Jerusalem

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Freitag, 23. August 2013

Schwazer Stadtschreiberin 2013: Lisa-Maria Seydlitz

Es ist meist eine große, psychologisch kaum zu bewältigende Bürde für junge debütierende Autoren, einem großartigen, allerseits gefeierten ersten Roman ein zweites, neues Buch folgen lassen zu müssen, das die hohen Erwartungen der Öffentlichkeit am Ende nicht nur bestätigen könnte, sondern diese möglicherweise noch zu übertreffen vermag, ohne dass der jeweilige Autor Einschränkungen bezüglich seines persönlichen Stils sowie seiner ureigenen individuellen Vorstellungen von seinem nächsten Werk hinnehmen müsste.

Umso schöner, dass es so überaus hilfreiche Förderstipendien wie jenes der kleinen Tiroler Stadt Schwaz gibt, welches es – kuratiert vom dort seit 1995 angesiedelten, ausgesprochen rührigen Literaturforum – insbesondere jungen Autoren unter dem alljährlich vergebenen Titel „Schwazer Stadtschreiber“ erlaubt, sich für zwei Monate ganz allein dem literarischen Schreiben sowie der Arbeit an neuen Texten widmen zu dürfen: denn allein von der Literatur können auch heute noch die allerwenigsten ambitionierten Schriftsteller ihren Lebensunterhalt bestreiten.

Die diesjährige verdiente Preisträgerin, Lisa-Maria Seydlitz, geboren 1985 in Mannheim, hat mit ihrem schwebend-leichten ersten Roman „Sommertöchter“ nicht nur eines der schönsten und berührendsten Bücher des Jahres 2012 veröffentlicht; die langjährige Mitherausgeberin der Literaturzeitschrift BELLA triste konnte mit ihrem Buch über eine junge Frau auf der Suche nach sich selbst auch einen weithin als wunderbare literarische Neuentdeckung gepriesenen Überraschungsbestseller verbuchen. Nun also darf die sympathische junge Autorin zu Recht zwei Monate lang die Annehmlichkeiten des eindrucksvollen historischen Fuggerwohnhauses aus dem Jahr 1525 (heute Kloster der Tertiarschwestern) sowie ein mit dem Stipendium verbundenes ansehnliches persönliches Taschengeld genießen.

Mein Vater soll heute zurückkommen. Seit einer Stunde warten wir zwischen Sonnenblumen und Fingerhut im Garten. Meine Mutter läuft Schleifen im Gras und tritt mit den Sandalen auf herabgefallene Kirschen, rote, ungleichmäßige Schlieren zeichnen ihre Knöchel. Immer wieder geht sie die Treppe hinauf zum Haus, bleibt im Türrahmen stehen und horcht, ob das Telefon klingelt.

„Sommertöchter“ ist ein wunderbares, absolut berührendes, ebenso tieftrauriges wie herzensfröhliches, unbekümmertes und sommerlich leichtes Buch über die Suche einer jungen Frau nach dem verlorenen Glück ihrer unbeschwerten Kindheit und die Reise zu sich selbst. „Man erinnert sich nicht über Fotos oder Filmaufnahmen“, sagt eine Nebenfigur des Buches zu Juno, der zwanzigjährigen innerlich vereinsamten Protagonistin, die seit dem plötzlichen Tod ihres geliebten Vaters vor acht Jahren, der eigentlich ein sich seit langem andeutendes, langsames Verschwinden war, von einer tiefen Traurigkeit erfüllt ist und die nicht begreifen kann, warum die scheinbar unbeschwerte Idylle ihrer Kindheit im Grünen so plötzlich enden musste.



Auch ihre Mutter erinnert sich nicht über Fotos – alle Aufnahmen, auf denen Junos Vater zu sehen war, hat sie ohne Ausnahme entsorgt, das gemeinsame Haus vor den Toren der Stadt noch am Todestag ihres Mannes zugunsten einer funktionalen Stadtwohnung aufgegeben. Aus der neuen Liebesbeziehung ihrer Mutter fühlt Juno sich ausgeschlossen, besonders nach der Geburt ihrer Halbschwester. Eines Tages jedoch erhält sie einen anonymen Brief aus Frankreich mit einem Foto von einem Fischerhaus in der Bretagne und den Worten:

Liebe Juno, das Haus steht schon so lange leer. [...] Ob ich das Haus verkaufen wolle oder renovieren und an Touristen vermieten, lese ich, die Schrift sieht unsicher aus, als wüssten die Buchstaben und Wörter nicht, ob sie wirklich zusammengehören.“

Da ihre Mutter nicht bereit ist, mit ihr über den Inhalt des Briefes zu reden, obwohl sie offensichtlich maßgeblich zur Aufklärung beitragen könnte und sogar den Schlüssel des Hauses besitzt, macht sich Juno kurz entschlossen auf in die Bretagne, wo sie allerdings feststellen muss, dass bereits eine andere, etwa gleichaltrige junge Frau, die französische Kellnerin Julie, in dem Haus wohnt.

© severafrahm 

Während sie mit Julie, dem gemeinsamen Nachbarn auf Zeit, einem deutschen Architekten, sowie der Restaurantbesitzerin Camille einen unbeschwerten Sommer verlebt, erinnert sie sich immer wieder auch an intensive Episoden aus ihrer Kindheit, an Tage im Freibad oder im Wildgehege mit ihrem Vater, seine für sie und ihre Mutter zunehmend angstbesetzte Abwesenheit während der langen Klinikaufenthalte und schließlich die Leere nach seinem Tod, der durch den radikalen Bruch der Mutter mit ihrem bisherigen Leben für die Zwölfjährige noch unverständlicher bleibt.

Es ist bereits dunkel, als wir zu Hause ankommen. Ich nehme die Post mit hoch. Die Karte ist nachadressiert. Auf dem Adressfeld ein Aufkleber, darauf unsere Namen und unsere neue Anschrift. Meine Mutter und ich stehen im Wohnungsflur und lesen die Karte, Jahre nachdem sie abgeschickt wurde. [...] Meine Mutter küsst Anna auf die Schläfe, schnallt sich den Tragegurt ab. Sie legt Anna in ihr Bett. Sie nimmt mich an der Hand, wir gehen in mein Zimmer. Meine Mutter schließt die Tür hinter uns und nimmt mich in den Arm. Sie hält mich fest. Sie legt ihren Kopf auf meine Schulter und ich spüre, wie ihre Tränen durch meinen Pullover dringen.

In der Konfrontation mit der Vergangenheit und den Erlebnissen mit Julie findet Juno schließlich einen hoffnungsvollen Ansatz, sich von der Last der Vergangenheit zu befreien, ohne sie loslassen zu müssen. „Sommertöchter“ ist ein ganz großes, innerlich erfrischendes Stück Literatur, das zuweilen an die traurig-schönen Romane von Olivier Adam erinnert.

„Sommertöchter“, erschienen bei DuMont, 208 Seiten, € 8,99

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