Schon während der ersten großen Auswanderungswelle osteuropäischer
Juden nach Palästina gegen Ende des 19. Jahrhunderts besaß das
sogenannte „Heilige Land“ in den von Europa bereits weitgehend
unabhängigen Staaten Südamerikas eine mehr als ernstzunehmende und
für viele pragmatische Juden geradezu bestechend-attraktive
Konkurrenz als realistisches Sehnsuchtsziel für ein besseres,
freieres und vor allem weitgehend selbstbestimmtes Leben fern der
allgegenwärtigen, kaum antizipierbaren absoluten Bedrohung in ihren
Herkunftsländern, insbesondere dem von „spontanen“ Pogromen
geprägten zaristischen Russland.
Länder wie Brasilien oder
Argentinien trugen dabei schon früh zur organischen Entwicklung
eines ebenso ausgeprägten wie vitalen jüdischen Selbstbewußtseins
bei, das dem von der landwirtschaftlichen Aufbauarbeit erster
zionistischer Pioniere geprägte aggressive Selbstverständnis
Israels in nahezu paralleler Entwicklung von Anfang an weitgehend
entsprechen konnte: der noch in Russland geborene und in der
berühmten jüdischen Enklave Moisés Ville
aufgewachsene Schriftsteller
und Journalist Alberto Gerchunoff (1883-1950) prägte mit seinem
berühmten Erzählungsband von 1910 den Begriff von den stolzen
„jüdischen Gauchos“, sein Landsmann Ricardo Feierstein (geboren
1942) beschwor in seinem Roman „Mestizo“ über ein halbes
Jahrhundert später sogar die direkte identifikative Verschmelzung
mit der neuen südamerikanischen Heimat in der Titelgestalt des
Mischlings.
Wie ein geflügeltes Pferd, das zum Flug bereit ist, zum Flug zu
den Bergen des ewigen Lächelns, zu Abrahams Schoß. Wie ein Pferd,
das auf den Hufspitzen steht und bereit ist, über die Pampa zu
galoppieren. Wie ein Zentaur im Garten, bereit zum Sprung über die
Mauer, auf der Suche nach der Freiheit.
Die Tendenz, nicht länger das biblische Israel oder den historischen
Landstrich Palästina als Gelobtes Land zu bezeichnen, sondern jedes
beliebige andere aufnahmebereite Land mit günstiger,
identitätsstiftender Perspektive, kennen wir bereits aus den
aufgeklärten Staaten Westeuropas während der für das europäische
Judentum ausgesprochen fruchtbaren und hoffnungsvollen Epoche der
Vorkriegsordnung, die von den Nationalsozialisten schon bald auf so
grausame Art und Weise scheinbar endgültig widerlegt wurde. Mit dem
historisch eindeutig definierten Begriff „Tempel“ war im
Sprachgebrauch des liberalen deutschen Judentums längst nicht mehr
ein in Trümmern liegender messianischer Sehnsuchtsort in Jerusalem
gemeint, sondern immer und grundsätzlich die konkrete heimische
Synagoge.
Kein Galopp jetzt mehr. Jetzt ist alles gut. Jetzt sind wir wie
alle anderen. Niemand wundert sich mehr über uns. Vorbei die Zeit,
wo man uns als sonderbar bezeichnete – weil wir niemals an den
Strand gingen, weil Tita meine Frau, immer Hosen trug. Sonderbar,
wir? Nein. Vergangene Woche kam der Geisterbeschwörer Peri zu Tita,
der allerdings ist sonderbar – ein kleiner, schlanker
Indiomischling mit spärlichem Bartwuchs, behängt mit Ketten und
Ringen, einen Stab in der Hand und dazu kaum zu verstehen. Man mag
sich ja wundern, dass ein so seltsamer Mensch zu uns kommt; aber
schließlich kann jeder an der Tür klingeln. Und außerdem –
sonderbar gekleidet war er, nicht wir. Wir? Wir sehen ganz normal
aus.
Moisés Ville, Argentinien |
An die von Gerchunoff und Feierstein in ihren vielschichtigen Werken
postulierte und auch persönlich vorgelebte Identifikation mit dem
Kontinent Südamerika, insbesondere auch mit seiner überbordenden
Natur, seinen indigenen und nationalen Traditionen sowie der
unterschiedlichen, jedoch ganz besonders im Magischen Realismus Jorge
Luis Borges' oder Gabriel Garcia Marquez' zu verortenden
literarischen Fixpunkte, knüpfte auch der in seiner Heimat hoch
geehrte und vielfach ausgezeichnete brasilianisch-jüdische
Schriftsteller Moacyr Scliar (1937-2011) nahtlos an, dessen seit
letztem Jahr endlich auch in deutscher Sprache wieder zugänglicher
Roman „Der Zentaur im Garten“ (1980) vom amerikanischen National
Yiddish Book Center unter die
hundert wichtigsten und einflussreichsten Werke zeitgenössischer
jüdischer Literatur gewählt wurde.
Der Zenaur ist eine Metapher für jene doppelte Identität, die
für Juden in einem Land wie Brasilien charakteristisch ist. Zu Hause
spricht man Jiddisch, isst Gefilte Fisch und hält den Sabbat. Aber
draußen auf der Straße regieren Fußball, Samba und die
portugiesische Sprache. Nach einer Weile fühlst du dich wie ein
Zentaur.
Er erzählt darin auf unnachahmliche Art und Weise die höchst
unterhaltsame und geistreiche, nahezu unglaubliche, aber auf
metaphorischer Ebene umso wahrhaftigere Geschichte eines
brasilianisch-jüdischen Mischwesens, eines leibhaftigen Zentauren.
Der von seinen aus dem zaristischen Russland eingewanderten Eltern
trotz seiner unmenschlichen Gestalt bedingungslos geliebte Guedali
muss seine Kindheit vor fremden Blicken beschützt in den heimischen
vier Wänden allein mit dem einsamen und unzureichenden Trost von
Literatur und Musik verbringen. Als der begabte Junge schließlich zu
ureigenem Bewußtsein heranwächst, bricht er endlich aus seinem
bequemen Gefängnis aus in die sprichwörtliche große, weite Welt,
mit all ihrer Schönheit, all ihrem Reichtum, aber auch ihren
mannigfaltigen Täuschungen und Gefahren, um aus eigener Kraft sein
erst durch eigene Erfahrung zu definierendes individuelles
Lebensglück und eine passende Gefährtin zu finden.
In diesem Augenblick werde ich unsicher. Wem gehören diese
nackten Füße, die ich mit meinen ebenfalls nackten Füßen unter
dem Tisch liebkose?
Moacyr Scliar/Foto: J. Freitas |
Moacyr Scliar hat in der Gestalt des Guedali einen unvergesslichen
jüdischen Pinocchio geschaffen, der in seiner charakterlichen
Entwicklung ähnliche Schauplätze und Stadien zu durchlaufen hat wie
sein großes, hölzernes literarisches Vorbild, bis er auf gar nicht
so wundersame Weise am Ende von seinen körperlichen Gebrechen
geheilt wird. „Der Zentaur“ ist ein echtes Meisterwerk der
internationalen jüdischen Literatur, das die Diaspora mit ebenso
entschiedenem wie berechtigtem Selbstbewußtsein und unbändiger
Lebenslust weniger als Fluch, sondern vielmehr als echte
Errungenschaft und als kapitale zukunftsweisende Chance begreift,
solange sie nicht mit einer Verleugnung jüdischer Identität
einhergehen muss.
„Der Zentaur im Garten“, aus dem Portugiesischen von Karin von
Schweder-Steiner, erschienen bei Hoffmann und Campe, 287 Seiten,
19,99
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