Jerusalem

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Samstag, 10. August 2013

„Das Streichholzschachtel-Tagebuch“ von Paul Fleischman und Bagram Ibatoulline

Die ultrarealistischen, in ihrer künstlerischen Essenz geradezu altmeisterlich anmutenden Illustrationen, die der in Russland geborene und mittlerweile seit vielen Jahren in New Jersey lebende, für seine bisherigen Werke zu Recht gefeierte Illustrator Bagram Ibatoulline für Paul Fleischmans neues Kinderbuch „Das Streichholzschachtel-Tagebuch“ entworfen hat, bewegen sich in einer ebenso sorgfältig wie gründlich recherchierten eklektizistischen Künstlichkeit am Abgrund des Kitsches, die möglicherweise allein noch glaubwürdiger Ort einer fiktiven Begegnung der darin porträtierten gegensätzlichen Lebenswelten sowie des heilsamen familiären Geschichtenerzählens sein kann.




In einem großen, durch zahlreiche dunkle antike Möbel und weitere edle Sammlerstücke großzügig strukturierten Raum, der gleichermaßen privates Wohnzimmer wie Antiquitätenladen sein könnte, begegnet ein fünfjähriges Mädchen, das – wie wir im weiteren Lauf der Geschichte erfahren werden – vier Flugstunden entfernt bei seinen Eltern aufwächst, zum ersten Mal im Leben seinem greisen Urgroßvater. Mit spielerischer Neugier durchstöbert das kleine Mädchen dessen an geheimnisvollen Gegenständen reiches Zimmer und darf ausdrücklich alles berühren und erforschen, was sein Interesse findet.

Such dir aus, was dir am besten gefällt. Dann erzähle ich dir die Geschichte dazu.

Ihre kindlich-sichere Wahl fällt auf den unscheinbarsten, möglicherweise aber auch größten Schatz, den die eindrucksvolle Antiquitätensammlung ihres Urgroßbvaters beherbergt, nämlich eine mit dem zeitgenössischen Werbebild einer verführerisch in die spitze Mondsichel gelehnten exotischen Frau und dem authentischen Markennamen „La Luna“ bedruckte historische Zigarrenkiste mit deutlichen, jahrzehntelangen Gebrauchsspuren, welche – in unzählige unterschiedliche kleine bunte Streichholzschachteln verteilt – das außergewöhnliche gegenständliche Tagebuch ihres Urgroßvaters enthält.

Was ist das?“
Ein Olivenkern. Wenn ich ihn in die Hand nehme, bin ich auf der Stelle wieder in Italien. Da bin ich aufgewachsen. Es gibt viele Olivenbäume dort. Und das Leben war hart – das ist der andere Grund, warum ich ihn aufgehoben habe. Es gab keine Dielen als Fußboden in unserem Haus, nur festgestampften Lehm. Keine Schuhe. Und manchmal nicht einmal genug zu essen. Wenn ich meiner Mutter sagte, dass ich hungrig war, gab sie mir einen Olivenkern, damit ich daran lutschte. Das hat geholfen.“

Der greise Erzähler war als kleiner Junge mit seiner gesamten Familie, bestehend aus Vater, Mutter und drei älteren Schwestern nach einer fatalen Missernte in seiner süditalienischen Heimat, vermutlich während der Hochzeit der italienischen Auswanderung in die Neue Welt, zwischen 1876 und 1915 in die USA gekommen, wo er unter ärmlichsten Bedingungen als schwer mitarbeitender Sohn eines jahrelang von Stadt zu Stadt ziehenden Wanderarbeiters aufwuchs.



Schon immer hatte er den Sohn des Dorfpfarrers beneidet, der lesen und schreiben konnte und dessen Aufgabe es immer gewesen war, der Familie die regelmäßig eintreffenden Briefe des bereits nach Amerika vorausgereisten Vaters vorzulesen. Und dessen wunderschönes, in rotes Leder eingebundenes Tagebuch hatte auch in ihm den sehnlichen Wunsch entstehen lassen, ebenfalls einmal ein Tagebuch zu führen.

Was ist ein Tagebuch?“
Es ist etwas, das einem dabei hilft, sich an das zu erinnern, was man erlebt hat. Meistens ist es ein Büchlein, in das Leute schreiben. Als ich so alt war wie du, gab es vieles, das ich nicht vergessen wollte. Aber ich konnte nicht lesen und nicht schreiben. Deshalb habe ich hiermit angefangen.“

Später, als der Vater endlich eine feste Anstellung gefunden hatte, ermöglichte er es seinem wissbegierigen, talentierten Sohn als erstem Familienmitglied überhaupt, eine Schule zu besuchen und eine Ausbildung zum Schriftsetzer zu machen.

Das „Streichholzschachtel-Tagebuch“ funktioniert auf mehreren Ebenen: einerseits ist es eine originelle, poetisch-bewegende Geschichte über die Licht- und Schattenseiten des bis heute ungebrochenen amerikanischen Neueinwanderer-Mythos – die historische Redensart, in Amerika liege das Geld auf der Straße, wird gleich an verschiedenen Stellen augenzwinkernd beschworen. Doch die Geschichte des großen Amerikanischen Traums und dem damit verbundenen Schatten des Vergessens der eigenen Herkunft ist gerade heute, in einer Zeit zahlreicher durch militärische Krisen und Naturkatastrophen ausgelösten weltumspannenden Migrationsbewegungen, in besonderem Maße auch wieder eine aktuelle Geschichte, vielleicht die nachhaltigste des beginnenden Einundzwanzigsten Jahrhunderts.

Damit aufs Engste verbunden ist der Prozess des mündlichen wie schriftlichen Erwerbs der neuen, fremden Sprache als Eintrittskarte zu den wunderbaren Möglichkeiten einer neuen konkreten geographischen und sprachlichen Heimat. Darunter verborgen allerdings liegt allumfassend der unschätzbare Wert des Erzählens als Erinnerungsträger und als Brückenbauer für die einzelnen Generationen. Dabei nimmt die konkrete Form der Schachteln mit ihrem Inhalt gleichzeitig eine persönlichkeitsformende, integrative Funktion ein, die ein wunderbares Muster für uns alle sein könnte: das Sammeln guter Erinnerungen und Erfahrungen als intuitiv wirksame Symbole, die uns über schlechte Zeiten hinwegzuhelfen vermögen.



Dies alles auf lediglich 32 Seiten zu erzählen, ist wahrhaftig eine große Kunst. Und das Thema gleichzeitig spielerisch-naiv und in all seiner Komplexität sowie mit einem derart großen, bildhaften Assoziationsreichtum wiederzugeben, ist ein kaum hoch genug zu lobendes Verdienst von Bagram Ibatoulline, dessen geradezu wissenschaftlicher Hang zur sorgfältigen Bildrecherche auch in diesem Band wunderbare Kontraste hervorzuzaubern vermag. Seine unverkennbare Bildsprache bewegt sich hier zwischen den beiden Gegensätzen von an historischen Bildquellen geschulten Schwarzweißzeichnungen, die im Betrachter unwillkürlich den Eindruck historischer Fotos hervorrufen, und schmerzhaft-realistischen Gegenwartsbildern, deren intensive Farbgebung dennoch eine Andeutung des Fiktiven schafft.

Paul Fleischman und Bagram Ibatoulline zeigen in ihrem ersten gemeinsamen Bilderbuch auf ebenso poetische wie konkrete und auch für Kinder zugängliche Art und Weise, dass unsere Seele nur dann neue fruchtbare Triebe zu entwickeln vermag, wenn wir unsere Wurzeln nicht vernachlässigen.

„Das Streichholzschachtel-Tagebuch“, aus dem Amerikanischen von Nicola T. Stuart, erschienen bei Jacoby Stuart, 32 Seiten, € 14,95

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