Es ist meist eine große, psychologisch kaum zu bewältigende
Bürde für junge debütierende Autoren, einem großartigen,
allerseits gefeierten ersten Roman ein zweites, neues Buch folgen
lassen zu müssen, das die hohen Erwartungen der Öffentlichkeit am
Ende nicht nur bestätigen könnte, sondern diese möglicherweise
noch zu übertreffen vermag, ohne dass der jeweilige Autor
Einschränkungen bezüglich seines persönlichen Stils sowie seiner
ureigenen individuellen Vorstellungen von seinem nächsten Werk
hinnehmen müsste.
Umso schöner, dass es so überaus hilfreiche Förderstipendien
wie jenes der kleinen Tiroler Stadt Schwaz gibt, welches es –
kuratiert vom dort seit 1995 angesiedelten, ausgesprochen rührigen
Literaturforum – insbesondere jungen Autoren unter dem alljährlich
vergebenen Titel „Schwazer Stadtschreiber“ erlaubt, sich
für zwei Monate ganz allein dem literarischen Schreiben sowie der
Arbeit an neuen Texten widmen zu dürfen: denn allein von der
Literatur können auch heute noch die allerwenigsten ambitionierten
Schriftsteller ihren Lebensunterhalt bestreiten.
Die diesjährige verdiente Preisträgerin, Lisa-Maria Seydlitz,
geboren 1985 in Mannheim, hat mit ihrem schwebend-leichten ersten
Roman „Sommertöchter“ nicht nur eines der schönsten und
berührendsten Bücher des Jahres 2012 veröffentlicht; die
langjährige Mitherausgeberin der Literaturzeitschrift BELLA triste konnte mit ihrem Buch über eine junge Frau auf der Suche
nach sich selbst auch einen weithin als wunderbare literarische
Neuentdeckung gepriesenen Überraschungsbestseller verbuchen. Nun
also darf die sympathische junge Autorin zu Recht zwei Monate lang
die Annehmlichkeiten des eindrucksvollen historischen
Fuggerwohnhauses aus dem Jahr 1525 (heute Kloster der
Tertiarschwestern) sowie ein mit dem Stipendium verbundenes
ansehnliches persönliches Taschengeld genießen.
Mein Vater soll heute zurückkommen. Seit einer
Stunde warten wir zwischen Sonnenblumen und Fingerhut im Garten.
Meine Mutter läuft Schleifen im Gras und tritt mit den Sandalen auf
herabgefallene Kirschen, rote, ungleichmäßige Schlieren zeichnen
ihre Knöchel. Immer wieder geht sie die Treppe hinauf zum Haus,
bleibt im Türrahmen stehen und horcht, ob das Telefon klingelt.
„Sommertöchter“ ist ein wunderbares, absolut berührendes,
ebenso tieftrauriges wie herzensfröhliches, unbekümmertes und
sommerlich leichtes Buch über die Suche einer jungen Frau nach dem
verlorenen Glück ihrer unbeschwerten Kindheit und die Reise zu sich
selbst. „Man erinnert sich nicht über Fotos oder Filmaufnahmen“,
sagt eine Nebenfigur des Buches zu Juno, der zwanzigjährigen
innerlich vereinsamten Protagonistin, die seit dem plötzlichen Tod
ihres geliebten Vaters vor acht Jahren, der eigentlich ein sich seit
langem andeutendes, langsames Verschwinden war, von einer tiefen
Traurigkeit erfüllt ist und die nicht begreifen kann, warum die
scheinbar unbeschwerte Idylle ihrer Kindheit im Grünen so plötzlich
enden musste.
Auch ihre Mutter erinnert sich nicht über Fotos – alle
Aufnahmen, auf denen Junos Vater zu sehen war, hat sie ohne Ausnahme
entsorgt, das gemeinsame Haus vor den Toren der Stadt noch am
Todestag ihres Mannes zugunsten einer funktionalen Stadtwohnung
aufgegeben. Aus der neuen Liebesbeziehung ihrer Mutter fühlt Juno
sich ausgeschlossen, besonders nach der Geburt ihrer Halbschwester.
Eines Tages jedoch erhält sie einen anonymen Brief aus Frankreich
mit einem Foto von einem Fischerhaus in der Bretagne und den Worten:
„Liebe Juno, das Haus steht schon so lange leer. [...] Ob ich
das Haus verkaufen wolle oder renovieren und an Touristen vermieten,
lese ich, die Schrift sieht unsicher aus, als wüssten die Buchstaben
und Wörter nicht, ob sie wirklich zusammengehören.“
Da ihre Mutter nicht bereit ist, mit ihr über den Inhalt des
Briefes zu reden, obwohl sie offensichtlich maßgeblich zur
Aufklärung beitragen könnte und sogar den Schlüssel des Hauses
besitzt, macht sich Juno kurz entschlossen auf in die Bretagne, wo
sie allerdings feststellen muss, dass bereits eine andere, etwa
gleichaltrige junge Frau, die französische Kellnerin Julie, in dem
Haus wohnt.
© severafrahm |
Während sie mit Julie, dem gemeinsamen Nachbarn auf Zeit, einem
deutschen Architekten, sowie der Restaurantbesitzerin Camille einen
unbeschwerten Sommer verlebt, erinnert sie sich immer wieder auch an
intensive Episoden aus ihrer Kindheit, an Tage im Freibad oder im
Wildgehege mit ihrem Vater, seine für sie und ihre Mutter zunehmend
angstbesetzte Abwesenheit während der langen Klinikaufenthalte und
schließlich die Leere nach seinem Tod, der durch den radikalen Bruch
der Mutter mit ihrem bisherigen Leben für die Zwölfjährige noch
unverständlicher bleibt.
Es ist bereits dunkel, als wir zu Hause ankommen. Ich nehme die
Post mit hoch. Die Karte ist nachadressiert. Auf dem Adressfeld ein
Aufkleber, darauf unsere Namen und unsere neue Anschrift. Meine
Mutter und ich stehen im Wohnungsflur und lesen die Karte, Jahre
nachdem sie abgeschickt wurde. [...] Meine Mutter küsst Anna auf die
Schläfe, schnallt sich den Tragegurt ab. Sie legt Anna in ihr Bett.
Sie nimmt mich an der Hand, wir gehen in mein Zimmer. Meine Mutter
schließt die Tür hinter uns und nimmt mich in den Arm. Sie hält
mich fest. Sie legt ihren Kopf auf meine Schulter und ich spüre, wie
ihre Tränen durch meinen Pullover dringen.
In der Konfrontation mit der Vergangenheit und den Erlebnissen mit
Julie findet Juno schließlich einen hoffnungsvollen Ansatz, sich von
der Last der Vergangenheit zu befreien, ohne sie loslassen zu müssen.
„Sommertöchter“ ist ein ganz großes, innerlich erfrischendes
Stück Literatur, das zuweilen an die traurig-schönen Romane von
Olivier Adam erinnert.
„Sommertöchter“,
erschienen bei DuMont, 208 Seiten, € 8,99
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