Wie leicht und nahezu
unmerklich der Übergang vom Rechtsstaat zum Totalitarismus in
Zeiten von Krieg oder vorgeblicher allgemeiner Krise von einem
skrupellos berechnenden Regime bewerkstelligt werden kann, das unter
der Prämisse des Allgemeinwohls und kurzfristig konsensfähiger
sogenannter „notwendiger“ Maßnahmen seine Option auf die
totale Macht wahrnimmt, zeigt der israelische Schriftsteller und
Musiker Yali Sobol (Sohn des Dramatikers Jehoschua Sobol) auf meisterhafte Art und Weise in seinem soeben in
deutscher Übersetzung erschienenen Roman „Die Hände des
Pianisten“, einer mit unaufdringlicher Doppelbödigkeit und
großem inneren Verständnis für die subtilen
Funktionsweisen des Terrors ausgestatteten, großartigen
literarischen Parabel, die überaus geschickt mit unserer
optimistischen Erwartungshaltung sowie unserem natürlichen
Gerechtigkeitsempfinden spielt.
Dabei lässt der in
Israel vor allem durch seine Band Monica Sex zu Kultstatus
gelangte Schriftsteller seine beunruhigende Dystopie schon mit einem
gängigen zionistischen Denkverbot beginnen, um Schauplatz und
zeitlichem Rahmen seines Romans in fragmentarischer Kürze
treffend zu beschreiben: „Tel Aviv, nach dem nächsten
Krieg“. Die Metropole am Mittelmeer ist während des nicht
näher umschriebenen Kriegsverlaufs durch zahlreiche feindliche
Raketentreffer erheblich zerstört worden, ihre Bewohner sind
noch vollauf damit beschäftigt, sich wieder halbwegs in ihrem
altvertrauten Leben einzurichten. Maßgeblich verantwortlich für
das schnelle Ende eines für Israel eigentlich schon verloren
geglaubten Krieges ist offenbar ein erfolgreicher Putsch einer
kleinen Gruppe von Generälen, dem unter anderem der
Generalstabschef und der rechtmäßig gewählte
Ministerpräsident zum Opfer gefallen sind:
Das einzige, was der
Öffentlichkeit offiziell bekannt gemacht wurde, war das über
die Medien am Abend der Explosion verbreitete Bulletin des
stellvertretenden Oberbefehlshabers, Generalmajor Menachem „Meni“
Schamai. Er gab einen kurzen Bericht über die Katastrophe ab und
teilte dann mit, in Absprache mit dem Staatspräsidenten, dem
Präsidenten des Obersten Gerichtshofs und dem Rechtsberater der
Regierung sei ein Übergangsoberkommando unter seiner Leitung
eingerichtet worden, in dem hochrangige Vertreter aller
Regierungsstellen vertreten seien. Das ÜOK, so Schamai, werde
die Führung der Staatsgeschäfte bis zum Ende des Krieges
übernehmen und „Das Schiff an sichere Gestade steuern“.
Sehr gekonnt demaskiert
Yali Sobol bereits hier die plumpe, selbstgefällige, sich
volksnah-solidarisch gebende, schnarrige Vertraulichkeit der
israelischen Militärs, wie sie auch heute wie selbstverständlich
an der Tagesordnung ist, als allgegenwärtige, ganz reale
potenzielle Gefahr für die israelische Demokratie sowie für
eine perspektivisch sinnvollerweise zu schaffende Zivilgesellschaft,
die diese Bezeichnung in vollem Maße verdient. In Sobols Roman
ist freilich auch nach Ende des fiktiven Krieges keine Rede mehr von
einer möglichen Rückkehr zu den demokratischen Strukturen
des Status quo ante: eine Reihe von Notstandsverordnungen
zementiert die Macht des Generalstabschefs und seines ÜOK und
ermächtigt insbesondere die Polizeiorgane bei Bedarf zum Einsatz
aller „notwendigen Mittel“.
Sie hatten keinen
Haftbefehl, aber Vizekommandant Levi wusste, das würde nicht
sein Problem werden. In den letzten Monaten, seit die
Notstandsverordnungen in Kraft getreten waren, hatte sich das
Verhältnis der Bürger zur Polizei spürbar verändert.
Levi hatte diese Veränderung immer wieder in seinem Verhörraum
beobachten können. Das war schon nicht mehr die alte generelle,
mit Aversion einhergehende Furchtsamkeit, die sich in Ergebenheit
ausdrückte, vermischt mit nur mühsam unterdrückter
Aufsässigkeit. Jetzt war es echte Angst. Die Polizei hatte
Mittel und Unabhängigkeit bekommen, wie sie sie noch nie gehabt
hatte, und machte naturgemäß begeistert davon Gebrauch.
Für korrupte Polizisten oder einfach nur Sadisten war die neue
Situation das Paradies. Manche Leute machten unliebsame Erfahrungen.
Schlimme Dinge, über die man sich bei niemandem beschweren
konnte. Die Botschaft kam überraschend schnell in der
Öffentlichkeit an: Mit der Polizei legte man sich besser nicht
mehr an.
Der Autor zeigt mit
heimtückischer Bravour und aus stetig wechselnder Perspektive
seiner auf unterschiedlichen Seiten stehenden Protagonisten, wie
leicht man unter den Bedingungen einer sich frisch entspinnenden
Diktatur selbst als vollkommen harmloser, unpolitischer und
weitestgehend gesetzestreuer Staatsbürger in die gleichgültigen
Klauen eines sich in zunehmendem Maße selbst legitimierenden
Polizeiapparats geraten kann. In Sobols Roman trifft es den
hochbegabten klassischen Pianisten Joav Kirsch, dessen einst
hoffnungsvolle Karriere stagniert, seitdem er die magische
Altersgrenze von dreißig Jahren überschritten hat, was ihn
nicht weiterhin zur lukrativen Teilnahme an hochdotierten
Wettbewerben in Europa und den USA qualifiziert. Seit Ende des
Krieges besteht seine einzige kümmerliche Einnahmequelle aus
wenigen armseligen Auftritten unter vollkommen unprofessionellen,
improvisieten Umständen im Staatsdienst, mit denen die Moral der
Bevölkerung gestärkt werden soll.
Ayalon-Highway, Tel Aviv |
So ist es zunächst
seine Ehefrau Chagit, die als vielbeschäftigte Cutterin bei den
Fernsehnachrichten für den Lebensunterhalt des kinderlosen
Paares aufkommen muss. Als sich aufgrund der neuen restriktiven
Ausreisebestimmungen auch eine seit langem geplante Europatournee
zerschlägt und die zunehmend angespannte häusliche
Situation die in langjähriger, aufrichtiger zärtlicher
Liebe Verbundenen zu entzweien droht, gibt Joav schließlich dem
Drängen eines ebenso wohlhabenden wie einflussreichen
mysteriösen Bewunderers nach, regelmäßig in dessen
Haus musikalische Soireen abzuhalten – ein Entschluss, der nicht
nur seine finanzielle Situation deutlich verbessert, sondern den
weltfremden Träumer auch wieder Anteil am gesellschaftlichen
Leben nehmen lässt.
„Ich kann nicht
glauben, dass wir uns wegen ein paar Tomaten und einer Packung
Hüttenkäse angebrüllt haben“, sagte er. Sie drehte
sich zu ihm um. Die schrecklichen Gedanken, die ihr in der Nacht
durch den Kopf gegangen waren, trafen sie für einen Moment wie
ein Schlag, ließen ihren Magen verkrampfen und verflogen
sogleich beim Anblick seines kindlichen Morgengesichtes auf dem
Kopfkissen, das sie erwartungsvoll ansah.“Ich auch nicht.“Sie
setzte sich im Schneidersitz vor ihn. Seine Hand tastete sich auf dem
Laken voran und ergriff die ihre. „Das ist genau, was die wollen“,
murmelte sie. Sie hatte keine Ahnung, wen sie mit „die“ meinte,
aner diese „die“ gab es, und Joav und sie waren wie zwei Mäuschen
in ihrem Versuchslabor.
Währenddessen muss
sich der resignierte Polizeioberinspektor Itzak Levi, ein ehemaliger
Philosophiestudent und einstmals leidenschaftlicher
Schauspielschüler, gleichsam als letzte persönliche
Bewährungsprobe, die ihm von seinen neuen Vorgesetzten gewährt
wird, im Rahmen einer neuen, zunächst nur aus seiner eigenen
Person bestehenden Spezialeinheit zur Sichtung, Erfassung,
Überwachung und ideologischen Einordnung der israelischen
Künstlerschaft bewähren. Nach monatelanger pedantischer
Arbeit und ersten, von der Soldateska mit eitlem Beifall quittierten
Erfolgen, zu denen nebenbei auch eine unverhoffte Hauptrolle für
seine älteste Tochter an einem der renommiertesten Theater des
Landes gezählt werden muss, wird seine Abteilung vom ÜOK
großzügig zu einer schlagkräftigen Truppe ausgebaut,
und er selbst ernennt mit diabolischem Kalkül ausgerechnet den
ehrgeizigen, gestapohaften Verhörspezialisten Inspektor Wilner
zu seinem Stellvertreter.
Oberinspektor Levi
unterdrückte den alten Impuls einzuschreiten, ehe sein Ermittler
die Grenzen des Erlaubten überschritte. Bis vor Kurzem noch
hatte solche Gewaltanwendung als grenzwertig oder sogar unzulässig
gegolten, aber die noch frischen Notstandsbestimmungen erlaubten
größere Flexibilität und Eigenermessen beim Einsatz
physischer Druckmittel, insbesondere in Fällen, in denen die
Zeit eine Rolle spielte. Levi war nicht wirklich besorgt. Sein junger
Inspektor war einer, der sich im Griff hatte. Außerdem hatten
sie im Vorfeld die Spielregeln abgesteckt. Die beiden Ohrfeigen, die
er dem jungen Punksänger verpasst hatte, waren absolut im Rahmen
des Vereinbarten.
Yali Sobol/Foto: Ornit Pnini |
Als der ahnungslosen
Chagit eines Tages von einem Kollegen der Nachrichtenredaktion unter
geheimnisvollen Umständen ein USB-Stick in die Hand gedrückt
wird, den jener sie mit verzweifeltem Nachdruck sicher für ihn
zu verwahren bittet und die Polizei kurz darauf eine allumfassende
Razzia im TV-Sender durchführt, gerät sie trotz äußerster
Vorsicht und absoluter Verschwiegenheit unweigerlich ins Visier von
Oberinspektor Levis fieberhaft ermittelnder Geheimbehörde, deren
oberste Priorität die Vertuschung eines ungeheuerlichen Skandals
zu sein scheint, der bis in die höchsten Kreise der Macht führt.
Während sich die Lebenswege der einzelnen Protagonisten im
Verlauf der Ermittlungen auf schicksalhafte Art und Weise
unerbittlich kreuzen, wird beispielhaft deutlich, wie unausweichlich
und nachhaltig die absolute, gänzlich unsanktionierte Macht
Menschen zu korrumpieren vermag; gleichzeitig wird der Leser mittels
zahlreicher unerwarteter Wendungen immer wieder erfolgreich getäuscht
und schließlich in seiner Hoffnung auf ein versöhnliches
Ende auch nachhaltig enttäuscht.
Er schleifte den
Pianisten, der kaum noch bei Bewusstsein war, zu einem Tisch in der
Ecke des Raumes, hob seinen schlaffen Arm und spreizte die Finger der
rechten Hand auf der Tischplatte. Dann zog er aus seinem Gürtel
einen kurzen Schlagstock aus massivem Holz. Mit der einen Hand
drückte er Joavs Hand auf den Tisch und schwang die andere, die
den Schlagstock hielt, hoch über den Kopf. „Jetzt“, brüllte
er. „Überleg schnell, ob es noch etwas gibt, was du mir sagen
willst. Ich zähle bis drei. Eins... zwei... “
Die Hände des
Pianisten werden somit zum äußerst zerbrechlichen Symbol
des kostbarsten immateriellen Gutes, das wir in einem Rechtsstaat
besitzen und mit Nachdruck unter allen Umständen zu vertreten
haben. Yali Sobols unkonventioneller, hellsichtiger Roman ist zwar
für die jüdische Bevölkerung Israels nur eine düstere,
wenn auch denkbar-naheliegende Zukunftsvision, für die
unterprivilegierte arabische Minderheit (die interessanterweise im
Buch nicht einmal erwähnt wird) sowie insbesondere für die
Palästinenser in den besetzten Gebieten jedoch seit vielen
Jahrzehnten traurige Realität. Gerade aufgrund seiner moderaten,
den Leser eher mit empathischem Wiedererkennen und
unmissverständlichen Andeutungen überzeugenden, als durch
brutale Gewaltszenen überrumpelnden humanistischen Sichtweise
ist „Die Hände des Pianisten“ ohne Zweifel einer der
erstaunlichsten und überzeugendsten politischen Romane, die
innerhalb der letzten Jahre aus dem Hebräischen ins Deutsche
übersetzt worden sind. Gleichzeitig ist dem Autor mit seinem
spannend zu lesenden Buch eine universell lesbare,
unmissverständliche Warnung vor dem Weg in totalitäre
Verhältnissen gelungen.
„Die Hände desPianisten“, aus dem Hebäischen von Markus Lemke, erschienen
bei Antje Kunstmann, 288 Seiten, € 19,95
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