Es ist nicht nur ein
vielfach erprobtes, sondern auch äußerst wirkungsvolles Stilmittel
ambitionierter Buch- und Comic-Illustratoren, zu erzählende
Vergangenheit mit Hilfe von Bildern in Schwarz-Weiß-Technik in Szene
zu setzen. In einem Werk über die Schoah jedoch scheint diese Wahl
der bildnerischen Mittel ganz besonders naheliegend, nicht nur weil
ein Großteil aller historischen Bilddokumente aufgrund der damaligen
technischen Voraussetzungen naturgemäß lediglich in diesem Format
vorliegt; darüber hinaus lädt diese unwillkürlich abstrahierende
Verfahrensweise den Betrachter auch dazu ein, sich mit den drängenden
moralischen und philosophischen Fragen dieser Zeit
auseinanderzusetzen.
Die fehlende natürliche
Farbe suggeriert dabei bereits einen wesentlichen, nahezu
allumfassenden Mangel an allem allgemein-anerkannt Menschlichen, der
besonders dann in unserer erheblichen Irritation deutlich wird, wenn
wir einmal ganz unverhofft die seltenen Farbaufnahmen aus jener Zeit
zu sehen bekommen: Wie ist es möglich, scheinen diese Bilder uns
regelrecht anzuschreien, dass trotz der hinlänglich bekannten
schreckenerregenden gesellschaftlichen und politischen
Rahmenbedingungen im Nationalsozialismus die Blätter der Bäume grün
sind, bunte Blumen blühen und SS-Männer eine unverdient-gesunde
Hautfarbe besitzen?
Auch der Regisseur Steven
Spielberg drehte sein beeindruckendes Opus magnum „Schindlers
Liste“ ganz bewusst in Schwarz-Weiß – und die wenigsten, die
diesen unvergesslichen Film gesehen haben, werden sich daran
erinnern, dass in einigen Massenszenen in seinem Verlauf immer wieder
ein kleines Mädchen auftauchte, dessen Mantel während der
technischen Nachbereitung des Films rot koloriert worden war. Mit
diesem genialen kleinen Kunstgriff gelang es dem Regisseur, gerade im
kollektiven Schicksal der europäischen Juden doch wieder das
furchtbare Los des Einzelnen herauszustellen, die Zusammensetzung
einer letztlich lediglich nüchtern-abstrakt wirkenden Zahl zu einem
umfassenden Begreifen der sinnlosen vorsätzlichen Vernichtung
unzähliger einzelner Leben erfolgreich aufzubrechen.
Einst hieß es, mein
Volk werde so zahlreich sein wie die Sterne am Himmel.
Zwischen 1933 und 1945
sind sechs Millionen von diesen Sternen ausgelöscht worden.
Jeder Stern steht für
einen Menschen aus meinem Volk, dessen Leben zerstört und dessen
Familie auseinandergerissen wurde.
So schreibt die
amerikanische Kinderbuchautorin und Musikpädagogin Ruth Vander Zee
in ihrem vom italienischen Meisterillustrator Roberto Innocenti
ebenso bildmächtig wie poetisch in Szene gesetzten international
vielfach prämierten Bilderbuch „Erikas Geschichte“, das zehn
Jahre nach seinem ersten Erscheinen in den USA nun in einer
buchkünstlerisch schönen und überarbeiteten deutschen Neuausgabe
vorliegt.
Roberto Innocenti gilt mit
seinem stilbildenden Buch „Rosa Weiss“ (1986) als weltweit erster
Illustrator, der es wagte, die Schoah zum Thema eines erzählenden
Bilderbuchs zu machen und darf deshalb durchaus die Ehre für sich
reklamieren, auf diese Weise ein neues Genre im Bereich Kinder- und
Jugendbuch begründet zu haben. Auch für „Erikas Geschichte“ hat
der Autodidakt eine künstlerisch beeindruckende Reihe
ultrarealistischer großformatiger Zeichnungen geschaffen, die unter
Aufbietung aller Schattierungen der Farbe Grau mühelos eine
beängstigende Atmosphäre allgegenwärtiger Angst und Unterdrückung
im Betrachter hervorzurufen vermögen.
Die von den beiden Autoren
mit nur wenigen Bildern und in einer sehr knappen reduzierten Sprache
in nur wenigen Worten erzählte Geschichte ist absolut ungeheuerlich:
eine Frau wirft ihr lediglich einige Wochen altes Baby aus dem
fahrenden Zug. Doch was wir aus der Sicht unserer heutigen in
vielerlei Hinsicht privilegierten Lebensrealität als Ausdruck
äußerster sittlicher Verrohung, seelischer Grausamkeit und
unbegreiflicher Kaltherzigkeit werten müssten, erweist sich in den
bitteren Tagen des Zweiten Weltkriegs als unerwartete Geste
radikalster mütterlicher Liebe, gänzlich unwahrscheinlichste letzte
Hoffnung – und letztlich auch als tatsächliche Rettung: denn der
Zug ist ein Transport in die deutschen Todeslager, die verzweifelte
Mutter eine von den Machthabern zum sicheren Tod verurteilte Jüdin.
Und was dann passiert
ist, ist das Einzige, was ich mit Sicherheit weiß.
Meine Mutter hat mich
aus dem Zug geworfen.
Das junge Mädchen überlebt
– liebevoll auf- und als eigenes Kind angenommen von einer
deutschen Familie, die sie jedoch nicht im Unklaren lässt über ihre
Herkunft. Eingebettet ist diese Geschichte in eine Rahmenhandlung, in
der die amerikanische Autorin während einer Europareise der
Erzählerin zufällig begegnet und bei dieser Gelegenheit auch ihre
bewegende Lebensgeschichte erfährt.
Trotz der Kürze der
eigentlichen Erzählung – das Buch hat lediglich vierundzwanzig
nicht nummerierte Seiten – gelingt es den Autoren auf
faszinierend-unaufdringliche Art und Weise ein erstaunlich großes
Spektrum an wichtigen Details und bitteren Wahrheiten über die
Schoah zu vermitteln, ohne dass sich der kindliche Leser überfordert
fühlen muss. Tatsächlich rühren die Bilder Roberto Innocentis auf
besonders herzzerreissende Art und Weise auch das Kind im Erwachsenen
an.
Auch Innocenti setzt dem
dominierenden Schwarz-Grau seiner technisch-perfekten,
schneidend scharfen Zeichnungen mit äußerstem künstlerischen
Bedacht kleine deutlich erkennbare Farbinseln und kontrastierende
Irritationen entgegen: den gelben Judenstern an den Mänteln der
deportierten Juden, das Weiß des am Bahnhof verlassen
zurückbleibenden Kinderwagens und auch das reine leuchtende Weiß
des Bündels, in das der schutzbedürftige Säugling eingewickelt
ist. Schon beim Wurf aus dem rollenden Gefängnis des Viehwaggons
erscheint das menschliche Bündel jedoch in der „rosenfingrigen“
Farbe des unverwüstlichen, beharrlichen, gerade erwachenden Lebens.
Vor allem die dunklen
Kriegsbilder – aber auch (allerdings in weitaus geringerem Ausmaß)
die farbigen Zeichnungen der Rahmenhandlung – offenbaren in
Details deutliche Strukturen des Verfalls: Risse in den Wänden,
zerbrochene Glasscheiben, abgeblätterter Putz. Selbst im von einem
Wirbelsturm heimgesuchten Rothenburg des Jahres 1995 erscheinen
ganze Dächer abgedeckt:
Ein älterer
Ladenbesitzer, der in der Nähe stand, erzählte uns,
dass der Sturm ebenso
große Verwüstungen verursacht habe wie der letzte
alliierte Luftangriff
während des Kriegs.
So bleiben die Verletzungen
des Kriegs und der Schoah unter der Oberfläche allgegenwärtig: Ruth
Vander Zee und Roberto Innocenti haben ihnen mit ihrem großartigen,
bildmächtig-versöhnlichen Buch einen wichtigen Platz in unserem
Bewusstsein zurückgegeben. Die beeindruckendste Zeichnung in
„Erikas Geschichte“ jedoch ist das panoramaartige farbige
Schlussbild einer Nachkriegsjugend in der Schwebe: die entwurzelte,
heranwachsende Erika steht allein in Sichtweite der Häuser ihres
Dorfes und blickt vor einem stürmisch-veränderlichen Herbsthimmel
mit wehendem Kleid einem vorbeirauschenden Güterzug hinterher. Erst
am Ende des Buches heißt es:
Heute hat mein Baum
wieder Wurzeln. Und mein Stern leuchtet noch immer.
„Erikas Geschichte“ ist
vor allem dank der wunderbaren poetischen Bildsprache Roberto
Innocentis ein absolutes buchkünstlerisches Meisterwerk, dessen
unnachahmliche Bilder noch lange im Betrachter nachhallen.
„Erikas Geschichte“,
aus dem Amerikanischen von Gabriele Haefs, erschienen bei
Gerstenberg, 24 Seiten, € 16,95
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