Das allseits bekannte
psychologische Konzept von der jiddischen Mamme, die ihre
Kinder Zeit ihres Lebens mit zärtlicher, aber allzu
eifersüchtig-fordernder und kämpferischer Liebe bis weit über die
Schwelle des Erwachsenseins vor allen tatsächlichen und
eingebildeten Widrigkeiten des Lebens beschützt und jene in der
unbewussten Kenntnis vom Nutzen ihrer eigenen psychischen
Gebundenheit niemals loszulassen vermag, ist ein unverwüstlicher
Mythos, der längst festen Eingang in den sprichwörtlichen
Sprachgebrauch zahlreicher Sprachen gefunden hat, obwohl die in ihm
treffend beschriebene selbstgewählte emotionale Abhängigkeit der
Mutter in ihrer ängstlichen Fürsorge sich selbstverständlich kaum
auf wie auch immer zu definierende „jüdische“ Familienstrukturen
beschränken lässt.
In Marcel Mörings neuem
sprach- und bildmächtigen Roman „Im Wald“, dessen
assoziationsreicher Titel dem Leser unwillkürlich noch einmal das
furchtbare Waldversteck in einem Erdloch seines von den
Nationalsozialisten verfolgten Protagonisten im vorherigen Buch „Der nächtige Ort“ (2006) vor Augen ruft, wagt der 1957 in Enschede
geborene niederländisch-jüdische Schriftsteller, der in der
öffentlichen Wahtrnehmung im deutschen Sprachraum leider immer noch
im Schatten seines in vielerlei Hinsicht populäreren und
zugänglicheren Landsmanns Leon de Winter steht, eine scheinbar
ungewöhnliche Konstellation, indem er einen alleinerziehenden
Intellektuellen par exellence, den einsamen jüdischen
Schriftsteller Marcus Kolpa, zu einer Art jiddischer Mamme macht,
dessen langwierigen Weg zurück in ein selbstbestimmtes, unabhängiges
und erfülltes Leben er auf gewohnt weltläufige, philosophische und
anspielungsreiche Art und Weise auf mehr als fünfhundert Seiten als
packende biographische Detektivarbeit gestaltet.
„Marcus. [...]
Glaubst du an den Menschen?“
Ich zuckte fast
zusammen.
„Den Menschen? Ganz
allgemein? Die Menschheit? Oder meinst du den Menschen als
Individuum?“
Sie schüttelte
ungeduldig den Kopf.
„Den MENSCHEN. In
Großbuchstaben. Als Phänomen. Als Gattung. Als... Mensch. Glaubst
du an den Menschen?“
Sie musterte mich fast
gespannt, als wartete sie auf den Ausgang einer Wette, bei der viel
Geld auf dem Spiel stand.
„Nein“, sagte ich.
„Ich glaube nicht an den Menschen. Ich glaube an den Glauben an den
Menschen.“
Sie dachte nach. Nach
ein paar Sekunden begann sie zu nicken.
Die Einsamkeit des
Protagonisten scheint dabei allumfassend: seine Mutter Rivka, eine
Überlebende der Schoah, die Zeit seiner Kindheit und Jugend stets in
bitteren Erinnerungen versunken war, entdeckt eines Tages plötzlich
die unbeschwerte Lebensfreude, belegt Kochkurse und emigriert nach
Israel, wo sie ihren Familiennamen amtlich von „Kolpa“ in „Polak“
ändern lässt und sich bei ihrem Sohn künftig kaum öfter als
einmal im Jahr mit ein paar unverbindlichen Zeilen meldet. Kurz nach
der Geburt der gemeinsamen Tochter Rebecca verschwindet zudem in
Gestalt von Marcus' geliebter Frau Chaya die einzige Person spurlos,
die in ihm jemals eine Art von weltoffener Lebendigkeit auszulösen
vermocht hatte. Der angehende Schriftsteller sublimiert seinen
Verlust in ein allseits hochgelobtes Buch, das für Jahrzehnte sein
einziges bleiben wird, macht eine Erbschaft, die ihn für den Rest
seines Lebens von allen finanziellen Sorgen befreit und zieht mit
seiner kleinen Tochter in ein einsames Haus im Wald, das ihm unter
höchst merkwürdigen Bedingungen angeboten wird.
Die Einsamkeit des
Protagonisten scheint dabei allumfassend: seine Mutter Rivka, eine
Überlebende der Schoah, die Zeit seiner Kindheit und Jugend stets in
bitteren Erinnerungen versunken war, entdeckt eines Tages plötzlich
die unbeschwerte Lebensfreude, belegt Kochkurse und emigriert nach
Israel, wo sie ihren Familiennamen amtlich von „Kolpa“ in „Polak“
ändern lässt und sich bei ihrem Sohn künftig kaum öfter als
einmal im Jahr mit ein paar unverbindlichen Zeilen meldet. Kurz nach
der Geburt ihrer gemeinsamen Tochter Rebecca verschwindet zudem in
Gestalt von Marcus' geliebter Frau Chaya die einzige Person spurlos,
die in ihm jemals eine Art von weltoffener Lebendigkeit auszulösen
vermocht hatte. Der angehende Schriftsteller sublimiert seinen
Verlust in ein allseits hochgelobtes Buch, das für Jahrzehnte sein
einziges bleiben wird, macht eine Erbschaft, die ihn für den Rest
seines Lebens von allen finanziellen Sorgen befreit und zieht mit
seiner kleinen Tochter in ein einsames Haus im Wald, das ihm unter
höchst merkwürdigen Bedingungen angeboten wird.
In den letzten Jahren
hatte ich lange und genau in den Spiegel geschaut und studiert, was
ich da sah. Es hatte mir nicht gefallen. Ja, es waren schreckliche,
tragische Dinge passiert. Es wäre seltsam, wenn ich davon nicht
berührt worden wäre, sogar angeschlagen. Aber das erklärte meine
Distanz zur Welt nicht, es war keine Erklärung für dieses
schweigende Schmollen in einem riesigen Haus. Wenn ich eine Liste
erstellen würde von dem, was ich richtig und was falsch gemacht
hatte, dann konnte ich mit Zufriedenheit lediglich auf die Zeit, die
Zuwendung und die Liebe zurückblicken, die ich Rebecca geschenkt
hatte.
Hier im symbolträchtigen
Halbdunkel des Waldes, abgeschirmt vom normalen, unvorhersehbaren
Gang des Lebens, versinkt Marcus im Unbewußten seiner ereignisarmen,
unproduktiven Existenz sowie der selbstgestellten mütterlichen
Aufgabe, seine Tochter zu einem selbstbewussten, empathischen
Menschen zu erziehen und sie nachhaltig vor möglichen Enttäuschungen
zu bewahren. Rebecca jedoch ist von Anfang an ein unabhängiges Kind,
das schon im Alter von acht Jahren allein den Wald durchstreift, sich
über die Jahre eine ambitionierte Bastelwerkstatt auf dem geräumigen
Dachboden einrichtet und schon mit zehn Jahren ernsthaft verkündet,
dass sie bildende Künstlerin werden wolle. Als sie ihr Vorhaben nach
dem Abitur unverzüglich und plangemäß umsetzt und ihren
verunsicherten Vater in der geräumigen Villa allein zurücklässt,
kommt plötzlich unverhofft Bewegung in dessen Leben: durch Zufall
erfährt Marcus, dass seine Mutter bis zu seiner Geburt schon einmal
Polak hieß – ist sie wirklich seine leibliche Mutter? Und wer ist
sein Vater, von dem die Alleinerziehende nie gesprochen hat?
„Ich... Ich habe mein
ganzes Leben lang einen Traum gehabt. Der immer wiederkam.“
Nimm
deine Sachen. Wir gehen.
Ich erzählte. Als ich
fertig war, nickte sie.
„Glaubst Du, es war
ein Traum, oder war es eine Erinnerung, die die Form eines Traums
angenommen hat?“
Marcel Möring/Foto: Keke Keukelaar |
Je intensiver der
zunehmend ratlose Schriftsteller in Details seiner Kindheit
einzudringen versucht, an die er kaum noch substanzielle Erinnerungen
zu besitzen scheint, desto mehr drängende Fragen wirft er auf. Lebt
seine Frau Chaya noch? Hat er sie wirklich persönlich in eine
psychiatrische Klinik in Israel eingeliefert? Welche rätselhafte
Verbindung besteht zum Vorbesitzer der Villa im Wald, einem reichen
nach Amerika emigrierten Juden? Marcel Möring entrollt in seinem
Roman eine erschütternde Geschichte von Juden- und
Rauschgifttransporten, jüdischen Vätern und Müttern, über
Identität und den Verlust derselben sowie über Last und Lohn der
Verantwortung für das Leben eines anderen Menschen. Erst als sich
Marcus schließlich den verdrängten Umständen seiner Herkunft voll
und ganz bewußt geworden ist, kann er sich aus dem vom Waldhaus
repräsentierten Zustand der Unbewußtheit befreien und sich endlich
voll und ganz dem ihm versprochenen Leben öffnen. Anders als in
Itzik Mangers berühmten Lied „Ojfn Weg“, das Mutter und Kind in
falsch verstandener Liebe handlungsunfähig verharren lässt, dürfen
am Ende des Buches alle Protagonisten ihre Flügel ausbreiten und
fliegen.
„Im Wald“, aus dem
Niederländischen von Helga von Beuningen, erschienen bei
Luchterhand, 511 Seiten, € 22,99
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