Immer
wieder entpuppen sich scheinbar ambitionierte, an guter Literatur
interessierte Verlage leider als das genaue Gegenteil dessen, als
was sie sich dem feinsinnigen, interessierten Leser gegenüber
nur allzu gern präsentieren, nämlich als knallhart
kalkulierende Wirtschaftsunternehmen, die den möglichst
schnellen kommerziellen Erfolg eines Buches deutlich über dessen
literarische Qualitäten stellen, auf die sie doch mit den
Mitteln eines guten Lektorats direkten Einfluss hätten nehmen
können.
Anders
jedenfalls lässt es sich kaum erklären, warum im Falle der
jungen und talentierten, in englischer Sprache debütierenden
israelischen Schriftstellerin Shani Boianjiu (geboren 1987) ein in
Wahrheit lediglich aus einigen in der Tat sehr gelungenen, in
Stimmung und Ton sehr präzise beobachteten, aber eben auch aus
zahlreichen allenfalls mittelmäßigen Erzählungen
bestehendes Buch mit dem prominenten Rückenwind der „5
Under 35“-Nominierung der New Yorker Autorin Nicole Krauss als
Roman veröffentlicht werden musste, das – wenn man es um
einiges gekürzt und um andere Themenkreise erweitert hätte
– als großartige Sammlung von Kurzgeschichten einer viel
versprechenden neuen Autorin hätte durchgehen können.
Am
Anfang dieses Tages dachte ich, vielleicht würde etwas
passieren, und ich könnte am Ende mit meiner Mutter zu Hause
bleiben, aber am Ende passierte nichts. Am Vormittag kauften wir
Socken und Schuhcreme. Am Nachmittag fuhren wir mit dem Bus zum Bus,
der mich zur Zuteilungsstation fuhr. Wir stritten uns eine Weile.
Dann sagte ich, ich würde schon klarkommen. Sie bürstete
mir weiter die Haare und hatte die Haarbürste noch in der Hand,
als ich in den Bus stieg. Durchs Busfenster sah ich, wie sie auf dem
Gehweg stand und ihre dunklen Hände die Bürste festhielten.
Dann gab der Fahrer Gas, und ich konnte sie nicht mehr sehen. Und das
war der Anfang.
Shani
Boianjius in den USA von Kritik und Publikum begeistert
aufgenommenes, nach derzeitigem Stand in nicht weniger als 23 Ländern
erscheinendes Buch mit dem anspielungsreichen, möglicherweise
zynisch gemeinten, möglicherweise poetischen Titel „Das Volk
der Ewigkeit kennt keine Angst“ erzählt mit von Kapitel zu
Kapitel wechselnder Perspektive vom sinnlosen Weg dreier israelischer
Mädchen, allesamt Schulfreundinnen aus einem namenlosen
Industriestädtchen im Norden Israels, innerhalb der israelischen
Armee im Rahmen ihres obligatorischen zweijährigen
Militärdienstes nach dem Schulabschluss.
Sie
nennen die anderen Soldatinnen „deine Freundinnen“. Ich hasse
das. Das sind andere Soldatinnen, nicht meine Freundinnen. Sogar
meine Mutter hat gesagt, zur Armee gehst du nicht, um Freundinnen zu
finden. Lass dir nichts vormachen. Du siehst ja, was mit Dan passiert
ist.
Die
Autorin bedient sich dabei einer unverkennbar-eigenständigen,
von jugendlichem Slang und Humor gleichermaßen getragenen
Sprache, die in den besten Momenten, vor allem zu Beginn des Buches,
unverbraucht-authentisch erscheint, sich dann aber bald im sprachlich
nicht überzeugend vollzogenen Perspektivwechsel zwischen den
einzelnen drei Rekrutinnen schnell abnutzt und sich später, im
ständig mühseliger werdenden Leseeindruck, nach etwa
hundert Seiten in einem unklaren, ärgerlichen und nicht
angemessenen, beklagenswerten Grenzbereich zwischen Infantilität
und Debilität einpendelt.
Das
ist ausgesprochen schade, denn die Empathie der Autorin für ihre
Protagonistinnen, die ohne jeden Zweifel individualisierte Spiegel
einer unfreiwilligen kollektiven Erfahrung aller israelischen Frauen
darstellen, ist von geradezu entwaffnender Ehrlichkeit und Tiefe. Die
Überforderung der jungen Schulabgängerinnen in einem Staat,
der charakterlich unreife junge Mädchen, anstatt sie in ein
selbstbestimmtes eigenverantwortliches Leben zu entlassen, sie wie
selbstverständlich dem militärischen Dienst an Checkpoints,
an der Grenze oder in den besetzten Gebieten aussetzt, beginnt schon
bei den Vorbereitungen auf die Abschlussprüfung im Fach
Geschichte:
„Benutzen
Panzerfaust-Kinder die kleinen Panzerfäuste, die keinen
Granatwerfer brauchen?“, fragt Avishag, bevor wir vom Handymast
weggehen.
„Nein“,
sage ich. „Was du meinst, sind die sowjetischen Handgranaten, die
auch Panzerfaust genannt werden, aber im 'Frieden für
Galiläa'-Krieg wurden die schon nicht mehr verwendet. Du denkst
an die Vergangenheit. Du kannst die ganzen Definitionen nachher bei
mir abschreiben.“
Shani
Boianjius Buch ist vor allem voller zitatwürdig-gelungener
Abschnitte, die auf ebenso beiläufige wie eindrückliche Art
und Weise verdeutlichen, wie die israelische Jugend im Rahmen ihres
obligatorischen Militärdienstes systematisch mit Erfahrungen
sowie mit obskurem militärischem Wissen konfrontiert wird, von
denen man sich als geistig wacher und politisch denkender Mensch mit
Recht wünscht, dass kein Bürger eines demokratischen
Staates jemals damit belastet werden sollte – auch unter der wohl
bekannten, richtigen Prämisse nicht, dass Israel ein bedrohtes
Land ist. Ein Land aber auch, in dem der überwiegende Teil der
Bevölkerung es ausdrücklich begrüßt, dass seit
einer Gesetzesänderung im vergangenen Jahr ultraorthodoxe Juden
den Militärdienst nicht mehr wie bisher aus religiösen
Gründen verweigern dürfen.
Das
Aufwachen war jeden Morgen eine Tragödie, als ob man die eigene
Mutter umgebracht hatte, oder seine Jungfräulichkeit einem
Jungen geschenkt hatte, der nur einmal mit einem schlief, und was man
getan hatte, merkte man erst, wenn man gezwungen war, die Augen zu
öffnen.
„Das
Volk der Ewigkeit kennt keine Angst“ ist ohne jeden Zweifel ein
Buch, das Augen zu öffnen vermag. Und die in dem zitierten
Ausschnitt verwendete Metapher der Jungfräulichkeit ist
allumfassend anwendbar, denn das israelische Militär ist für
die jungen Rekruten eine gefährliche Spielwiese, sich erstmals
unter dafür gänzlich ungeeigneten Rahmenbedingungen selbst
zu erproben – und eine potenziell tödliche für sie selbst
wie für andere. Zum selben Thema hat die israelische Autorin
Michal Zamir übrigens unter dem Titel „Das Mädchenschiff“
schon vor sechs Jahren einen sehr viel reiferen und in vielerlei
Hinsicht entschiedeneren Roman vorgelegt.
Um
einen unmittelbaren Eindruck zu bekommen, was der Militärdienst
mit der Psyche und der Persönlichkeit der davon betroffenen
jungen Menschen in Israel anzurichten vermag, ist Shani Boianjius
Buch eine gute literarische Ergänzung zu politischen Büchern
wie dem authentischen „Breaking the Silence“ (2012) gelungen. Bei
allen Vorbehalten gegenüber der vom amerikanischen Verlag
verantworteten, nicht fertig ausgearbeiteten und sich letztlich mit
viel zu wenig zufrieden gebenden Form ihres „Romans“ lässt
ihr Debüt dennoch deutlich aufhorchen und darf durchaus als
kapitales literarisches Versprechen aufgefasst werden.
„DasVolk der Ewigkeit kennt keine Angst“, aus dem Englischen von Maria
Hummitzsch und Ulrich Blumenbach, erschienen bei Kiepenheuer &Witsch, 332 Seiten, € 19,99
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