Jerusalem

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Dienstag, 24. September 2013

„Der Fluch der falschen Frage“ von Lemony Snicket

Der erste Band der neuen Buchreihe „Meine rätselhaften Lehrjahre“ des fiktiven Erzählers Lemony Snicket ist ein schmales Büchlein von gerade einmal 221 Seiten. Auf der Rückseite des vom kanadischen Comic-Künstlers Seth elegant dreifarbig gestalteten Umschlags ist ein Auschnitt aus einer überschwänglichen Rezension anlässlich des Erscheinens der amerikanischen Originalausgabe im renommierten Boston Globe abgedruckt, die besagt man müsse dieses Buch unbedingt zweimal lesen: „Das erste Mal für die Lacher und das zweite Mal, um die Spur zu verfolgen.

Diese Diagnose ist indes absolut korrekt, denn es gibt kaum einen anderen zeitgenössischen Schriftsteller, der es so geistreich versteht, falsche literarische Spuren für seine Leser auszulegen wie Daniel Handler (geboren 1970), der unter seinem bewährten Pseudonym Lemony Snicket bereits den großen internationalen Erfolg seiner ersten, zwischen 1999 und 2006 erschienenen dreizehnteiligen Kinderbuchreihe „Eine Reihe betrüblicher Ereignisse“ verantwortete, deren ersten drei Teile bereits im Jahr 2004 mit Jim Carrey eindrucksvoll für Hollywood verfimt wurden.



Schon diese erste Buchreihe um die drei ausdrücklich „bemitleidenswerten“, von ihrem raffgierigen Onkel, Graf Olaf, verfolgten steinreichen Baudelaire-Waisen erfreute sich besonders bei Erwachsenen großer Beliebtheit, weil Handler es darin virtuos verstand, ein surrealistisch-dunkles viktorianisches Setting mit ironisch-sarkastischem Humor und einer überbordenden kindlichen Fantasie zu mitreißend-skurrilen Geschichten zu verarbeiten, in denen er stets besonders pointierte, sprachlich wie philosophisch funkelnd-schöne Formulierungen für die verschiedensten Denkwürdigkeiten des menschlichen Alltags fand, wie sie im deutschen Sprachraum in dieser Dichte nur Wolf Haas zu schaffen vermag.

Ich folgte Theodora die Auffahrt entlang und eine lange Ziegeltreppe hinauf zur Eingangstür, wo sie sechsmal hintereinander Sturm klingelte. Alles sagte mir, dass das falsch war – dass wir am falschen Ort vor der falschen Tür standen. Aber das half mir nichts. Zu wissen, dass etwas falsch ist, ohne dass das etwas hilft, ist eine Erfahrung, die man im Leben häufig macht, und ich bezweifle, dass ich je wissen werde, warum.

Diese weise, bei gewöhnlichen Menschen sich erst am Ende eines langen, erfüllten Lebens einstellende Erkenntnis aus dem zweiten Kapitel seines neuen Buchs „Der Fluch der falschen Frage: Meine rätselhaften Lehrjahre, Teil 1“, welches den gelungenen Auftakt zur ebenfalls auf mehrere, bisher noch nicht exakt bezifferte Teile angelegten Vorgeschichte des Werdegangs von Lemony Snicket in einer obskuren kafkaesken Geheimorganisation namens V.F.D. erzählt, ist exemplarisch für ein schwer zu fassendes, von großer Originalität geprägtes Werk, das die komplexe, in vielerlei Hinsicht bereits vollendete, geradlinig-authentische kindliche Persönlichkeit auf eine Art und Weise feiert, wie es selbst im Bereich der pädagogischen oder kinderpsychologischen Fachliteratur nur ganz selten vorkommt.

Daniel Handler


Die Tatsache, dass Daniel Handlers Werke für den durchschnittlichen deutschen Spießbürger aufgrund des darin transportierten hellwachen, anarchischen Humors als probate zeitgemäße Weltanschauung und ihrer aus Kinder(alb)träumen sowie intuitiv zu unserer Seele sprechenden Märchen gespeisten dunklen Grundatmosphäre schwer einzuordnen sind, hat bisher leider einen angemessenen kommerziellen Erfolg im deutschen Sprachraum vnachhaltig erhindert. Dabei spricht der Autor auf wunderbare und versöhnliche Art und Weise in besonderem Maße auch das verdrängte oder beiseite geschobene Kind im erwachsenen Leser an.

Die Landkarte ist nicht das Gelände.“
Was soll das heißen?“
Das ist ein Erwachsenenausdruck für den Schlamassel, in dem wir stecken.“
Erwachsene erzählen Kindern nie irgendwas.“
Kinder Erwachsenen aber auch nicht“, sagte ich. „Die Kinder und die Erwachsenen dieser Welt sitzen in getrennten Booten und begegnen sich nur, wenn entweder wir wollen, dass sie uns mit dem Auto irgendwo hinfahren, oder wenn sie wollen, dass wir uns die Hände waschen.“

Am Anfang des Buches sitzt der zwölfjährige Erzähler Lemony Snicket nach Abschluss seiner theoretischen Grundausbildung mit seinen beiden Eltern vor einer giftig-dampfenden Teetasse in Schierlings Schreibwaren und Café gegenüber des Hauptbahnhofs einer namenlosen Großstadt, als eine Frau mit einer wilden, wallenden Haarmähne das heruntergekommene Etablissement betritt, schnell eine Postkarte kauft und, bevor sie den merkwürdigen Laden eilig wieder verlässt, dem angehenden Praktikanten im Vorübergehen heimlich einen Zettel mit einer geheimen Botschaft zusteckt:

KLETTER AUS DEM KLOFENSTER UND KOMM IN DIE
GASSE HINTER DEM LADEN. ICH WARTE IN DEM
GRÜNEN ROADSTER. DU HAST FÜNF MINUTEN.
S.

Roadster“, das wusste ich, war ein hochgestochenes Wort für Auto, und ich fragte mich unwillkürlich, welcher normale Mensch sich die Mühe machte, „Roadster“ zu schreiben, wenn das Wort „Auto“ vollkommen ausreichte. Ich fragte mich auch, welcher normale Mensch eine Geheimbotschaft signierte, und sei es nur mit einem S. Eine Geheimbotschaft war geheim. Wozu also die Unterschrift?

Die geheimnisvolle Frau erweist sich nach geglückter Flucht als zukünftige, selbstgewählte Mentorin des Erzählers, die angeblichen Eltern als hinterhältige, heimtückische Unbekannte und der Tee als mit dem starken Opiat Laudanum versetztes Betäubungsgetränk.

Wenn ich meinen Tee getrunken hätte, wäre ich nicht in dem Roadster gelandet, und wenn ich nicht in dem Roadster gelandet wäre, dann wäre ich auch nie im falschen Baum gelandet oder im falschen Keller, dann hätte ich nie die falsche Bibliothek zerstört oder all die anderen falschen Antworten auf die falschen Fragen gefunden, die ich stellte. S. Theodora Markson hatte recht. Es gab niemanden hier, der mich an die Hand nahm.

Schon bald verschlägt es die beiden ungleichen Partner in eine fast gänzlich entvölkerte Stadt namens Schwarz-aus-dem-Meer, eine der schäumenden See durch Trockenlegung abgerungene armselige Enklave, deren ehemaliger Reichtum, die ganzen Kolonien von Tintenfischen mittels bizarrer spritzenartiger Maschinen industriell entfernte schwärzeste Tinte der Welt, längst versiegt ist. Hier sollen sie im Auftrag einer merkwürdigen alten Dame einen angeblich gestohlenen Gegenstand wiederbeschaffen, deren Wert laut Klientin auf eine „mehr als astronomische Summe“ geschätzt werde: eine abgrundtief hässliche Statuette der sogenannten Bordunbestie, einem furchterregenden Fabelwesen aus dem lokalen Sagenkreis.

"Lemony Snicket"


Das sich aus diesen Zutaten entspinnende köstlich-geniale Verwirrspiel, das von zahlreichen gelungenen Wort-Definitionen, einem konsequent durchexerzierten Running-Gag um den Namen S. Theodora Markson („Wofür steht das S?“), einer ganzen Reihe falscher Fragen, deren wichtigste „Wer kann das so spät noch sein?“ den englischen Originaltitel zitierend auf dem Rückumschlag abgedruckt ist, sowie zahllosen unvergesslich-skurrilen Charakteren mit bemerkenswerten Namen befeuert wird, die die jüdisch-deutsche Herkunft des Autors ebenso offenbaren wie seine umfangreiche klassische literarische Bildung, hinterlässt uns bis zum Ende geradezu atemlos amüsiert.

Die Motten umflatterten ein kleines Schild mit dem Aufdruck: DASHIELL QWERTZ, UNTER-BIBLIOTHEKAR. Er war jünger, als ich mir Bibliothekare im Allgemeinen vorstelle, zu jung, um der Vater von irgendwem zu sein, den ich kannte, und seine Frisur sah aus, als hätte er die Scherenattacke eines Geisteskranken überlebt.

Dass die Auflösung schließlich weniger spektakulär ausfällt als man möglicherweise erwarten möchte und viele unerwartete Pointen noch für die nächsten, sehnlichst erwarteten und hoffentlich bald folgenden Abenteuer offen lässt, unterstützt nur die bereits am Anfang gelernte Lektion – denn das „ist eine Erfahrung, die man im Leben häufig macht“. Es bleibt dennoch vollkommen unerlässlich, das Buch gleich nach Abschluss der Lektüre ein zweites Mal zu lesen, denn die Art und Weise wie Daniel Handler uns ein ums andere Mal an der Nase herumführt, ohne etwas Wesentliches zu verschweigen, ist einfach unnachahmlich.

Dabei kommt Handler allerdings in besonderem Maße die höchst signifikante Tatsache zugute, dass Kinder noch ganz anders, vor allem viel aufmerksamer und umfassender zu beobachten und zu formulieren vermögen als Erwachsene. Aus dieser vom Autor offenbar tief verinnerlichten Grundpannung bezieht „Der Fluch der falschen Frage“ einen großen Teil seiner wunderbaren, geistreich-witzigen Energie.

Lemony Snicket“, sagte ich und überreichte ihr einen Umschlag, der in meiner Tasche gesteckt hatte. Darin befand sich mein sogenanntes Empfehlungsschreiben – ein paar wenige Zeilen, die mich als einen herausragenden Leser, einen guten Koch, einen mittelmäßigen Musiker und einen miserablen Zänker auswiesen. Mir war verboten worden, mein Empfehlungsschreiben zu lesen, und ich hatte ziemlich lange gebraucht, um die Klebelasche zu lösen und neu zu versiegeln.

Das Buch ist vom vielfach ausgezeichneten Comic-Künstler Seth in einer kongenialen, dem Geist des Bandes absolut gerecht werdenden, hintergründig-ironischen Bildsprache durchgängig zweifarbig illustriert worden, was perfekt zum Charakter des Romans als immer wieder lesbares Lieblingsbuch passt, in dem man jedes Mal neue Details zu entdecken vermag. Eine schöne Idee, denn dadurch wird die Nähe zum nahe verwandten Genre des ambitionierten Comics oder der Graphic Novel besonders deutlich. Daniel Handler aber ist ein Genie, dem mit dem Auftakt zu seiner neuen Buchreihe ohne Zweifel ein weiterer großer Wurf gelungen ist.

„Der Fluch der falschen Frage“, aus dem Amerikanischen von Sabine Roth, erschienen bei Goldmann, 221 Seiten, € 10,-

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