Jerusalem

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Donnerstag, 29. August 2013

„Strom“ von Hannah Dübgen

Man kann nicht sagen, dass der Debütroman der Theaterautorin und Opernlibrettistin Hannah Dübgen (geboren 1977) frei von menschlichem Mitleid und sozialem Einfühlungsvermögen sei. Tatsächlich bringt die Teilnehmerin der Tage der deutschsprachigen Literatur 2013 in Klagenfurt („Ingeborg-Bachmann-Preis“) sogar eine überdurchschnittlich hoch ausgebildete Fähigkeit zur empathischen individuellen Figurenzeichnung mit.



In ihrem eleganten, lesenswerten und unwillkürlich an so erfolgreiche Episodenfilme wie Jim Jarmuschs „Night on Earth“ oder „Short Cuts“ von Robert Altman erinnernden ersten Roman „Strom“ schlüpft sie erzählerisch meistenteils höchst überzeugend in so unterschiedlich angelegte Charaktere wie die in Paris lebende japanische Konzertpianistin Makiko, den unglücklich in Israel verheirateten brasilianischen Zoologen Luiz, die um ihre langjährige Partnerin trauernde deutsche Dokumentarfilmerin Ada oder den in Tokio die mögliche Übernahme eines japanischen Elektronikkonzern vorbereitenden amerikanischen Investmentbanker Jason.

Nah oder fern gibt es nicht mehr, nur noch nah oder fremd

So lautet das übergeordnete Motto von Hannah Dübgens die unserer Zeit immanente Relativierung geographischer Entfernungen (vermutlich durch Wohlstand und Technik) postulierendem Roman, dessen irreführend technokratisch klingenden Titel (verstärkt noch durch den Eindruck des postmodernen Covers) der im Sinne der Autorin letztlich folgerichtig an der sich für ihn als unüberwindlich erweisenden Fremdheit der japanischen Sitten scheiternde Jason im Verlauf der Handlung seiner einheimischen Sekretärin zu erläutern versucht:

Das Einzige, das wir mit absoluter Sicherheit sagen können, ist, dass wir jetzt und hier Teil jenes Stromes sind, den wir in uns spüren, wenn wir stillhalten, den wir sogar hören können, wenn wir darauf achten, dieses Rauschen hinter dem Ticken der Uhren, dieser Fluss an Energie, der immerzu nach vorne zieht und uns fühlen lässt, dass wir da sind, hier und jetzt, in unserer Zeit.“ - Mai öffnete die Augen und überraschte Jason mit ihrer prompten Antwort: „Dass wir sind, können wir so spüren, nicht aber, wer wir sind.“ Ihr Gesicht begann zu glühen: „Genau dafür brauchen wir doch die Welt! Brauchen Räume, in denen sich die Zeit staut, Orte, die Spuren tragen, die von Menschen erzählen, selbst dann, wenn diese schon fort oder nicht mehr sind, ein Ort“, flüsterte Mai, „der auch dann nicht vergisst, wenn wir uns nicht mehr erinnern können...“

Auf gänzlich andere Art und Weise – jedoch kaum weniger intensiv – spürt diesen Strom der Gegenwärtigkeit und des sinnlich erfahrbaren Lebens auch die gefeierte Pianistin Makiko, nicht nur in ihrem virtuosen Spiel, sondern auch in ihrer ungewöhnlichen langjährigen, geheimen Beziehung zu Gerald, ihrem in London anderweitig, jedoch nicht unglücklich gebundenem Manager:

Sie brauchten keine Worte, keinen Status, um zu wissen, was sie beide waren. Sie waren die einzigen Zeugen ihrer im Verborgenen lebenden Geschichte. Einer Geschichte ohne gemeinsames Zähneputzen, ohne Ringe, ohne Besitz. Einer Geschichte der reinen Lust, des kostbaren Augenblicks. Je purer das Begehren, desto vollkommener die Ruhe danach. Yin und Yang. Schön, solange sie sich nicht mischten, sondern ergänzten. [...] Ihre Beziehung war perfekt, genau so, wie sie war.

Überhaupt gelingen Hannah Dübgen zahlreiche gerade in ihrer Unterschiedlichkeit überraschend glaubwürdige Schilderungen menschlicher Liebesbeziehungen sowie männlicher und weiblicher Sexualität. Fast alle ihrer Protagonisten, die auf nur für den Leser erkennbare Art und Weise in ihren Lebenswegen aufs Engste miteinander verbunden zu sein scheinen (was beim Lesen einen wesentlichen Reiz des höchst unterhaltsamen Romans ausmacht, denn zuweilen rätselt man, ob diese Verbindungen womöglich noch enger sein könnten als es zunächst scheint) – leben zumindest vorübergehend geheime oder aus verschiedensten Gründen zumindest schwierige Liebesbeziehungen.

So auch der Brasilianer Luiz, der mit seiner israelischen Frau in Tel Aviv eine Familie gegründet hat und der allgegenwärtigen Bedrohung sowie den ständigen, von ihm als ermüdend wahrgenommenen politischen Diskussionen aller Richtungen durch eine amazonisch-wilde Affäre mit seiner unkonventionellen Landsfrau Joana zu entfliehen versucht. Seiner persönlichen Innensicht verdanken wir einige der wahrhaftigsten Schilderungen des israelischen Alltags seit langem, die wir uns von vielen gemeinhin ins Deutsche übersetzten israelischen Autoren oft vergeblich erhoffen.

Barfuß wanderte er über den Rasen, der an einigen Stellen verbrannt war, Rachels halbherzige Bewässerung, ihr schlechtes Gewissen den Palästinensern gegenüber. Luiz lief an dem Olivenbaum vorbei, am Sandkasten und der Schaukel, bis zu den Zitronenbäumen, zwischen den Ästen tastete er sich weiter und erreichte schließlich den Zaun. [...] Weiter unten am Hang knatterte ein Moped, Luiz sah im Geiste, wie die Räder den trockenen Staub aufwirbelten, Jugendliche brachen auf zu den Clubs am Strand. Sein Blick glitt nach rechts, folgte den Motoren. Die Restaurants am Pier, die lauten Bars im Zentrum, in denen sich schwitzende Körper aneinanderdrängten, tanzten, im Nacken der Krieg, um die Angst, die bleiernen Gedanken rhythmisch aufzusprengen... All das schien weit weg. Diese Stadt ist gut, wenn du hungrig bist, hatte Mark, sein Vorgänger im Institut gesagt. Hungrig und allein.

Durch die junge Dokumentarfilmerin Ada erhalten wir außerdem einen intensiv-unverstellten Blick auf die desolaten Verhältnisse im Gazastreifen. Gegen Ende der Handlung gibt es diesbezüglich ein interessantes Gespräch zwischen Ada und Jason, das mit einer überraschenden Analyse die außerordentlichen Fähigkeiten und das herausragende Talent der Autorin offenbaren, sich in fremde Denkweisen und Emotionen einzuarbeiten:

Der Gazastreifen ist ein Gebiet mit blockierten Grenzen und daher von Treibstofflieferungen aus Israel abhängig. Wenn dort jemand den Hahn abdreht, kann das Ölkraftwerk in Gaza, das die Region mit Strom versorgt, nicht mehr produzieren.“ Ada strich sich eine Haarsträne aus der Stirn. „Zudem zerstören die Luftangriffe jedes Mal auch Teile der Infrastruktur, manches wird monatelang nicht repariert.“ - Ihr Nachbar nickte, sein Blick schweifte ab, als gliche er das, was Ada sagte, mit Bildern in seinem Inneren ab. „Das heißt“, begann er schließlich, „Sie meinen, um dort investieren zu können, großflächig, mit Perspektive, muss man zunächst das Land abtrennen, der israelischen Kontrolle entziehen?“ - Ada staunte: „Ja“, sagte sie. „Ganz genau.“

In der Schlussszene kommen, wie es sich für einen ambitionierten Episodenroman gehört, alle Protagonisten anlässlich eines Sinfoniekonzerts von Makiko in der ehrwürdigen Henry Crown Symphony Hall in Jerusalem zusammen, welches als Landeshauptstadt zeitgleich Schauplatz eines Staatsbesuchs des amerikanischen Präsidenten sowie einer großen konzertierten israelischen Friedensdemonstration ist. Die abschließende Diagnose, dass es angesichts dieses (freilich von der Autorin bewusst herbeigeführten) Zufalls in unserer Welt keine geographischen Entfernungen mehr gebe, ist für den Leser allerdings leider nur dann nachvollziehbar, wenn er bereit ist, sich eine Perspektive des Elitären zu eigen zu machen.

Denn während Jason, Makiko und Ada kurzfristig aus anderen Zeitzonen per Flugzeug angereist sind und Luiz und seine Frau Rachel, einer spontanen Laune folgend, aus Tel Aviv nach Jerusalem kommen, sind – nur wenige Kilometer vom Ort des Geschehens entfernt – Palästinenser in den besetzten Gebieten Tag für Tag allein auf den guten Willen der israelischen Besatzungsmacht angewiesen, um ihre armseligen Dörfer verlassen zu können. Doch auch im Kernland Israel sowie an allen anderen Schauplätzen des Romans gibt es bekanntermaßen einen nicht geringen Anteil der Bevölkerung, der von einem Flugticket allenfalls zu träumen vermag.

Gerade diese fundamentale Trennung lässt sich leider auch nicht durch ein Gefühl solidarischer Nähe überwinden. Trotz dieser bitteren, im Leser nachhaltig wirkenden Einschränkung ist Hannah Dübgen ein überdurchschnittliches Romandebüt gelungen, das nicht nur aufhorchen lässt, sondern auch große Erwartungen weckt.

„Strom“, erschienen bei dtv, 267 Seiten, € 14,90

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