Jerusalem

Jerusalem

Donnerstag, 24. Juli 2014

„Im Wald“ von Marcel Möring

Das allseits bekannte psychologische Konzept von der jiddischen Mamme, die ihre Kinder Zeit ihres Lebens mit zärtlicher, aber allzu eifersüchtig-fordernder und kämpferischer Liebe bis weit über die Schwelle des Erwachsenseins vor allen tatsächlichen und eingebildeten Widrigkeiten des Lebens beschützt und jene in der unbewussten Kenntnis vom Nutzen ihrer eigenen psychischen Gebundenheit niemals loszulassen vermag, ist ein unverwüstlicher Mythos, der längst festen Eingang in den sprichwörtlichen Sprachgebrauch zahlreicher Sprachen gefunden hat, obwohl die in ihm treffend beschriebene selbstgewählte emotionale Abhängigkeit der Mutter in ihrer ängstlichen Fürsorge sich selbstverständlich kaum auf wie auch immer zu definierende „jüdische“ Familienstrukturen beschränken lässt.




In Marcel Mörings neuem sprach- und bildmächtigen Roman „Im Wald“, dessen assoziationsreicher Titel dem Leser unwillkürlich noch einmal das furchtbare Waldversteck in einem Erdloch seines von den Nationalsozialisten verfolgten Protagonisten im vorherigen Buch „Der nächtige Ort“ (2006) vor Augen ruft, wagt der 1957 in Enschede geborene niederländisch-jüdische Schriftsteller, der in der öffentlichen Wahtrnehmung im deutschen Sprachraum leider immer noch im Schatten seines in vielerlei Hinsicht populäreren und zugänglicheren Landsmanns Leon de Winter steht, eine scheinbar ungewöhnliche Konstellation, indem er einen alleinerziehenden Intellektuellen par exellence, den einsamen jüdischen Schriftsteller Marcus Kolpa, zu einer Art jiddischer Mamme macht, dessen langwierigen Weg zurück in ein selbstbestimmtes, unabhängiges und erfülltes Leben er auf gewohnt weltläufige, philosophische und anspielungsreiche Art und Weise auf mehr als fünfhundert Seiten als packende biographische Detektivarbeit gestaltet.

Marcus. [...] Glaubst du an den Menschen?“
Ich zuckte fast zusammen.
Den Menschen? Ganz allgemein? Die Menschheit? Oder meinst du den Menschen als Individuum?“
Sie schüttelte ungeduldig den Kopf.
Den MENSCHEN. In Großbuchstaben. Als Phänomen. Als Gattung. Als... Mensch. Glaubst du an den Menschen?“
Sie musterte mich fast gespannt, als wartete sie auf den Ausgang einer Wette, bei der viel Geld auf dem Spiel stand.
Nein“, sagte ich. „Ich glaube nicht an den Menschen. Ich glaube an den Glauben an den Menschen.“
Sie dachte nach. Nach ein paar Sekunden begann sie zu nicken.


Die Einsamkeit des Protagonisten scheint dabei allumfassend: seine Mutter Rivka, eine Überlebende der Schoah, die Zeit seiner Kindheit und Jugend stets in bitteren Erinnerungen versunken war, entdeckt eines Tages plötzlich die unbeschwerte Lebensfreude, belegt Kochkurse und emigriert nach Israel, wo sie ihren Familiennamen amtlich von „Kolpa“ in „Polak“ ändern lässt und sich bei ihrem Sohn künftig kaum öfter als einmal im Jahr mit ein paar unverbindlichen Zeilen meldet. Kurz nach der Geburt der gemeinsamen Tochter Rebecca verschwindet zudem in Gestalt von Marcus' geliebter Frau Chaya die einzige Person spurlos, die in ihm jemals eine Art von weltoffener Lebendigkeit auszulösen vermocht hatte. Der angehende Schriftsteller sublimiert seinen Verlust in ein allseits hochgelobtes Buch, das für Jahrzehnte sein einziges bleiben wird, macht eine Erbschaft, die ihn für den Rest seines Lebens von allen finanziellen Sorgen befreit und zieht mit seiner kleinen Tochter in ein einsames Haus im Wald, das ihm unter höchst merkwürdigen Bedingungen angeboten wird.




Die Einsamkeit des Protagonisten scheint dabei allumfassend: seine Mutter Rivka, eine Überlebende der Schoah, die Zeit seiner Kindheit und Jugend stets in bitteren Erinnerungen versunken war, entdeckt eines Tages plötzlich die unbeschwerte Lebensfreude, belegt Kochkurse und emigriert nach Israel, wo sie ihren Familiennamen amtlich von „Kolpa“ in „Polak“ ändern lässt und sich bei ihrem Sohn künftig kaum öfter als einmal im Jahr mit ein paar unverbindlichen Zeilen meldet. Kurz nach der Geburt ihrer gemeinsamen Tochter Rebecca verschwindet zudem in Gestalt von Marcus' geliebter Frau Chaya die einzige Person spurlos, die in ihm jemals eine Art von weltoffener Lebendigkeit auszulösen vermocht hatte. Der angehende Schriftsteller sublimiert seinen Verlust in ein allseits hochgelobtes Buch, das für Jahrzehnte sein einziges bleiben wird, macht eine Erbschaft, die ihn für den Rest seines Lebens von allen finanziellen Sorgen befreit und zieht mit seiner kleinen Tochter in ein einsames Haus im Wald, das ihm unter höchst merkwürdigen Bedingungen angeboten wird.

In den letzten Jahren hatte ich lange und genau in den Spiegel geschaut und studiert, was ich da sah. Es hatte mir nicht gefallen. Ja, es waren schreckliche, tragische Dinge passiert. Es wäre seltsam, wenn ich davon nicht berührt worden wäre, sogar angeschlagen. Aber das erklärte meine Distanz zur Welt nicht, es war keine Erklärung für dieses schweigende Schmollen in einem riesigen Haus. Wenn ich eine Liste erstellen würde von dem, was ich richtig und was falsch gemacht hatte, dann konnte ich mit Zufriedenheit lediglich auf die Zeit, die Zuwendung und die Liebe zurückblicken, die ich Rebecca geschenkt hatte.

Hier im symbolträchtigen Halbdunkel des Waldes, abgeschirmt vom normalen, unvorhersehbaren Gang des Lebens, versinkt Marcus im Unbewußten seiner ereignisarmen, unproduktiven Existenz sowie der selbstgestellten mütterlichen Aufgabe, seine Tochter zu einem selbstbewussten, empathischen Menschen zu erziehen und sie nachhaltig vor möglichen Enttäuschungen zu bewahren. Rebecca jedoch ist von Anfang an ein unabhängiges Kind, das schon im Alter von acht Jahren allein den Wald durchstreift, sich über die Jahre eine ambitionierte Bastelwerkstatt auf dem geräumigen Dachboden einrichtet und schon mit zehn Jahren ernsthaft verkündet, dass sie bildende Künstlerin werden wolle. Als sie ihr Vorhaben nach dem Abitur unverzüglich und plangemäß umsetzt und ihren verunsicherten Vater in der geräumigen Villa allein zurücklässt, kommt plötzlich unverhofft Bewegung in dessen Leben: durch Zufall erfährt Marcus, dass seine Mutter bis zu seiner Geburt schon einmal Polak hieß – ist sie wirklich seine leibliche Mutter? Und wer ist sein Vater, von dem die Alleinerziehende nie gesprochen hat?

Ich... Ich habe mein ganzes Leben lang einen Traum gehabt. Der immer wiederkam.“
Nimm deine Sachen. Wir gehen.
Ich erzählte. Als ich fertig war, nickte sie.
Glaubst Du, es war ein Traum, oder war es eine Erinnerung, die die Form eines Traums angenommen hat?“

Marcel Möring/Foto: Keke Keukelaar

Je intensiver der zunehmend ratlose Schriftsteller in Details seiner Kindheit einzudringen versucht, an die er kaum noch substanzielle Erinnerungen zu besitzen scheint, desto mehr drängende Fragen wirft er auf. Lebt seine Frau Chaya noch? Hat er sie wirklich persönlich in eine psychiatrische Klinik in Israel eingeliefert? Welche rätselhafte Verbindung besteht zum Vorbesitzer der Villa im Wald, einem reichen nach Amerika emigrierten Juden? Marcel Möring entrollt in seinem Roman eine erschütternde Geschichte von Juden- und Rauschgifttransporten, jüdischen Vätern und Müttern, über Identität und den Verlust derselben sowie über Last und Lohn der Verantwortung für das Leben eines anderen Menschen. Erst als sich Marcus schließlich den verdrängten Umständen seiner Herkunft voll und ganz bewußt geworden ist, kann er sich aus dem vom Waldhaus repräsentierten Zustand der Unbewußtheit befreien und sich endlich voll und ganz dem ihm versprochenen Leben öffnen. Anders als in Itzik Mangers berühmten Lied „Ojfn Weg“, das Mutter und Kind in falsch verstandener Liebe handlungsunfähig verharren lässt, dürfen am Ende des Buches alle Protagonisten ihre Flügel ausbreiten und fliegen.



„Im Wald“, aus dem Niederländischen von Helga von Beuningen, erschienen bei Luchterhand, 511 Seiten, € 22,99

Keine Kommentare:

Kommentar veröffentlichen

Hinweis: Nur ein Mitglied dieses Blogs kann Kommentare posten.