Jerusalem

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Dienstag, 11. März 2014

„Safari, innere Wildnis“ von Andrea Grill

Der deutsche Buchmarkt ist in seiner von der Verkaufserwartung diktierten grundsätzlichen Struktur schematisch genug, um innerhalb seiner beiden wesentlichen Veröffentlichungszeiträume, die interessanterweise zwei durchaus auch metaphorisch zu verstehenden natürlichen Jahreszeiten zugeordnet sind, zwischen sogenannten Herbsttiteln auf der einen Seite zu unterscheiden sowie Frühjahrstiteln auf der anderen. Während es also trotz der erklärten Autonomie guter Literatur nach dieser marktgerechten Definition Bücher zu geben scheint, die üblicherweise nicht in die eine oder andere Jahreszeit passen und deren Veröffentlichung deshalb im schlimmsten Fall auf den entsprechenden Zeitpunkt verschoben werden muss, gehört der soeben erschienene wunderbare zweite Gedichtband der österreichischen Lyrikerin Andrea Grill zu jenen Büchern, bei denen die Entscheidung für den Frühling zumindest deshalb nachvollziehbar ist, weil der Charakter der Jahreszeit dem in ihren Versen vermittelten Lebensgefühl auf nahezu perfekte Art und Weise zu entsprechen scheint:


birneessend kann die Welt

nicht untergehen


So lautet die möglicherweise schönste, mit Sicherheit aber bei weitem einprägsamste Zeile im lange erwarteten neuen Band der 1975 in Bad Ischl geborenen promovierten Biologin und bereits vielfach ausgezeichneten Schriftstellerin und Übersetzerin, der wie kaum ein anderer in ihrem Buch geeignet ist, um auf Postkarten und T-Shirts gedruckt zu werden und auf diese Weise die Welt mit einer neuen poetischen Sichtweise zu bereichern. 




 Denn auch wenn die natürlichen Jahreszeiten in der Lyrik Andrea Grills eine große Rolle spielen, wird gerade in diesen eindringlichen Versen exemplarisch deutlich, wie unabhängig von jeglichen äußeren Anlässen, universell und heilsam das darin vermittelte Bild ist und wie sehr wir einer präzise vermittelnden Lyrik bedürfen, die auf vollkommene Art und Weise in der vitalen Gegenwart des sinnlichen Erlebens angesiedelt sind.


Muss die Zeit in Stücke geschnitten

mit Butter bestrichen

essen


verlasse mich auf deinen Körper

wo ich nur den Stoff

kenne glatt sauber genäht



Andrea Grills Gedichte atmen auf geradezu magische, schwerelose Art und Weise Leichtigkeit, ohne dabei jemals als zu leicht oder belanglos befunden werden zu können – hier scheint die Verbindung zum Promotionsthema der Autorin unmittelbar spürbar, in welchem sie die Evolution endemischer Schmetterlingsarten in Sardinien untersucht hatte; sie vermögen mit wissenschaftlich exakter Sprache, rationalem Urteilsvermögen und akkurat abgewogenem, unverkennbar eigenständigem und überlegenem sprachlichen Ausdruck sowie einer erfrischend neuen poetischen Sichtweise auf kongeniale Art und Weise gerade das scheinbar im Gegensatz zu diesen, im übrigen auch auf den Prozess des Lesens auszuweitenden Attributen stehende Flüchtige in einem Gefühl, einer Wetterlage, einer Tageszeit oder einem kaum sichtbaren Entwicklungsschritt zu beschreiben, als wäre man im unmittelbaren Erleben oder in der erinnernden Selbsteflexion mit der Autorin gleichzeitig.


Daumen Zeige Mittel

den Ringfinger nimmt keiner,

achtzehn Jahre lang

Abdruck von jedem Besucher

auf dem Metall,

wie auf dem Fuß dieser Statue a Roma,

ungezählte weiche Hände

schleifen jeden Stein;


mir leben vorzustellen wie einen Fluss

gelingt nicht

das Leben ist eine Klingel

auf die ich heute nur 1x drücke


Andrea Grills Gedichte sind in vielfältiger Weise ebenso unmissverständlich wie nachhaltig belebt: da hätten runde kugelige Nachtgeister im Garten gern mehr von der menschlichen Liebe gesehen. Oder sind etwa auch Bäume am schönsten, bevor sie schlafen. Einstmals schmetterlingsgleiche, getrocknete Liebesversprecher im Herbarium halten länger als ein Menschenleben. Andrea Grills wunderbare sprachspielerische, fest in der Gegenwart des sinnlichen individuellen Erlebens verortete, hoch intelligente und lebenskluge Poesie ist besonders deshalb ein großes Geschenk für den Leser, weil sie uns geistesblitzartig immer wieder die Schönheit und den von zahlreichen Gegensätzen und Widersprüchlichkeiten beseelten Reichtum des Lebens offenbart.


Andrea Grill/Foto: L.E.L. Raijmann



Andrea Grill beherrscht die große Kunst der feinsinnigen, erotischen Anspielung – ihre eindringlichen Liebesgedichte an das Leben werden stets von einer sensibel-verhaltenen, empathisch-zärtlichen und dennoch direkten inneren Stimme genuiner Intimität getragen, die wirkliche Nähe (in jeglicher Hinsicht) überhaupt erst zulässt. Dabei verhandelt die originelle Autorin durchaus große Fragen, wenn auch meist mit dem geschulten Blick der Biologin für das kleine Detail als Indiz für größere Zusammenhänge. Ihre Verse wirken nie aufgesetzt oder effekthaschend, sondern bleiben selbst in Momenten humorvollen Augenzwinkerns stets von großer poetischer Wahrhaftigkeit.

In der Stadt

riecht's nach Linden,

morgen ist morgen

was will ich mehr;

höchstens dass

morgen doppelt wär.


Andrea Grills unnachahmliche, Leben atmende Verse passen zweifellos wunderbar in den Frühling – aber gerade deshalb bedürfen wir ihrer vielleicht umso dringender in Herbst und Winter, gleichsam als prächtige, literarische Schmetterlingssammlung, die uns beharrlich dazu ermutigt, das Leben ebenso mit wachen Sinnen auszuprobieren wie wir mit scharfem Verstand immer wieder auch darüber nachdenken müssen. Auf diese Weise gelingt es der Autorin höchst elegant, zwei wesentliche, von der Literaturkritik immer wieder als unvereinbar herausgestellte, scheinbare Gegensätze aufs Gelungenste miteinander zu versöhnen, was gerade für den ganz gewöhnlichen, unvoreingenommenen Leser besondere Bedeutung haben dürfte. Es ist schön, dass Andrea Grill das große, sich aus ihrem ersten Gedichtband „Happy Batards“ (2011) ergebende Versprechen nun so virtuos und eindringlich bestätigt hat.



„Safari, innere Wildnis“, erschienen im Otto Müller Verlag, 78 Seiten, € 18,-


2 Kommentare:

  1. Ich kenne Andrea Grill als interessante, da sensible, aufgeschlossene und hochintelligente Frau. Ihre Gedichte gehen auch einem eher nüchternen, sachorientierten älteren Herrn "voll rein"!
    Ihr neues Buch wird sofort geordert. - Danke Florian Hunger für den Hinweis! Vielleicht wäre dieser noch attraktiver, wenn er kürzer + leser/innen/freundlicher formuliert wäre... Ra

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    1. Besten Dank für den wertvollen Hinweis, lieber Herr Appl! Werde mich bemühen, freue mich aber scho jetzt, dass ein weiterer Band mit wertvoller Lyrik verkauft wurde!

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