Der deutsche Buchmarkt ist
in seiner von der Verkaufserwartung diktierten grundsätzlichen
Struktur schematisch genug, um innerhalb seiner beiden wesentlichen
Veröffentlichungszeiträume, die interessanterweise zwei
durchaus auch metaphorisch zu verstehenden natürlichen
Jahreszeiten zugeordnet sind, zwischen sogenannten Herbsttiteln auf
der einen Seite zu unterscheiden sowie Frühjahrstiteln auf der
anderen. Während es also trotz der erklärten Autonomie
guter Literatur nach dieser marktgerechten Definition Bücher zu
geben scheint, die üblicherweise nicht in die eine oder andere
Jahreszeit passen und deren Veröffentlichung deshalb im
schlimmsten Fall auf den entsprechenden Zeitpunkt verschoben werden
muss, gehört der soeben erschienene wunderbare zweite
Gedichtband der österreichischen Lyrikerin Andrea Grill zu jenen
Büchern, bei denen die Entscheidung für den Frühling
zumindest deshalb nachvollziehbar ist, weil der Charakter der
Jahreszeit dem in ihren Versen vermittelten Lebensgefühl auf
nahezu perfekte Art und Weise zu entsprechen scheint:
birneessend
kann die Welt
nicht
untergehen
So lautet die
möglicherweise schönste, mit Sicherheit aber bei weitem
einprägsamste Zeile im lange erwarteten neuen Band der 1975 in
Bad Ischl geborenen promovierten Biologin und bereits vielfach
ausgezeichneten Schriftstellerin und Übersetzerin, der wie kaum
ein anderer in ihrem Buch geeignet ist, um auf Postkarten und
T-Shirts gedruckt zu werden und auf diese Weise die Welt mit einer
neuen poetischen Sichtweise zu bereichern.
Denn auch wenn die
natürlichen Jahreszeiten in der Lyrik Andrea Grills eine große
Rolle spielen, wird gerade in diesen eindringlichen Versen
exemplarisch deutlich, wie unabhängig von jeglichen äußeren
Anlässen, universell und heilsam das darin vermittelte Bild ist
und wie sehr wir einer präzise vermittelnden Lyrik bedürfen,
die auf vollkommene Art und Weise in der vitalen Gegenwart des
sinnlichen Erlebens angesiedelt sind.
Muss
die Zeit in Stücke geschnitten
mit
Butter bestrichen
essen
verlasse
mich auf deinen Körper
wo
ich nur den Stoff
kenne
glatt sauber genäht
Andrea Grills Gedichte
atmen auf geradezu magische, schwerelose Art und Weise Leichtigkeit,
ohne dabei jemals als zu leicht oder belanglos befunden werden zu
können – hier scheint die Verbindung zum Promotionsthema der
Autorin unmittelbar spürbar, in welchem sie die Evolution
endemischer Schmetterlingsarten in Sardinien untersucht hatte; sie
vermögen mit wissenschaftlich exakter Sprache, rationalem
Urteilsvermögen und akkurat abgewogenem, unverkennbar
eigenständigem und überlegenem sprachlichen Ausdruck sowie
einer erfrischend neuen poetischen Sichtweise auf kongeniale Art und
Weise gerade das scheinbar im Gegensatz zu diesen, im übrigen
auch auf den Prozess des Lesens auszuweitenden Attributen stehende
Flüchtige in einem Gefühl, einer Wetterlage, einer
Tageszeit oder einem kaum sichtbaren Entwicklungsschritt zu
beschreiben, als wäre man im unmittelbaren Erleben oder in der
erinnernden Selbsteflexion mit der Autorin gleichzeitig.
Daumen
Zeige Mittel
den
Ringfinger nimmt keiner,
achtzehn
Jahre lang
Abdruck
von jedem Besucher
auf
dem Metall,
wie
auf dem Fuß dieser Statue a
Roma,
ungezählte
weiche Hände
schleifen
jeden Stein;
mir
leben vorzustellen wie einen Fluss
gelingt
nicht
das
Leben ist eine Klingel
auf
die ich heute nur 1x drücke
Andrea Grills Gedichte
sind in vielfältiger Weise ebenso unmissverständlich wie
nachhaltig belebt: da hätten runde kugelige Nachtgeister im
Garten gern mehr von der menschlichen Liebe gesehen. Oder sind etwa
auch Bäume am schönsten, bevor sie schlafen. Einstmals
schmetterlingsgleiche, getrocknete Liebesversprecher im Herbarium
halten länger als ein Menschenleben. Andrea Grills wunderbare
sprachspielerische, fest in der Gegenwart des sinnlichen
individuellen Erlebens verortete, hoch intelligente und lebenskluge
Poesie ist besonders deshalb ein großes Geschenk für den
Leser, weil sie uns geistesblitzartig immer wieder die Schönheit
und den von zahlreichen Gegensätzen und Widersprüchlichkeiten
beseelten Reichtum des Lebens offenbart.
Andrea Grill/Foto: L.E.L. Raijmann |
Andrea Grill beherrscht
die große Kunst der feinsinnigen, erotischen Anspielung –
ihre eindringlichen Liebesgedichte an das Leben werden stets von
einer sensibel-verhaltenen, empathisch-zärtlichen und dennoch
direkten inneren Stimme genuiner Intimität getragen, die
wirkliche Nähe (in jeglicher Hinsicht) überhaupt erst
zulässt. Dabei verhandelt die originelle Autorin durchaus große
Fragen, wenn auch meist mit dem geschulten Blick der Biologin für
das kleine Detail als Indiz für größere
Zusammenhänge. Ihre Verse wirken nie aufgesetzt oder
effekthaschend, sondern bleiben selbst in Momenten humorvollen
Augenzwinkerns stets von großer poetischer Wahrhaftigkeit.
In
der Stadt
riecht's
nach Linden,
morgen
ist morgen
was
will ich mehr;
höchstens
dass
morgen
doppelt wär.
Andrea Grills
unnachahmliche, Leben atmende Verse passen zweifellos wunderbar in
den Frühling – aber gerade deshalb bedürfen wir ihrer
vielleicht umso dringender in Herbst und Winter, gleichsam als
prächtige, literarische Schmetterlingssammlung, die uns
beharrlich dazu ermutigt, das Leben ebenso mit wachen Sinnen
auszuprobieren wie wir mit scharfem Verstand immer wieder auch
darüber nachdenken müssen. Auf diese Weise gelingt es der
Autorin höchst elegant, zwei wesentliche, von der
Literaturkritik immer wieder als unvereinbar herausgestellte,
scheinbare Gegensätze aufs Gelungenste miteinander zu versöhnen,
was gerade für den ganz gewöhnlichen, unvoreingenommenen
Leser besondere Bedeutung haben dürfte. Es ist schön, dass
Andrea Grill das große, sich aus ihrem ersten Gedichtband
„Happy Batards“ (2011) ergebende Versprechen nun so virtuos und
eindringlich bestätigt hat.
„Safari, innere Wildnis“, erschienen im Otto Müller Verlag, 78 Seiten, € 18,-
Ich kenne Andrea Grill als interessante, da sensible, aufgeschlossene und hochintelligente Frau. Ihre Gedichte gehen auch einem eher nüchternen, sachorientierten älteren Herrn "voll rein"!
AntwortenLöschenIhr neues Buch wird sofort geordert. - Danke Florian Hunger für den Hinweis! Vielleicht wäre dieser noch attraktiver, wenn er kürzer + leser/innen/freundlicher formuliert wäre... Ra
Besten Dank für den wertvollen Hinweis, lieber Herr Appl! Werde mich bemühen, freue mich aber scho jetzt, dass ein weiterer Band mit wertvoller Lyrik verkauft wurde!
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