Jerusalem

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Dienstag, 10. September 2013

Offener Brief von Rafik Schami

In einem soeben veröffentlichten offenen Brief hat Rafik Schami deutliche Worte zur Lage in Syrien sowie zur Rolle der westlichen Demokratien gefunden:

Es ist mir ein Bedürfnis und es ist meine Pflicht gegenüber meinen Leserinnen und Lesern mein Verstummen zu erklären. Ich lehne jedes Gespräch mit der Presse über Syrien ab, denn das ist meine einzige Möglichkeit mit Trauer und Enttäuschung umzugehen. Es ist mein Recht aus Protest gegen den Journalismus in diesem Land, mich nicht an diesem Verdummungsspiel zu beteiligen.

Nicht erst seit dem Tag, an dem Präsident Obama beschlossen hat, das Assadregime anzugreifen, regnete es Einladungen zu Talkshows, Interviews, Podiumsdiskussionen und Vorträgen. 

Ein kleines, lebendiges hochkultiviertes Volk wird seit zweieinhalb Jahren vor den Augen der Welt bekriegt und vernichtet. Hilfe zu erwarten von unseren europäischen Nachbarn wäre utopisch, Neutralität wäre realistisch, aber die westlichen Regierungen beteiligen sich alle bis heute an diesem Verbrechen. Deren marktgenormten Herrschern sind Waffenexporte wichtiger als das Leben Unschuldiger. Ist das Moral? Nein, es handelt sich hier um den Verrat an Freiheit und Demokratie. Es ist die Entwürdigung der Menschen in der westlichen Welt, die gezwungen werden ungerührt zuzusehen, wie friedliche Menschen umgebracht werden. Ein jüdischer Intellektueller hat den Vergleich dieser Stupidität mit der Gleichgültigkeit gegenüber der Ermordung von sechs Millionen Juden mitten in Europa angestellt.

Das syrische Volk wollte nur frei atmen, nur ohne Angst leben. Vierzig Jahre hat der Assadclan das Land geknechtet und ausgeraubt. Der Westen schaute nicht nur zu, sondern half mit technischen und militärischen Mitteln, damit das Regime so blieb wie es war. Giftgas, Internettechnik, Horchgeräte, Raketen und modernste Waffen wären ohne Russland, China und den Westen niemals in die Hände des Regimes gekommen.

Seit dem ersten Schuss auf Demonstranten sind zweieinhalb Jahr vergangen. Inzwischen ist die Revolution in einen Bürgerkrieg übergegangen. Revolutionen kommen plötzlich zur Welt aber sie sterben langsam. Erst rebellierten die Menschen sechs Monate lang friedlich, dann spalteten sich Soldaten von der syrischen Armee ab und beschützten die Demonstranten, dann strömten verschiedene Gruppen von Islamisten hinzu, um den Gunst des Augenblicks auszunutzen, die größte Gruppe hat das Regime selbst dazu beigesteuert. Gefangene Islamisten wurden freigelassen und über den Geheimdienst bewaffnet, damit sie zu Verwirrung, Spaltung und zu Chaos führen. Im Chaos ist die Diktatur die bestorganisierte Kraft. 

Der Westen, und nicht nur Deutschland, unterhielt bis zum letzten Tag beste Beziehungen zum Regime. Obama, Merkel, Hollande sind keinen Deut besser als Putin. Öffentlich haben sie ihre Litanei bis zum Erbrechen wiederholt „Assad solle doch bitte abtreten“ und hofierten ihn durch die Hintertür mit Waffen und Elektronik. Sie sprachen von der „roten Linie“, die jetzt übertreten sei und übersahen das rote Blut von über 100.000 unschuldigen Menschen, die schon zuvor vom Regime ermordet wurden, sie sprachen von Freiheit und fragten nicht einmal nach dem Schicksal der über 250.000 Gefangenen. 

Und bis zum letzten Augenblick, bis zum Einsatz des Giftgases gewährten sie dem Regime Zugang zu ihren Waffen und Informationen, teils heimlich, teils offen, wie der Besuch des deutschen Geheimdienstchefs Schindler zeigte, der den mörderischen syrischen Geheimdienst aufwertet als „Partner im Kampf gegen den Terrorismus“, als ob es einen größeren Terror gibt als die eigene Städte mit Scud-Raketen zu beschießen, Frauen zu vergewaltigen und Kinder zu ermorden. Nicht einen einzigen Tag hätten Russland und der Iran dem Regime beistehen können, wenn der Westen es entschieden nicht gewollt hätte.

© Root Leeb 


Das verlogene Argument war, man wolle den Revolutionären nicht helfen, nicht einmal mit Lebensmitteln und Medikamenten, damit die Islamisten nicht noch stärker würden. Ja die Amerikaner erpressten sogar alle Länder der Gegend, damit diese jedwede Hilfe stoppten. Dieselbe westliche Welt arbeitet jedoch mit dem schlimmsten Islamisten in Saudi-Arabien Hand in Hand. Dabei wurden diese Fundamentalisten von den engsten Verbündeten des Westens, nämlich Katar und Saudi-Arabien mit reichlichen Waffen, Lebensmitteln und Dollars beschenkt. 

Und wo waren die Journalisten? Wie haben die Medien ihre Aufgabe und Pflicht wahrgenommen, die Menschen in diesem Land aufzuklären? 

Die Presse sollte nach dem Verständnis von Freiheit und Demokratie die vierte Macht im Staat sein. Sie soll in deren Sinne kontrollieren und aufklären. Unser Journalismus wirft ein schlechtes Licht auf unseren Staat. Er ist, abgesehen von einzelnen tapferen Journalistinnen und Journalisten, die viel zu wenig beachtet werden, zu einem Schatten der Macht geworden. Nicht nur bei der Aufklärung der Umstände des NSU- und NSA-Verbrechen ist er gescheitert, sondern das große Scheitern heißt Syrien.

Nun, seitdem Obama öffentlich erklärt hat, er wolle Assad angreifen, regnete es hier an Anfragen. Und alle sind inzwischen überzeugt, dass es Zeit wäre Assad zu stürzen. 

Ich war, bin und werde immer gegen jeden Militärschlag von außen sein. Ich nehme es aber keinem Syrer übel und verstehe gut, wenn viele leidende Syrer dafür sind. Ich bin dagegen, weil damit die Revolution zu Grabe getragen wird. Syrien sollte nach dem amerikanischen Plan ein zweites Afghanistan werden, diesmal sollten die Iraner und ihr Handlanger Hisbollah auf syrischem Boden geschwächt werden. 

Assad wird stürzen, aber ersetzt werden durch einen Militärrat, der vom CIA und anderen westlichen Geheimdiensten installiert wird und der dafür sorgt, dass Syrien ein zweiter Irak wird. 

Mein Protest gegen diese Verdummung wird hoffentlich eine Diskussion anstoßen über die schlechte Rolle, die der Journalismus hier spielt. Wir haben wirklich einen besseren verdient. „Wie können wir Euch helfen?“ fragte ein Europäer einen Syrer, „Indem ihr bei euch das macht, was wir hier machen, für Freiheit und Demokratie stehen.“

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