In einem soeben veröffentlichten offenen Brief hat Rafik Schami deutliche Worte zur Lage in Syrien sowie zur Rolle der westlichen Demokratien gefunden:
Es ist mir ein Bedürfnis und es ist meine Pflicht gegenüber meinen
Leserinnen und Lesern mein Verstummen zu erklären. Ich lehne jedes
Gespräch mit der Presse über Syrien ab, denn das ist meine einzige
Möglichkeit mit Trauer und Enttäuschung umzugehen. Es ist mein Recht
aus Protest gegen den Journalismus in diesem Land, mich nicht an diesem
Verdummungsspiel zu beteiligen.
Nicht erst seit dem Tag, an
dem Präsident Obama beschlossen hat, das Assadregime anzugreifen,
regnete es Einladungen zu Talkshows, Interviews, Podiumsdiskussionen
und Vorträgen.
Ein kleines, lebendiges hochkultiviertes Volk
wird seit zweieinhalb Jahren vor den Augen der Welt bekriegt und
vernichtet. Hilfe zu erwarten von unseren europäischen Nachbarn wäre
utopisch, Neutralität wäre realistisch, aber die westlichen Regierungen
beteiligen sich alle bis heute an diesem Verbrechen. Deren
marktgenormten Herrschern sind Waffenexporte wichtiger als das Leben
Unschuldiger. Ist das Moral? Nein, es handelt sich hier um den Verrat
an Freiheit und Demokratie. Es ist die Entwürdigung der Menschen in der
westlichen Welt, die gezwungen werden ungerührt zuzusehen, wie
friedliche Menschen umgebracht werden. Ein jüdischer Intellektueller
hat den Vergleich dieser Stupidität mit der Gleichgültigkeit gegenüber
der Ermordung von sechs Millionen Juden mitten in Europa angestellt.
Das
syrische Volk wollte nur frei atmen, nur ohne Angst leben. Vierzig
Jahre hat der Assadclan das Land geknechtet und ausgeraubt. Der Westen
schaute nicht nur zu, sondern half mit technischen und militärischen
Mitteln, damit das Regime so blieb wie es war. Giftgas,
Internettechnik, Horchgeräte, Raketen und modernste Waffen wären ohne
Russland, China und den Westen niemals in die Hände des Regimes
gekommen.
Seit dem ersten Schuss auf Demonstranten sind
zweieinhalb Jahr vergangen. Inzwischen ist die Revolution in einen
Bürgerkrieg übergegangen. Revolutionen kommen plötzlich zur Welt aber
sie sterben langsam. Erst rebellierten die Menschen sechs Monate lang
friedlich, dann spalteten sich Soldaten von der syrischen Armee ab und
beschützten die Demonstranten, dann strömten verschiedene Gruppen von
Islamisten hinzu, um den Gunst des Augenblicks auszunutzen, die größte
Gruppe hat das Regime selbst dazu beigesteuert. Gefangene Islamisten
wurden freigelassen und über den Geheimdienst bewaffnet, damit sie zu
Verwirrung, Spaltung und zu Chaos führen. Im Chaos ist die Diktatur die
bestorganisierte Kraft.
Der Westen, und nicht nur Deutschland,
unterhielt bis zum letzten Tag beste Beziehungen zum Regime. Obama,
Merkel, Hollande sind keinen Deut besser als Putin. Öffentlich haben
sie ihre Litanei bis zum Erbrechen wiederholt „Assad solle doch bitte
abtreten“ und hofierten ihn durch die Hintertür mit Waffen und
Elektronik. Sie sprachen von der „roten Linie“, die jetzt übertreten
sei und übersahen das rote Blut von über 100.000 unschuldigen Menschen,
die schon zuvor vom Regime ermordet wurden, sie sprachen von Freiheit
und fragten nicht einmal nach dem Schicksal der über 250.000
Gefangenen.
Und bis zum letzten Augenblick, bis zum Einsatz des
Giftgases gewährten sie dem Regime Zugang zu ihren Waffen und
Informationen, teils heimlich, teils offen, wie der Besuch des
deutschen Geheimdienstchefs Schindler zeigte, der den
mörderischen syrischen Geheimdienst aufwertet als „Partner im Kampf
gegen den Terrorismus“, als ob es einen größeren Terror gibt als die
eigene Städte mit Scud-Raketen zu beschießen, Frauen zu vergewaltigen
und Kinder zu ermorden. Nicht einen einzigen Tag hätten Russland und
der Iran dem Regime beistehen können, wenn der Westen es entschieden
nicht gewollt hätte.
© Root Leeb |
Das verlogene Argument war, man wolle
den Revolutionären nicht helfen, nicht einmal mit Lebensmitteln und
Medikamenten, damit die Islamisten nicht noch stärker würden. Ja die
Amerikaner erpressten sogar alle Länder der Gegend, damit diese jedwede
Hilfe stoppten. Dieselbe westliche Welt arbeitet jedoch mit dem
schlimmsten Islamisten in Saudi-Arabien Hand in Hand. Dabei wurden
diese Fundamentalisten von den engsten Verbündeten des Westens, nämlich
Katar und Saudi-Arabien mit reichlichen Waffen, Lebensmitteln und
Dollars beschenkt.
Und wo waren die Journalisten? Wie haben
die Medien ihre Aufgabe und Pflicht wahrgenommen, die Menschen in
diesem Land aufzuklären?
Die Presse sollte nach dem
Verständnis von Freiheit und Demokratie die vierte Macht im Staat sein.
Sie soll in deren Sinne kontrollieren und aufklären. Unser Journalismus
wirft ein schlechtes Licht auf unseren Staat. Er ist, abgesehen von
einzelnen tapferen Journalistinnen und Journalisten, die viel zu wenig
beachtet werden, zu einem Schatten der Macht geworden. Nicht nur bei
der Aufklärung der Umstände des NSU- und NSA-Verbrechen ist er
gescheitert, sondern das große Scheitern heißt Syrien.
Nun,
seitdem Obama öffentlich erklärt hat, er wolle Assad angreifen, regnete
es hier an Anfragen. Und alle sind inzwischen überzeugt, dass es Zeit
wäre Assad zu stürzen.
Ich war, bin und werde immer gegen
jeden Militärschlag von außen sein. Ich nehme es aber keinem Syrer übel
und verstehe gut, wenn viele leidende Syrer dafür sind. Ich bin
dagegen, weil damit die Revolution zu Grabe getragen wird. Syrien
sollte nach dem amerikanischen Plan ein zweites Afghanistan werden,
diesmal sollten die Iraner und ihr Handlanger Hisbollah auf syrischem
Boden geschwächt werden.
Assad wird stürzen, aber ersetzt
werden durch einen Militärrat, der vom CIA und anderen westlichen
Geheimdiensten installiert wird und der dafür sorgt, dass Syrien ein
zweiter Irak wird.
Mein Protest gegen diese Verdummung wird
hoffentlich eine Diskussion anstoßen über die schlechte Rolle, die der
Journalismus hier spielt. Wir haben wirklich einen besseren verdient.
„Wie können wir Euch helfen?“ fragte ein Europäer einen Syrer, „Indem
ihr bei euch das macht, was wir hier machen, für Freiheit und
Demokratie stehen.“
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