Jerusalem

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Samstag, 13. Juli 2013

„Erikas Geschichte“ von Ruth Vander Zee und Roberto Innocenti

Es ist nicht nur ein vielfach erprobtes, sondern auch äußerst wirkungsvolles Stilmittel ambitionierter Buch- und Comic-Illustratoren, zu erzählende Vergangenheit mit Hilfe von Bildern in Schwarz-Weiß-Technik in Szene zu setzen. In einem Werk über die Schoah jedoch scheint diese Wahl der bildnerischen Mittel ganz besonders naheliegend, nicht nur weil ein Großteil aller historischen Bilddokumente aufgrund der damaligen technischen Voraussetzungen naturgemäß lediglich in diesem Format vorliegt; darüber hinaus lädt diese unwillkürlich abstrahierende Verfahrensweise den Betrachter auch dazu ein, sich mit den drängenden moralischen und philosophischen Fragen dieser Zeit auseinanderzusetzen.

Die fehlende natürliche Farbe suggeriert dabei bereits einen wesentlichen, nahezu allumfassenden Mangel an allem allgemein-anerkannt Menschlichen, der besonders dann in unserer erheblichen Irritation deutlich wird, wenn wir einmal ganz unverhofft die seltenen Farbaufnahmen aus jener Zeit zu sehen bekommen: Wie ist es möglich, scheinen diese Bilder uns regelrecht anzuschreien, dass trotz der hinlänglich bekannten schreckenerregenden gesellschaftlichen und politischen Rahmenbedingungen im Nationalsozialismus die Blätter der Bäume grün sind, bunte Blumen blühen und SS-Männer eine unverdient-gesunde Hautfarbe besitzen?

Auch der Regisseur Steven Spielberg drehte sein beeindruckendes Opus magnum „Schindlers Liste“ ganz bewusst in Schwarz-Weiß – und die wenigsten, die diesen unvergesslichen Film gesehen haben, werden sich daran erinnern, dass in einigen Massenszenen in seinem Verlauf immer wieder ein kleines Mädchen auftauchte, dessen Mantel während der technischen Nachbereitung des Films rot koloriert worden war. Mit diesem genialen kleinen Kunstgriff gelang es dem Regisseur, gerade im kollektiven Schicksal der europäischen Juden doch wieder das furchtbare Los des Einzelnen herauszustellen, die Zusammensetzung einer letztlich lediglich nüchtern-abstrakt wirkenden Zahl zu einem umfassenden Begreifen der sinnlosen vorsätzlichen Vernichtung unzähliger einzelner Leben erfolgreich aufzubrechen.

Einst hieß es, mein Volk werde so zahlreich sein wie die Sterne am Himmel.
Zwischen 1933 und 1945 sind sechs Millionen von diesen Sternen ausgelöscht worden.
Jeder Stern steht für einen Menschen aus meinem Volk, dessen Leben zerstört und dessen Familie auseinandergerissen wurde.

So schreibt die amerikanische Kinderbuchautorin und Musikpädagogin Ruth Vander Zee in ihrem vom italienischen Meisterillustrator Roberto Innocenti ebenso bildmächtig wie poetisch in Szene gesetzten international vielfach prämierten Bilderbuch „Erikas Geschichte“, das zehn Jahre nach seinem ersten Erscheinen in den USA nun in einer buchkünstlerisch schönen und überarbeiteten deutschen Neuausgabe vorliegt.


Roberto Innocenti gilt mit seinem stilbildenden Buch „Rosa Weiss“ (1986) als weltweit erster Illustrator, der es wagte, die Schoah zum Thema eines erzählenden Bilderbuchs zu machen und darf deshalb durchaus die Ehre für sich reklamieren, auf diese Weise ein neues Genre im Bereich Kinder- und Jugendbuch begründet zu haben. Auch für „Erikas Geschichte“ hat der Autodidakt eine künstlerisch beeindruckende Reihe ultrarealistischer großformatiger Zeichnungen geschaffen, die unter Aufbietung aller Schattierungen der Farbe Grau mühelos eine beängstigende Atmosphäre allgegenwärtiger Angst und Unterdrückung im Betrachter hervorzurufen vermögen.

Die von den beiden Autoren mit nur wenigen Bildern und in einer sehr knappen reduzierten Sprache in nur wenigen Worten erzählte Geschichte ist absolut ungeheuerlich: eine Frau wirft ihr lediglich einige Wochen altes Baby aus dem fahrenden Zug. Doch was wir aus der Sicht unserer heutigen in vielerlei Hinsicht privilegierten Lebensrealität als Ausdruck äußerster sittlicher Verrohung, seelischer Grausamkeit und unbegreiflicher Kaltherzigkeit werten müssten, erweist sich in den bitteren Tagen des Zweiten Weltkriegs als unerwartete Geste radikalster mütterlicher Liebe, gänzlich unwahrscheinlichste letzte Hoffnung – und letztlich auch als tatsächliche Rettung: denn der Zug ist ein Transport in die deutschen Todeslager, die verzweifelte Mutter eine von den Machthabern zum sicheren Tod verurteilte Jüdin.

Und was dann passiert ist, ist das Einzige, was ich mit Sicherheit weiß.
Meine Mutter hat mich aus dem Zug geworfen.

Das junge Mädchen überlebt – liebevoll auf- und als eigenes Kind angenommen von einer deutschen Familie, die sie jedoch nicht im Unklaren lässt über ihre Herkunft. Eingebettet ist diese Geschichte in eine Rahmenhandlung, in der die amerikanische Autorin während einer Europareise der Erzählerin zufällig begegnet und bei dieser Gelegenheit auch ihre bewegende Lebensgeschichte erfährt.

Trotz der Kürze der eigentlichen Erzählung – das Buch hat lediglich vierundzwanzig nicht nummerierte Seiten – gelingt es den Autoren auf faszinierend-unaufdringliche Art und Weise ein erstaunlich großes Spektrum an wichtigen Details und bitteren Wahrheiten über die Schoah zu vermitteln, ohne dass sich der kindliche Leser überfordert fühlen muss. Tatsächlich rühren die Bilder Roberto Innocentis auf besonders herzzerreissende Art und Weise auch das Kind im Erwachsenen an.

Auch Innocenti setzt dem dominierenden Schwarz-Grau seiner technisch-perfekten, schneidend scharfen Zeichnungen mit äußerstem künstlerischen Bedacht kleine deutlich erkennbare Farbinseln und kontrastierende Irritationen entgegen: den gelben Judenstern an den Mänteln der deportierten Juden, das Weiß des am Bahnhof verlassen zurückbleibenden Kinderwagens und auch das reine leuchtende Weiß des Bündels, in das der schutzbedürftige Säugling eingewickelt ist. Schon beim Wurf aus dem rollenden Gefängnis des Viehwaggons erscheint das menschliche Bündel jedoch in der „rosenfingrigen“ Farbe des unverwüstlichen, beharrlichen, gerade erwachenden Lebens.

Vor allem die dunklen Kriegsbilder – aber auch (allerdings in weitaus geringerem Ausmaß) die farbigen Zeichnungen der Rahmenhandlung – offenbaren in Details deutliche Strukturen des Verfalls: Risse in den Wänden, zerbrochene Glasscheiben, abgeblätterter Putz. Selbst im von einem Wirbelsturm heimgesuchten Rothenburg des Jahres 1995 erscheinen ganze Dächer abgedeckt:

Ein älterer Ladenbesitzer, der in der Nähe stand, erzählte uns,
dass der Sturm ebenso große Verwüstungen verursacht habe wie der letzte
alliierte Luftangriff während des Kriegs.

So bleiben die Verletzungen des Kriegs und der Schoah unter der Oberfläche allgegenwärtig: Ruth Vander Zee und Roberto Innocenti haben ihnen mit ihrem großartigen, bildmächtig-versöhnlichen Buch einen wichtigen Platz in unserem Bewusstsein zurückgegeben. Die beeindruckendste Zeichnung in „Erikas Geschichte“ jedoch ist das panoramaartige farbige Schlussbild einer Nachkriegsjugend in der Schwebe: die entwurzelte, heranwachsende Erika steht allein in Sichtweite der Häuser ihres Dorfes und blickt vor einem stürmisch-veränderlichen Herbsthimmel mit wehendem Kleid einem vorbeirauschenden Güterzug hinterher. Erst am Ende des Buches heißt es:

Heute hat mein Baum wieder Wurzeln. Und mein Stern leuchtet noch immer.

Erikas Geschichte“ ist vor allem dank der wunderbaren poetischen Bildsprache Roberto Innocentis ein absolutes buchkünstlerisches Meisterwerk, dessen unnachahmliche Bilder noch lange im Betrachter nachhallen.

Erikas Geschichte“, aus dem Amerikanischen von Gabriele Haefs, erschienen bei Gerstenberg, 24 Seiten, € 16,95

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