Es
geschieht nur ausgesprochen selten, dass man am Schluss eines Romans
unwillkürlich wieder mit aller Macht auf das bereits Gelesene
zurückgeworfen wird und sich plötzlich anhand früherer
Textstellen zu überprüfen gezwungen sieht, wie und mit
welchen Mitteln uns der nun, nach letzter Wendung, auf einmal umso
versierter scheinende Autor an dieses überraschende,
aufrüttelnde Ende geführt hat.
Der
junge israelische Verlagslektor und Hochschulprofessor Dror Mishani
(geboren 1975) darf nicht nur in literaturtheoretischer Hinsicht als
Autorität auf dem Gebiet des Kriminalromans gelten, da er sich
im Verlauf seiner akademischen Karriere auf dieses im literarischen
Kanon oftmals unterschätzte Genre spezialisiert hat. Mit seinem
ersten, international gefeierten und jetzt auch in deutscher
Übersetzung vorliegenden außergewöhnlichen
psychologischen Kammerspiel „Vermisst“ beweist er mit Nachdruck,
dass er auch als praktizierender Krimi-Autor imstande ist, auf
Grundlage seiner wissenschaftlichen Theorien und im Rahmen einer
ebenso spannenden wie intellektuell anregenden Handlung glaubwürdige
Charaktere sowie überzeugende soziale Milieus zu entwickeln, die
sein literarisches Debüt zu einem ganz besonderen Leseerlebnis
machen.
Eine
wesentliche, auch in seinem Roman behandelte Theorie beschäftigt
sich mit dem beinahe hundertjährigen Fehlen einer ausgeprägten
Krimi-Tradition innerhalb der modernen Hebräischen Literatur:
tatsächlich ist in der quantitativ wie qualitativ ausgesprochen
reichhaltigen israelischen Literaturlandschaft seit der
Staatsgründung im Jahr 1948 der Anteil an Kriminalliteratur
stets vergleichsweise gering geblieben: der große
internationale Erfolg der literarisch ambitionierten Batya Gur
(1947-2005) muss zunächst als singuläres Ereignis
betrachtet werden.
Erst
in den letzten Jahren drängen verstärkt junge talentierte
Schriftsteller wie Dror Mishani, dessen Debüt lediglich den
Auftakt einer ganzen Reihe um seinen sympathischen Ermittler Avraham
Avraham bilden soll, oder der praktizierende Anwalt Liad Shoham („Tag
der Vergeltung“) mit neuen originellen Kriminalromanen auf den
Markt, die in viel stärkerem Maße aus einer an israelische
Verhältnisse angepassten internationalen Tradition heraus
schreiben können. Die ursprünglichen zionistischen Motive
israelischer Literaten der ersten drei Generationen sowie die eher
von kollektiver Gewalt wie Krieg und Terror als von zivilen
Kapitalverbrechen erschütterte gesellschaftliche Realität
Israels habe eine ausgeprägte Kriminalliteratur zuvor nicht
hervorbringen können, so der Autor im Interview.
„Warum
gibt es hierzulande keine Kriminalromane? Warum werden in Israel
keine Bücher geschrieben wie beispielsweise die von Agatha
Christie?“
„Ich
kenne mich mit Büchern nicht besonders aus.“
„Dann
werde ich es ihnen sagen. Weil solche Verbrechen hier nicht
vorkommen. Es gibt bei uns keine Serienmörder, keine
Entführungen und so gut wie keine Sexualstraftäter, die auf
der Straße über Frauen herfallen. Wenn bei uns ein
Verbrechen begangen wird, dann war es in der Regel der Nachbar oder
der Onkel oder der Großvater, und es braucht keine komplizierte
Ermittlung, um den Täter zu finden und das Geheimnis zu lüften.“
Sein
unvergesslicher grüblerisch-aufrichtiger Protagonist mit dem
absurden Doppelnamen Avraham Avraham teilt die Vorliebe seines
Schöpfers für literarische und detektivische Theorien:
nicht nur erläutert er diese immer wieder ausführlich im
Verlaufe seiner Ermittlungen – es gehört außerdem zu
seinen ungewöhnlichen Hobbys, bekannten Detektiven aus
Weltliteratur, Film und Fernsehen ihre jeweiligen Ermittlungsfehler
nachzuweisen. Sein kriminalistisches Gespür ist dem schüchternen
Enddreißiger bereits in die Wiege gelegt worden: um auf die
cholerischen Anfälle seiner Mutter vorbereitet zu sein hatte er
schon im Verlauf seiner frühesten Kindheit eine besondere
Sensibilität für frühzeitige Anzeichen für deren
bevorstehende Stimmungsschwankungen entwickelt.
Andererseits
pflegte sein Vater – in einer Abwandlung des bekannten
Ich-sehe-was-was du-nicht-siehst-Spiels – seinem Sohn auf
gemeinsamen Ausflügen ausgesprochen hintergründige
detektivisch anmutende Fragen zu stellen:
„Ich
glaube, ich sehe eine Frau im blauen Mantel.“ Und der kleine
Avraham Avraham, drei oder vier Jahre alt, suchte mit dem Blick
aufgeregt die Straße ab, bis er sie gefunden hatte und auf sie
zeigte. Das Spiel wurde raffinierter, je älter er wurde. Sein
Vater sagte etwa: „Ich denke, ich sehe einen Mann, der zu spät
zu einer Verabredung kommt.“ Avraham Avraham sah sich um, bis, bis
er einen unrasierten Mann ausmachte, der bei Rot die Straße
überquerte, und zeigte auf diesen. Sein Vater, der ihn an der
Hand hielt, bestätigte: „Exakt.“ Und der kleine Avraham war
glücklich.
Trotz
dieser beinahe lebenslangen, einerseits spielerisch-leichten und
dennoch im höchsten Maße ernsthaften Vorbereitung auf
seine Arbeit bei der Polizei und einem auch fast ausschließlich
darauf ausgerichteten, an sozialen Kontakten armem Privatleben endet
der erfolgreiche Abschluss seines ersten von Dror Mishani
aufgezeichneten Falles für Avi Avraham mit einer Enttäuschung:
denn unter seinem hartnäckigen, allzu spät korrigierten
anfänglichen Irrtum während der mehrere Wochen andauernden
polizeilichen Fahndung nach einem ebenso plötzlich wie spurlos
verschwundenen, charakterlich unauffälligen siebzehnjährigen
Jugendlichen aus gutbürgerlicher Familie zerbricht nicht nur die
zarte platonische Beziehung zu seiner langjährigen Vorgesetzten
Ilana, die ihn einst gegen massiven Widerstand in ihr Team geholt
hatte; er erwägt schließlich sogar, den Polizeidienst ganz
zu quittieren.
Erst
in der überraschenden, reizvoll-kontrastierenden Beschreibung
einer unverhofften, kaum antizipierten privaten Idylle, während
Avrahams anschließendem unbefristeten Urlaub, in dem er höchst
erfreulichen, kaum für möglich gehaltenen Besuch von der
jungen Brüsseler Verkehrspolizistin Marianka erhält, die er
kurz zuvor im Rahmen eines polizeilichen Austauschprogrammes in der
belgischen Metropole kennengelernt hatte, nimmt der offiziell bereits
abgeschlossene Fall doch noch eine ungeahnte letzte Wendung.
Schon
während seines kurzen Aufenthalts in Brüssel hatten sich
die beiden unwahrscheinlichen Liebenden intensiv über das
unerklärliche Verschwinden des siebzehnjährigen Ofer
ausgetauscht, jetzt aber bringen Mariankas entschieden-weibliche
Überlegungen Avi auf eine vollkommen neue Spur und werfen uns
als Leser mit phänomenaler Wucht zurück auf den Anfang des
Buches und auf Avrahams alles entscheidenden Irrtum. Denn der
gewissenhafte Polizist ist nicht der einzige Protagonist des Buches
mit ausufernden literarischen Theorien:
In
all den Jahren bei der Polizei war Avraham noch nie einem Menschen
wie Avni begegnet, der alles daransetzte, ins Visier einer
polizeilichen Ermittlung zu geraten. Offenbar hatte Avni das
zwanghafte Bedürfnis, etwas zu gestehen, aber Avraham war es
nicht gelungen herauszufinden, was. Vielleicht wusste auch Avni
selbst es nicht.
In
der Tat vermag Mishanis wunderbarer Kriminalroman einen nicht
geringen Teil seiner phänomenalen Spannung sowie seines ebenso
intensiven wie hintergründigen psychologischen Schreckens gerade
aus der zweiten, antagonistisch angelegten Perspektive von Seev Avni
zu beziehen, des ehemaligen Englisch-Nachilfelehrers des
verschwundenen Schülers, einem vom der Beliebigkeit seines
Alltags enttäuschten und von seiner ungewollten Vaterrolle
überforderten Möchtegern-Schriftsteller, der seit Jahren
verzweifelt auf der Suche nach einem geeigneten Stoff für seinen
noch zu schreibenden ersten Roman ist, und der wie Franz Kafka in
seinem Brief an Oskar Pollack die Meinung vertritt, dass es die
vorrangige Aufgabe der Literatur sei, den Leser zu verstören und
aufzurütteln:
„Wenn
das Buch, das wir lesen, uns nicht mit einem Faustschlag auf den
Schädel weckt, wozu lesen wir dann das Buch? Wir brauchen aber
die Bücher, die auf uns wirken wie ein Unglück, das uns
sehr schmerzt, wie der Tod eines, den wir lieber hatten als uns, wie
wenn wir in Wälder verstoßen würden, von allen
Menschen weg, wie ein Selbstmord, ein Buch muss die Axt sein für
das gefrorene Meer in uns.“
In
diesem umfassenden Sinne ist „Vermisst“ mit Sicherheit einer der
direktesten, aufregendsten und intelligentesten Kriminalroman seit
vielen Jahren. Besonders bemerkenswert dabei ist die höchst
angenehme, jedoch genreuntypisch-überraschende Tatsache, dass es
Dror Mishani in seinem fesselnden Debütroman fast ganz ohne
jegliches Blutvergießen gelingt, eine so nachhaltig wirkende
Spannung aufzubauen, dass man den unvergesslichen Charakteren sowie
der eigentlichen Untat noch lange nachgrübelt und sich schon auf
den angekündigten zweiten Avi-Avraham-Band freut, der mit großer
Wahrscheinlichkeit bereits im nächsten Jahr erscheinen wird.
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