreiung durch die Alliierten dennoch nicht überwunden sein kann, sondern das Leben der Überlebenden unwiderruflich weiterhin davon in höchstem Maße betroffen bleiben muss, ist jedoch eine Geschichte, die die wenigsten Bücher zu diesem Thema erzählen: zu sehr möchten wir als Leser und Zuhörer glauben, dass mit der letztendlichen Überwindung der unmittelbaren Gefahr nun auch sprichwörtlich „alles gut“ sei.

Und auch wenn die literarische Auseinandersetzung für viele Betroffenen eine wirksame Hilfe sein kann, was wir als empathische, aufgeklärte und fest an die integrativen Mittel der modernen Psychologie glaubenden Leser ebenso gerne glauben möchten, zeigen doch die traurigen Beispiele mancher der tapfersten und radikalsten Chronisten des Holocaust, etwa Primo Levis (1919-1987) oder Tadeusz Borowskis (1922-1951), dass selbst die Erinnerung an das Erlebte und Erlittene auch noch nach Jahrzehnten scheinbarer Normalität sich als unentrinnbar und tödlich zu erweisen vermag.

Ich wollte nicht mehr an die Vergangenheit denken. Das gelang mir nur zum Teil, denn nachts hatte ich schreckliche Träume der Verfolgung. Die Stiefel der SS trampelten auf meinen Nerven rum. [...] Viele Juden kamen zu mir und fragten, ob ich ihre Verwandten in Auschwitz gesehen hätte. Obwohl ich die Menschen, die nach ihren Angehörigen fragten, verstehen konnte, war das fast unerträglich. Ich konnte kaum auf die Straße gehen, ohne dass man mich angesprochen und gefragt hätte, denn ich trug ja die Nummer des KZ Auschwitz auf meinem linken Arm.

Wenn man die soeben erstmals erschienenen Memoiren der im hohen Alter von Achtundachtzig immer noch beeindruckend-vitalen Auschwitz-Überlebenden Esther Bejarano liest, als Lead-Sängerin der multikulturell besetzten Kölner Microhone Mafia das vermutlich älteste noch aktiv-musizierende Mitglied einer Rap-Band in Deutschland, oder aber sich das ebenso informative wie bewegende Filmporträt des italienischen Fernsehens auf der diesem Buch beiligenden verdienstvollen 45minütigen DVD anschaut, kann man nicht anders als beeindruckt zu konstatieren, dass die Lebensleistung der sympathischen Wahlhamburgerin, die auch als Vorsitzende des deutschen Auschwitz-Kommitees bis heute politisch ungebrochen-aktiv ist, einem „Happy End“ so nahe kommt, wie man sich es sich unter den gegebenen Bedingungen als Außenstehender nur vorstellen kann.



Dabei ist Esther Bejarano Zeit ihres Lebens immer und gegen alle äußeren Widerstände entschieden ihren eigenen, auch nach 1945 oftmals unbequemen Weg gegangen und kann dennoch heute mit größter innerer Überzeugung von sich selbst behaupten, sie habe eben Glück gehabt: Glück vor allem, nach einer trotz der beginnenden Diskriminierung und Verfolgung durch die Nationalsozialisten noch weitgehend unbeschwerten und liebevollen Kindheit in Saarbrücken und Ulm, beim improvisierten Vorspiel für das Mädchenorchester in Auschwitz, wohin sie nach zwei Jahren Zwangsarbeit im brandenburgischen Neuendorf deportiert worden war, auf dem ihr unbekannten Musikinstrument Akkordeon intuitiv die richtigen Töne getroffen zu haben.

Ich habe viel Glück in meinem Leben gehabt, ein ganz großes Glück, ein unheimliches Glück.

Als innerhalb des Lagers privilegiertes Mitglied dieses international besetzten Orchesters, das üblicherweise morgens und abends am Lagertor spielen musste, um den Ein- und Auszug der zur „Vernichtung durch Arbeit“ verdammten Häftlinge mit Marschmusik zu begleiten, konnte sie der unaussprechliche Hölle von Auschwitz für über sechs Monate die Stirn bieten, wobei ihr ausgerechnet der als wollüstiger Sadist und eiskalter Mörder berüchtigte Hauptscharführer und Leiter der Krematorien Otto Moll als unwahrscheinlicher „Schutzteufel“ mehrere Male aktiv das Leben rettete. Und wieder hatte sie „Glück“:

Beim morgendlichen Appell wurde folgende Bekanntmachung vorgetragen: „Jeder, der arisches Blut in seinen Adern hat, soll sich bei den Blockältesten melden.“ Nach reichlicher Prüfung der Angaben würden diejenigen, die akzeptiert würden, in ein anderes Lager kommen, das kein Vernichtungslager sei. [...] Nach reiflicher Überlegung kamen wir zum Entschluss, dass ich mich [als sogenannte „Vierteljüdin“] erstmal melde. Meine Freundinnen meinten, ich hätte geradezu die Pflicht zu versuchen, aus Auschwitz rauszukommen, damit ich später den Menschen erzählen könnte, was für schreckliche Verbrechen an uns begangen wurden.

Nach ihrer auf diese Weise verursachten Verlegung ins KZ Ravensbrück konnte sie sich für eine der begehrten Tätigkeiten innerhalb der angegliederten Siemens-Werke qualifizieren. Auf einem der berüchtigten Todesmärsche zur Liquidierung des Lagers konnte sie unmittelbar vor Kriegsende gemeinsam mit sechs Kameradinnen vom Wachpersonal unbehelligt in den Wald fliehen, nachdem sie aus einem von ihr heimlich belauschten Gespräch zweier SS-Leute erfahren hatte, dass der strenge Schießbefehl aufgehoben worden sei.

Nach der Befreiung Deutschlands wanderte Esther Bejarano nach Palästina aus, worauf sie sich schon vor Kriegsausbruch intensiv vorbereitet hatte. Nach schwierigen Anfangsjahren und der Teilnahme am Unabhängigkeitskrieg als Mitglied der Unterhaltungstruppe heiratete Esther ihre große Liebe, den im Jischuv geborenen Nissim Bejarano, und erarbeitete sich über einen Zeitraum von zehn Jahren mit viel Fleiß eine bescheidene Existenz als freiberufliche Musiklehrerin, bis sie im Jahr 1960 endlich als ordentliche Lehrkraft in das neu eröffnete Konservatorium von B'er Sheva aufgenommen wurde.

Es gibt Leute, die sagen, nach Auschwitz kann man keine Musik mehr spielen und komponieren, keine Bilder mehr malen, keine Gedichte mehr schreiebn. Das stimmt alles nicht. Im Gegenteil, man muss Musik machen, und ich bin so froh, dass ich heute solche Musik machen kann, die uns hilft, zu erinnern und nachzudenken. [...] Das ist meine Devise, nur so kann ich weiter leben und überwinden, was ich in der Vergangenheit erlebt habe.

Im selben Jahr allerdings kehrte die Familie Bejarano mit ihren beiden Kindern auf dringenden Wunsch von Nissim und gegen Esthers Bedenken in die Bundesrepublik Deutschland zurück: der aufgrund der jahrelangen kriegerischen Auseinandersetzungen Israels mit den unmittelbaren Nachbarstaaten und angesichts der andauernden Diskriminierung der Palästinenser mittlerweile überzeugte Pazifist wollte nicht länger innerhalb massiver kriegerischer Auseinandersetzungen auf der Seite des Aggressors kämpfen müssen – eine Haltung, die wir in diesem gesellschaftlichen Umfeld selbst aus heutiger Sicht noch als in höchstem Maße visionär und mutig anerkennen müssen.

Im Jahre 1956 begann der Sinaikrieg. Nissim wurde eingezogen. [...] Er kam mit dem festen Entschluss von der Front zurück, nie wieder in den Krieg zu gehen, nie wieder zu kämpfen. Das war kein Verteidigungskrieg mehr, das wollte er nicht mehr mitmachen. [...] Es gab heute wie damals keine Kriegsdienstverweigerung. Wenn er sich geweigert hätte, in die Armee zu gehen, wenn er nicht mitgekämpft hätte, wäre er im Knast gelandet.

Der Neuanfang in Hamburg war schwer und gleicht dem Leben der zahlreichen Gastarbeiter aus Ländern wie Italien, Griechenland und der Türkei: Nissim arbeitete zunächst in einer Hähnchenbraterei auf der Reeperbahn, Esther in einer Wäscherei. 1969 konnte Esther eine kleine Boutique eröffnen, mit der sie wenige Jahre später an einen attraktiveren Standort umzog, während ihr Mann als Feinmechaniker arbeitete. In diese Jahre der persönlichen Konsolidierung, die zeitlich mit dem Auszug der mittlerweile erwachsenen Kinder zusammenfällt, begann auch ihr politisches Engagement gegen Rechts, das sie bis heute vor allem auch mit musikalischen Mitteln betreibt, zunächst mit jiddischen Liedern und der Band Coincidence (gemeinsam mit ihren Kindern Joram und Edna), seit 2009 als Mitglied der Kölner Microphone Mafia.



Was an Esther Bejaranos Erinnerungen unwillkürlich begeistert, ist ihr ureigener, ganz persönlicher Erzählton, eine mitreißende, sympathische Mischung aus leidgeprüfter, welterfahrener Bescheidenheit, ungebrochener Lebenslust, scharfem Verstand und klarer Urteilskraft, mit deren Hilfe sie stets die eigene Dankbarkeit über das Wunder ihres Überlebens bekräftigt und die persönliche Freude an den einfachen Dingen des Lebens glaubwürdig zu feiern vermag. Mitunter bedient sie sich eines distanziert-chronistischen Untertons, der auf den ersten Blick sachlich wirkt, in Wahrheit aber nur die glücklichen Umstände ihres beeindruckenden Lebenswegs unterstreicht.

Fast ebenso informativ jedoch ist der zweite Teil des Buches, der im wesentlichen aus den von der italienischen Journalistin und verdienstvollen Hauptinitiatorin des Buches, Antonella Romeo, zusammengetragenen sowie ausführlich kommentierten und gründlich nach Themenkreisen geordneten Redebeiträgen Esther Bajaranos aus dem beiliegenden DVD-Filmporträt besteht. In deren entschieden politischer Weltsicht und warmherziger Mitmenschlichkeit, wie sie aus ihren hier aufgezeichneten eigenen Worten und Taten deutlich wird, vermögen wir als nachhaltig beeindruckte Leser einen durch und durch geglückten Lebensweg zu erkennen, dem man nur den tiefsten Respekt zollen kann.

„Erinnerungen“, mit einem Grußwort von Kultursenatorin Barbara Kisseler sowie Nachworten von Peggy Parnass und Bruno Maida, erschienen im Laika Verlag, 208 Seiten, DVD 45 min., € 21,-

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