Die
ultrarealistischen, in ihrer künstlerischen Essenz geradezu
altmeisterlich anmutenden Illustrationen, die der in Russland
geborene und mittlerweile seit vielen Jahren in New Jersey lebende,
für seine bisherigen Werke zu Recht gefeierte Illustrator Bagram
Ibatoulline für Paul Fleischmans neues Kinderbuch „Das
Streichholzschachtel-Tagebuch“ entworfen hat, bewegen sich in einer
ebenso sorgfältig wie gründlich recherchierten eklektizistischen
Künstlichkeit am Abgrund des Kitsches, die möglicherweise allein
noch glaubwürdiger Ort einer fiktiven Begegnung der darin
porträtierten gegensätzlichen Lebenswelten sowie des heilsamen
familiären Geschichtenerzählens sein kann.
In
einem großen, durch zahlreiche dunkle antike Möbel und weitere edle
Sammlerstücke großzügig strukturierten Raum, der gleichermaßen
privates Wohnzimmer wie Antiquitätenladen sein könnte, begegnet ein
fünfjähriges Mädchen, das – wie wir im weiteren Lauf der
Geschichte erfahren werden – vier Flugstunden entfernt bei seinen
Eltern aufwächst, zum ersten Mal im Leben seinem greisen
Urgroßvater. Mit spielerischer Neugier durchstöbert das kleine
Mädchen dessen an geheimnisvollen Gegenständen reiches Zimmer und
darf ausdrücklich alles berühren und erforschen, was sein Interesse
findet.
Such
dir aus, was dir am besten gefällt. Dann erzähle ich dir die
Geschichte dazu.
Ihre
kindlich-sichere Wahl fällt auf den unscheinbarsten, möglicherweise
aber auch größten Schatz, den die eindrucksvolle
Antiquitätensammlung ihres Urgroßbvaters beherbergt, nämlich eine
mit dem zeitgenössischen Werbebild einer verführerisch in die
spitze Mondsichel gelehnten exotischen Frau und dem authentischen
Markennamen „La Luna“ bedruckte historische Zigarrenkiste mit
deutlichen, jahrzehntelangen Gebrauchsspuren, welche – in unzählige
unterschiedliche kleine bunte Streichholzschachteln verteilt – das
außergewöhnliche gegenständliche Tagebuch ihres Urgroßvaters
enthält.
„Was
ist das?“
„Ein
Olivenkern. Wenn ich ihn in die Hand nehme, bin ich auf der Stelle
wieder in Italien. Da bin ich aufgewachsen. Es gibt viele Olivenbäume
dort. Und das Leben war hart – das ist der andere Grund, warum ich
ihn aufgehoben habe. Es gab keine Dielen als Fußboden in unserem
Haus, nur festgestampften Lehm. Keine Schuhe. Und manchmal nicht
einmal genug zu essen. Wenn ich meiner Mutter sagte, dass ich hungrig
war, gab sie mir einen Olivenkern, damit ich daran lutschte. Das hat
geholfen.“
Der
greise Erzähler war als kleiner Junge mit seiner gesamten Familie,
bestehend aus Vater, Mutter und drei älteren Schwestern nach einer
fatalen Missernte in seiner süditalienischen Heimat, vermutlich
während der Hochzeit der italienischen Auswanderung in die Neue
Welt, zwischen 1876 und 1915 in die USA gekommen, wo er unter
ärmlichsten Bedingungen als schwer mitarbeitender Sohn eines
jahrelang von Stadt zu Stadt ziehenden Wanderarbeiters aufwuchs.
Schon
immer hatte er den Sohn des Dorfpfarrers beneidet, der lesen und
schreiben konnte und dessen Aufgabe es immer gewesen war, der Familie
die regelmäßig eintreffenden Briefe des bereits nach Amerika
vorausgereisten Vaters vorzulesen. Und dessen wunderschönes, in
rotes Leder eingebundenes Tagebuch hatte auch in ihm den sehnlichen
Wunsch entstehen lassen, ebenfalls einmal ein Tagebuch zu führen.
„Was
ist ein Tagebuch?“
„Es
ist etwas, das einem dabei hilft, sich an das zu erinnern, was man
erlebt hat. Meistens ist es ein Büchlein, in das Leute schreiben.
Als ich so alt war wie du, gab es vieles, das ich nicht vergessen
wollte. Aber ich konnte nicht lesen und nicht schreiben. Deshalb habe
ich hiermit angefangen.“
Später,
als der Vater endlich eine feste Anstellung gefunden hatte,
ermöglichte er es seinem wissbegierigen, talentierten Sohn als
erstem Familienmitglied überhaupt, eine Schule zu besuchen und eine
Ausbildung zum Schriftsetzer zu machen.
Das
„Streichholzschachtel-Tagebuch“ funktioniert auf mehreren Ebenen:
einerseits ist es eine originelle, poetisch-bewegende Geschichte über
die Licht- und Schattenseiten des bis heute ungebrochenen
amerikanischen Neueinwanderer-Mythos – die historische Redensart,
in Amerika liege das Geld auf der Straße, wird gleich an
verschiedenen Stellen augenzwinkernd beschworen. Doch die Geschichte
des großen Amerikanischen Traums und dem damit verbundenen Schatten
des Vergessens der eigenen Herkunft ist gerade heute, in einer Zeit
zahlreicher durch militärische Krisen und Naturkatastrophen
ausgelösten weltumspannenden Migrationsbewegungen, in besonderem
Maße auch wieder eine aktuelle Geschichte, vielleicht die
nachhaltigste des beginnenden Einundzwanzigsten Jahrhunderts.
Damit
aufs Engste verbunden ist der Prozess des mündlichen wie
schriftlichen Erwerbs der neuen, fremden Sprache als Eintrittskarte
zu den wunderbaren Möglichkeiten einer neuen konkreten
geographischen und sprachlichen Heimat. Darunter verborgen allerdings
liegt allumfassend der unschätzbare Wert des Erzählens als
Erinnerungsträger und als Brückenbauer für die einzelnen
Generationen. Dabei nimmt die konkrete Form der Schachteln mit ihrem
Inhalt gleichzeitig eine persönlichkeitsformende, integrative
Funktion ein, die ein wunderbares Muster für uns alle sein könnte:
das Sammeln guter Erinnerungen und Erfahrungen als intuitiv wirksame
Symbole, die uns über schlechte Zeiten hinwegzuhelfen vermögen.
Dies
alles auf lediglich 32 Seiten zu erzählen, ist wahrhaftig eine große
Kunst. Und das Thema gleichzeitig spielerisch-naiv und in all seiner
Komplexität sowie mit einem derart großen, bildhaften
Assoziationsreichtum wiederzugeben, ist ein kaum hoch genug zu
lobendes Verdienst von Bagram Ibatoulline, dessen geradezu
wissenschaftlicher Hang zur sorgfältigen Bildrecherche auch in
diesem Band wunderbare Kontraste hervorzuzaubern vermag. Seine
unverkennbare Bildsprache bewegt sich hier zwischen den beiden
Gegensätzen von an historischen Bildquellen geschulten
Schwarzweißzeichnungen, die im Betrachter unwillkürlich den
Eindruck historischer Fotos hervorrufen, und
schmerzhaft-realistischen Gegenwartsbildern, deren intensive
Farbgebung dennoch eine Andeutung des Fiktiven schafft.
Paul
Fleischman und Bagram Ibatoulline zeigen in ihrem ersten gemeinsamen
Bilderbuch auf ebenso poetische wie konkrete und auch für Kinder
zugängliche Art und Weise, dass unsere Seele nur dann neue
fruchtbare Triebe zu entwickeln vermag, wenn wir unsere Wurzeln nicht
vernachlässigen.
„Das Streichholzschachtel-Tagebuch“, aus dem Amerikanischen von Nicola
T. Stuart, erschienen bei Jacoby Stuart, 32 Seiten, € 14,95
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