In
aufgeklärten Gesellschaften gilt jede Art des religiösen
Fundamentalismus mit ihren zahlreichen restriktiven Vorschriften für
eine tugendhafte Lebensführung zu Recht als unzulässiger Eingriff
in die individuelle Freiheit des Einzelnen und wird vom Gesetzgeber
folgerichtig streng sanktioniert; gleichzeitig erlaubt unser
Pluralismus ausdrücklich die Existenz religiöser Gemeinschaften,
deren Mitglieder sich aus freiem Willen diesen einschränkenden
Regeln unterwerfen, solange sie nicht aktiv den Sturz der bestehenden
Rechtsordnung betreiben. Wenn man sich als Außenstehender einmal die
Mühe macht und einen Perspektivwechsel versucht, stellt man dabei
oft fest, dass klare religiöse Gebote zur Lebensführung durch ihren
allgemein verbindlichen und überpersönlichen Charakter von den
Mitgliedern der jeweiligen Gemeinschaften oft als eine wirksame
Befreiung von der Last der zahllosen Widersprüche und Versuchungen
einer modernen weltlich orientierten Gesellschaft wahrgenommen
werden.
In
ihrem unvergesslich-berührenden Roman aus der abgeschlossenen Welt
der ultraorthodoxen Satmar-Chassidim im New Yorker Stadtteil
Williamsburg erzählt Anouk Markovits die unwahrscheinliche
Geschichte einer großen, lebenslangen Liebe, die weder in der einen
noch in der anderen Welt ganz heimisch zu werden vermag und deren
Perspektive schließlich auf tragische Art und Weise an den
Widersprüchen beider Welten zerbricht. Dabei spannt die in
Frankreich selbst in das archaische Milieu des osteuropäischen
Chassidismus hineingeborene Autorin einen großen pittoresken Bogen
zärtlichster literarischer Welterkundung vom ländlichen Rumänien
der Vorkriegszeit bis ins New York unserer Tage und berichtet dabei
ganz nebenbei auch von einem der größten historischen Widersprüche
der Bewegung: der gar nicht göttlichen Rettung des Satmarer Rebbe
ausgerechnet mit Hilfe seines größten erklärten Feindes, dem
politischen Zionismus.
Manche
Leute sind böse auf den Rebbe. Sie sagen, er und die anderen
Gemeindeführer, die mit diesem Zug geflohen sind, hätten sich
schändlich verhalten. Es heißt, sie hätten von den Lagern gewusst,
außerdem sei ihnen klar gewesen, dass Kasztners Zug nur
durchgelassen werden würde, wenn die anderen Juden sich nicht mehr
der Deportation widersetzten. Deshalb hat der Kasztnerkonvoi
Kolozsvár auch erst
verlassen, nachdem die anderen Juden deportiert worden waren. Sie
wollten sichergehen, dass die Prominenten still hielten. „Es war
ein guter Handel“, hat Eichmann während des Prozesses gesagt.
[...] Kolozsvár war nur
vier Kilometer von der Grenze entfernt, und im Frühjahr 1944 sind in
Rumänien keine Juden mehr umgebracht worden. Hätten die Juden aus
Kolozsvár von den
Todeslagern gewusst, wären sie geflohen. Sie waren zwanzigtausend
Juden, und es gab nur eine Handvoll bewaffneter Wachposten. Einige
wären beim Fluchtversuch erschossen worden, doch die meisten hätten
überlebt.
Der Satmarer Rebbe mit König Karl II. von Rumänien 1936 |
Das
Buch beginnt mit einem ebenso eindringlichen wie zärtlichen Bild
äußerster familiärer Idylle: im Haus des Thoragelehrten Jekutiel
Lichtenstein im rumänischen Maramureş
sucht der fünfjährige Josef unter dem Küchentisch nach einem
soeben im Spiel heruntergefallenen hebräischen Holzbuchstaben,
während seine Mutter die jüngere Tochter liebevoll mit Milchbrei
füttert – nur einen Augenblick später hat die Schwester eine
rostige Mistgabel im Kopf stecken, die Mutter wird auf dem Tisch
brutal vergewaltigt und anschließend ermordet. Das christliche
Kindermädchen findet den verstörten Josef am nächsten Tag unter
dem Tisch und nimmt ihn unter falschem Namen mit auf den abgelegenen
Bauernhof ihres Vaters, um ihn im ungarischen Teil Siebenbürgens als
ihren eigenen Sohn in Sicherheit aufwachsen zu lassen: „Du sollst
leben!“
Der
Junge klopfte den Dreck von ihrem Mantel. Er band ihr die
Haarschleife neu.
„Mila“,
sagte sie und deutete auf ihre Brust.
„Anghel“,
erwiderte er und deutete auf seine Brust.
„Wo
ist deine Mutter?“, fragte Mila.
„Florina...“
„Deine
Mutter. Wo ist sie?“
„Mama
ist tot. Tatta ist tot. Pearela ist tot.“
„Schefele.“
Mila streichelte Anghel über die Wange, und er erinnerte sich, dass
das Wort Schäfchen bedeutete.
Als im
Jahr 1944 schließlich auch in Ungarn die Deportationen in die
Vernichtungslager beginnen, gelingt es Josef durch Zufall ein kleines
jüdisches Mädchen vor dem sicheren Tod zu retten, dessen Eltern vor
den Augen der beiden Kinder erschossen worden waren. Nach dem Krieg
wächst Mila in der Familie des angesehenen Kantors Zalman Stern in
Paris auf, während der aufgeweckte Josef an den Hof des Satmarer
Rebbe geschickt wird, wo er ein traditionelles Thora-Studium beginnt
und dort bald zu den geachtetsten jungen Rabbinern der Gemeinde
zählt. Als er schließlich aus der Ferne formell um Milas Hand
anhält und es zu einem ersten Treffen kommt, ist es wie ein lang
ersehntes Wiederfinden, das jeden möglichen Zweifel am
traditionellen System der arrangierten Ehen innerhalb der religiösen
Gemeinschaft in Mila verwischt. Doch trotz aller ehrlich empfundener
Zärtlichkeit und organisch gewachsener Vertrautheit legt sich über
die Jahre ein heimlicher Schatten über die innige Beziehung der
beiden: denn trotz genauester Befolgung der biblischen Gebote zur
ehelichen Reinheit wird Mila nicht schwanger.
Hauptsynagoge der Satmarer Chassidim in Kiryas Joel, NY |
Wenn
er mit der Hand seinen Penis berührt, soll ihm die Hand auf dem
Bauch abgeschnitten werden. Würde dann nicht sein Bauch
aufgeschlitzt? Lieber ein aufgeschlitzter Bauch... Würde ein Dorn in
seinem Bauch stecken, müsste er ihn nicht entfernen? Nein. Und warum
das alles? Samen vergebens zu vergießen, ist gleichbedeutend mit
Mord.
Nach
zehn Jahren schmerzlicher Kinderlosigkeit, einer ebenso anstrengenden
wie fruchtlosen Hormonbehandlung sowie endlosen talmudischen
Diskussionen über die Frage, ob es Josef unter bestimmten
Voraussetzungen gestattet sei, seinen kostbaren männlichen Samen für
eine wissenschaftliche Untersuchung seiner Zeugungsfähigkeit unnütz
zu vergeuden, dürfte ihr Mann sie mit dem offiziellen Segen der
Gemeinde verstoßen. Obwohl dieser Gedanke dem besonnenen Josef
vollkommen fern liegt, da er seine Frau immer noch mit
bedingungsloser Zärtlichkeit liebt, ist Mila innerlich bereits in
komplizierten kabbalistischen Rechnungen und Auslegungen der
biblischen Überlieferung gefangen, die ihr in der Gestalt Thamars
einen letzten möglichen Ausweg anzubieten scheint. Mit einer
verzweifelten, allerletzten Entscheidung von unstatthafter weiblicher
Selbstbestimmung im symbolträchtigen Jahr 1968 setzt Mila jedoch
nicht nur das eigene Glück aufs Spiel, sondern auch das ihres Mannes
sowie all ihrer möglichen Nachkommen „bis ins zehnte Glied“.
Half
ihm etwa das Gesetz, das Gesetz zu umgehen? Selbst, wenn er die
Wahrheit schon immer gewusst hatte? In einem anderen Eintrag ging es
um einen Rabbiner, der sehr weit gegangen war, damit er das Stigma
des Mamsers nicht verhängen musste, und im Fall eines Ehemanns, der
neun Monate vor Geburt eines Kindes auf Reisen gewesen war, eine
zehnmonatige Schwangerschaft in Erwägung gezogen hatte. Wenn aber
die Richter ihm nicht mehr glauben durften, wäre Josef das Schicksal
des Sünders beschieden, der niemals vor ein Menschengericht kam.
Dann stand er auf einer Ebene mit heimlichen Schändern des Sabbats,
mit Onanierern und Ehebrechern. Ihn träfe die Karethstrafe, und
seine Seele würde für immer verbannt. Ewiges Exil. Ewiger Winter.
Dasselbe würde MiIla geschehen.
Anouk Markovits/Foto: Beowulf Sheehan |
Anouk
Markovits stiller, strahlend schöner Roman ist der seltene
Glücksfall eines absolut unvoreingenommenen, ebenso kenntnisreichen
wie empathischen Buchs über die hermetische Welt des ultraorthodoxen
Judentums, das sich jeden simplen Urteils enthält und beide
getrennte Welten in all ihrer Schönheit, Fremdartigkeit und auch in
all ihren Widersprüchen gleichberechtigt nebeneinander bestehen
lässt: am melancholischen Ende bilden der letzte Buchstabe der Thora
ל und der erste ב
gemeinsam das allumschließende hebräische Wort ל
ב („Herz“). Dabei gelingt es der im Alter von neunzehn
Jahren selbst vor einer arrangierten Heirat geflohenen und damit
endgültig aus dem Milieu ausgestiegenen Autorin auf bewundernswerte
Art und Weise, die Beweggründe für ein bewusstes Verharren in
dieser archaischen Welt aufzuzeigen und ehrliches, tief empfundenes
Verständnis für eine geheimnisvolle Parallelwelt zu wecken, deren
scheinbar unzeitgemäße Motive auch eine moderne laizistische
Gesellschaft in einer ehrlichen Auseinandersetzung mit ihnen
spirituell zu bereichern vermögen.
„Ich bin verboten“, aus dem Amerikanischen von Anne Rademacher,
erschienen bei Knaus, 288 Seiten, € 19,99
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