Jerusalem

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Freitag, 11. Juli 2014

„Ich bin verboten“ von Anouk Markovits

In aufgeklärten Gesellschaften gilt jede Art des religiösen Fundamentalismus mit ihren zahlreichen restriktiven Vorschriften für eine tugendhafte Lebensführung zu Recht als unzulässiger Eingriff in die individuelle Freiheit des Einzelnen und wird vom Gesetzgeber folgerichtig streng sanktioniert; gleichzeitig erlaubt unser Pluralismus ausdrücklich die Existenz religiöser Gemeinschaften, deren Mitglieder sich aus freiem Willen diesen einschränkenden Regeln unterwerfen, solange sie nicht aktiv den Sturz der bestehenden Rechtsordnung betreiben. Wenn man sich als Außenstehender einmal die Mühe macht und einen Perspektivwechsel versucht, stellt man dabei oft fest, dass klare religiöse Gebote zur Lebensführung durch ihren allgemein verbindlichen und überpersönlichen Charakter von den Mitgliedern der jeweiligen Gemeinschaften oft als eine wirksame Befreiung von der Last der zahllosen Widersprüche und Versuchungen einer modernen weltlich orientierten Gesellschaft wahrgenommen werden.


In ihrem unvergesslich-berührenden Roman aus der abgeschlossenen Welt der ultraorthodoxen Satmar-Chassidim im New Yorker Stadtteil Williamsburg erzählt Anouk Markovits die unwahrscheinliche Geschichte einer großen, lebenslangen Liebe, die weder in der einen noch in der anderen Welt ganz heimisch zu werden vermag und deren Perspektive schließlich auf tragische Art und Weise an den Widersprüchen beider Welten zerbricht. Dabei spannt die in Frankreich selbst in das archaische Milieu des osteuropäischen Chassidismus hineingeborene Autorin einen großen pittoresken Bogen zärtlichster literarischer Welterkundung vom ländlichen Rumänien der Vorkriegszeit bis ins New York unserer Tage und berichtet dabei ganz nebenbei auch von einem der größten historischen Widersprüche der Bewegung: der gar nicht göttlichen Rettung des Satmarer Rebbe ausgerechnet mit Hilfe seines größten erklärten Feindes, dem politischen Zionismus.

Manche Leute sind böse auf den Rebbe. Sie sagen, er und die anderen Gemeindeführer, die mit diesem Zug geflohen sind, hätten sich schändlich verhalten. Es heißt, sie hätten von den Lagern gewusst, außerdem sei ihnen klar gewesen, dass Kasztners Zug nur durchgelassen werden würde, wenn die anderen Juden sich nicht mehr der Deportation widersetzten. Deshalb hat der Kasztnerkonvoi Kolozsvár auch erst verlassen, nachdem die anderen Juden deportiert worden waren. Sie wollten sichergehen, dass die Prominenten still hielten. „Es war ein guter Handel“, hat Eichmann während des Prozesses gesagt. [...] Kolozsvár war nur vier Kilometer von der Grenze entfernt, und im Frühjahr 1944 sind in Rumänien keine Juden mehr umgebracht worden. Hätten die Juden aus Kolozsvár von den Todeslagern gewusst, wären sie geflohen. Sie waren zwanzigtausend Juden, und es gab nur eine Handvoll bewaffneter Wachposten. Einige wären beim Fluchtversuch erschossen worden, doch die meisten hätten überlebt.

Der Satmarer Rebbe mit König Karl II. von Rumänien 1936

Das Buch beginnt mit einem ebenso eindringlichen wie zärtlichen Bild äußerster familiärer Idylle: im Haus des Thoragelehrten Jekutiel Lichtenstein im rumänischen Maramureş sucht der fünfjährige Josef unter dem Küchentisch nach einem soeben im Spiel heruntergefallenen hebräischen Holzbuchstaben, während seine Mutter die jüngere Tochter liebevoll mit Milchbrei füttert – nur einen Augenblick später hat die Schwester eine rostige Mistgabel im Kopf stecken, die Mutter wird auf dem Tisch brutal vergewaltigt und anschließend ermordet. Das christliche Kindermädchen findet den verstörten Josef am nächsten Tag unter dem Tisch und nimmt ihn unter falschem Namen mit auf den abgelegenen Bauernhof ihres Vaters, um ihn im ungarischen Teil Siebenbürgens als ihren eigenen Sohn in Sicherheit aufwachsen zu lassen: „Du sollst leben!“

Der Junge klopfte den Dreck von ihrem Mantel. Er band ihr die Haarschleife neu.
Mila“, sagte sie und deutete auf ihre Brust.
Anghel“, erwiderte er und deutete auf seine Brust.
Wo ist deine Mutter?“, fragte Mila.
Florina...“
Deine Mutter. Wo ist sie?“
Mama ist tot. Tatta ist tot. Pearela ist tot.“
Schefele.“ Mila streichelte Anghel über die Wange, und er erinnerte sich, dass das Wort Schäfchen bedeutete.

Als im Jahr 1944 schließlich auch in Ungarn die Deportationen in die Vernichtungslager beginnen, gelingt es Josef durch Zufall ein kleines jüdisches Mädchen vor dem sicheren Tod zu retten, dessen Eltern vor den Augen der beiden Kinder erschossen worden waren. Nach dem Krieg wächst Mila in der Familie des angesehenen Kantors Zalman Stern in Paris auf, während der aufgeweckte Josef an den Hof des Satmarer Rebbe geschickt wird, wo er ein traditionelles Thora-Studium beginnt und dort bald zu den geachtetsten jungen Rabbinern der Gemeinde zählt. Als er schließlich aus der Ferne formell um Milas Hand anhält und es zu einem ersten Treffen kommt, ist es wie ein lang ersehntes Wiederfinden, das jeden möglichen Zweifel am traditionellen System der arrangierten Ehen innerhalb der religiösen Gemeinschaft in Mila verwischt. Doch trotz aller ehrlich empfundener Zärtlichkeit und organisch gewachsener Vertrautheit legt sich über die Jahre ein heimlicher Schatten über die innige Beziehung der beiden: denn trotz genauester Befolgung der biblischen Gebote zur ehelichen Reinheit wird Mila nicht schwanger.

Hauptsynagoge der Satmarer Chassidim in Kiryas Joel, NY

Wenn er mit der Hand seinen Penis berührt, soll ihm die Hand auf dem Bauch abgeschnitten werden. Würde dann nicht sein Bauch aufgeschlitzt? Lieber ein aufgeschlitzter Bauch... Würde ein Dorn in seinem Bauch stecken, müsste er ihn nicht entfernen? Nein. Und warum das alles? Samen vergebens zu vergießen, ist gleichbedeutend mit Mord.

Nach zehn Jahren schmerzlicher Kinderlosigkeit, einer ebenso anstrengenden wie fruchtlosen Hormonbehandlung sowie endlosen talmudischen Diskussionen über die Frage, ob es Josef unter bestimmten Voraussetzungen gestattet sei, seinen kostbaren männlichen Samen für eine wissenschaftliche Untersuchung seiner Zeugungsfähigkeit unnütz zu vergeuden, dürfte ihr Mann sie mit dem offiziellen Segen der Gemeinde verstoßen. Obwohl dieser Gedanke dem besonnenen Josef vollkommen fern liegt, da er seine Frau immer noch mit bedingungsloser Zärtlichkeit liebt, ist Mila innerlich bereits in komplizierten kabbalistischen Rechnungen und Auslegungen der biblischen Überlieferung gefangen, die ihr in der Gestalt Thamars einen letzten möglichen Ausweg anzubieten scheint. Mit einer verzweifelten, allerletzten Entscheidung von unstatthafter weiblicher Selbstbestimmung im symbolträchtigen Jahr 1968 setzt Mila jedoch nicht nur das eigene Glück aufs Spiel, sondern auch das ihres Mannes sowie all ihrer möglichen Nachkommen „bis ins zehnte Glied“.

Half ihm etwa das Gesetz, das Gesetz zu umgehen? Selbst, wenn er die Wahrheit schon immer gewusst hatte? In einem anderen Eintrag ging es um einen Rabbiner, der sehr weit gegangen war, damit er das Stigma des Mamsers nicht verhängen musste, und im Fall eines Ehemanns, der neun Monate vor Geburt eines Kindes auf Reisen gewesen war, eine zehnmonatige Schwangerschaft in Erwägung gezogen hatte. Wenn aber die Richter ihm nicht mehr glauben durften, wäre Josef das Schicksal des Sünders beschieden, der niemals vor ein Menschengericht kam. Dann stand er auf einer Ebene mit heimlichen Schändern des Sabbats, mit Onanierern und Ehebrechern. Ihn träfe die Karethstrafe, und seine Seele würde für immer verbannt. Ewiges Exil. Ewiger Winter. Dasselbe würde MiIla geschehen.

Anouk Markovits/Foto: Beowulf Sheehan

Anouk Markovits stiller, strahlend schöner Roman ist der seltene Glücksfall eines absolut unvoreingenommenen, ebenso kenntnisreichen wie empathischen Buchs über die hermetische Welt des ultraorthodoxen Judentums, das sich jeden simplen Urteils enthält und beide getrennte Welten in all ihrer Schönheit, Fremdartigkeit und auch in all ihren Widersprüchen gleichberechtigt nebeneinander bestehen lässt: am melancholischen Ende bilden der letzte Buchstabe der Thora ל und der erste ב gemeinsam das allumschließende hebräische Wort ל ב („Herz“). Dabei gelingt es der im Alter von neunzehn Jahren selbst vor einer arrangierten Heirat geflohenen und damit endgültig aus dem Milieu ausgestiegenen Autorin auf bewundernswerte Art und Weise, die Beweggründe für ein bewusstes Verharren in dieser archaischen Welt aufzuzeigen und ehrliches, tief empfundenes Verständnis für eine geheimnisvolle Parallelwelt zu wecken, deren scheinbar unzeitgemäße Motive auch eine moderne laizistische Gesellschaft in einer ehrlichen Auseinandersetzung mit ihnen spirituell zu bereichern vermögen.

„Ich bin verboten“, aus dem Amerikanischen von Anne Rademacher, erschienen bei Knaus, 288 Seiten, € 19,99

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