Nachdem ihr neuer Freund –
was ganz und gar nicht seine Art ist – sie bei einem Rendezvous
kommentarlos versetzt hat und auch an den folgenden Tagen weder
zurückruft noch auf ihre zahlreichen SMS reagiert, muss Stevie Flint
wohl davon ausgehen, dass ihre hoffnungsvolle, nur wenige Monate alte
Beziehung zu dem erfolgreichen Chirurgen Doktor Simon Sharkey damit
schon wieder beendet ist. Was die gescheiterte junge Journalistin,
die sich ihren Lebensunterhalt als Moderatorin bei einem
Shoppingsender verdient, neben dem persönlichen Liebes- und
Vertrauensverlust in selbstironischem Fatalismus jedoch am meisten
schmerzt, ist der nicht unbeträchtliche Wert ihrer exklusiven
Kosmetikartikel und des teuren Designerkleids, die sich noch in der
Wohnung des Arztes befinden. Zwar widerstrebt es ihr, den Ort noch
einmal zu betreten, an dem ihr ein unbeschwerteres Leben plötzlich
zum Greifen nahe schien, aber schließlich fasst sie sich doch ein
Herz und betritt während Simons üblicher Arbeitszeit mit Hilfe des
ihr von ihm anvertrauten Zweitschlüssels heimlich sein
Luxusappartement.
Hier muss Stevie auf
denkbar grausamste Art und Weisen erkennen, dass sie ihrem Liebhaber
Unrecht getan und dieser für sein Nichterscheinen zum Rendezvous und
sein tagelanges Schweigen die beste und furchtbarste Ausrede hat, die
man sich nur vorstellen kann, denn er liegt im Zustand
fortgeschrittener Verwesung tot in seinem Bett. Nachdem sich die
junge Frau schockbedingt gleich an Ort und Stelle erbrochen hat,
schafft sie es gerade noch, die Polizei zu verständigen und die
anschließende Befragung psychisch einigermaßen unbeschadet zu
überstehen, bevor sie schließlich, am Ende ihrer Kräfte, nach
Hause fährt und sich für die folgenden Tage krank meldet.
Tatsächlich bekommt sie noch am selben Tag Anfälle von
Schüttelfrost, die sie aber zunächst ebenfalls ihrem emotionalen
Ausnahmezustand zuschreibt. Doch nur wenige Stunden später treten
bei Stevie weitere heftige Krankheitssymptome auf: hohes Fieber,
Durchfall, starker Husten und krampfartiges Erbrechen – mehrere
Tage liegt Stevie stark geschwächt und wie bewusstlos im Bett, bis
es ihr allmählich wieder besser geht.
„Wollen Sie damit
sagen, dass ich ernsthaft krank war?“
Julia zuckte mit den
Achseln. „Jedenfalls geht ein ziemlich hässliches Virus um. Die
Medien bauschen das natürlich auf. Sie sind jung und bei Kräften,
also wahrscheinlich nicht. Wenn Sie alt wären oder an einer
Grunderkrankung litten, wäre das etwas anderes. Die Hautptsache ist,
dass Sie sich wieder erholt haben.“
Aus dem Fernsehen erfährt
Stevie unterdessen, dass in ganz Europa ein bislang unbekannter,
überaus aggressiver Virusstamm grassiert, für den es bislang keine
erfolgreiche Behandlungsmethode zu geben scheint und dem im Verlauf
der letzten Tage schon tausende von Menschen zum Opfer gefallen sind.
Außerdem bekommt sie noch während ihrer Rekonvaleszenz überraschend
Besuch von Simons Schwester, die ihr einen Brief ihres Freundes
übergibt und sie über den Abschlussbericht der polizeilichen
Ermittlungen informiert. Man habe weder Anhaltspunkte für Mord noch
für Selbstmord feststellen können und trotz Simons tadellosem
gesundheitlichen Zustand und guter körperlicher Fitness scheine
alles für einen natürlichen Tod zu sprechen. Der Inhalt des Briefes
legt allerdings anderes nahe: darin bittet der Arzt seine Freundin in
eindringlichen Worten, ein Paket an sich zu nehmen, das er heimlich
auf ihrem Dachboden versteckt habe, und dieses auf keinem Fall einer
anderen Person auszuhändigen als nur einem bestimmten, namentlich
bezeichneten Kollegen von ihm in der Klinik.
University College London Hospitals/Foto: Jim Linwood |
Bei diesem Paket handelt
es sich, wie sich bald herausstellt, um einen Laptop mit
Passwortschutz. Als Stevie in ihrem Auto aufbricht, um Simons letzten
Wunsch auszuführen, befindet sich London bereits deutlich erkennbar
in Aufruhr, Polizei und Gesundheitsbehörden sind mit der
Durchsetzung von Quarantänemaßnahmen beschäftigt und auf den
Straßen ist die Furcht vor dem tödlichen Virus bereits
allgegenwärtig. Im Krankenhaus erfährt sie von einem sich sehr
freundlich und besorgt gebenden Kollegen ihres Freundes, dass ihre
Kontaktperson leider kürzlich verstorben sei. Gleichzeitig zeigt der
leitende Arzt großes Interesse an ihrem geheimnisvollen Paket,
bedrängt sie geradezu: sie könne es ihm guten Gewissens
anvertrauen, er sei ein guter Freund von Simon und habe gemeinsam mit
ihm am selben Projekt gearbeitet, der Entwicklung einer neuen
Behandlungsmethode bei infantiler Zerebralparese, die vielen Kindern
in Zukunft das Leben erleichtern werde. Nur durch einen Zufall
gelingt es Stevie, sich des Arztes zu erwehren und mit dem Laptop zu
entkommen.
„Erholt sie sich
wieder?“
Dr. Chu schaute immer
noch zur Tür, als sei sie sich nicht sicher, ob sie ihr folgen
solle.
„Sie meinen, ob sie
überlebt?“
Die Brutalität ihrer
Frage schockierte Stevie, aber sie musste sich eingestehen, dass sie
genau das gemeint hatte.
„Ja, denke schon.“
Die Ärztin schaute sie
an. „Ich habe meine Hausaufgaben gemacht. Im vierzehnten
Jahrhundert sind sechzig Prozent der Bevölkerung Europas an der Pest
gestorben. Es ist ein Mythos, dass es an den Ratten lag. Die Wahrheit
ist, dass wir die Gründe bis heute nicht richtig kennen. Jeder
Überlebende hatte in seiner näheren Umgebung Opfer zu beklagen.
Viele haben ihre ganze Familie verloren.“
„Aber das kann man
doch nicht annähernd vergleichen, oder?“
Die Ärztin wich ihrem
Blick aus. Erneut ging ihre Hand zu den Haaren. Diesmal hatten sich
tatsächlich ein paar Strähnen gelöst. Sie strich sie zurück.
„Das kann man
unmöglich wissen.“
„Sie haben gesagt,
Labore auf der ganzen Welt arbeiten daran. Eins wird doch sicher ein
Gegenmittel finden?“
„Vielleicht.
Andererseits gibt es keinen lebenden Arzt, der nicht ständig daran
erinnert wird, dass wir bereits an einem wirksamen Mittel gegen
Erkältungen gescheitert sind.“
Als sie wenig später
erstmals wieder zur Arbeit erscheint, findet sie ihr kleines
Produktionsteam in Auflösung begriffen: ihre Co-Moderatorin und
beste Freundin liegt todkrank auf der Intensivstation und die
Regisseurin zeigt ebenfalls bereits deutliche Symptome des Virus.
Direkt nach der Sendung wird Stevie von einem Fremden brutal
überfallen, der es unverkennbar auf ihren Laptop abgesehen hat und
sie beinahe erdrosselt. Mit Hilfe des Parkplatzwächters gelingt ihr
jedoch in letzter Minute die Flucht, nur um ihre Wohnung vollkommen
durchwühlt und verwüstet vorzufinden. An einen natürlichen Tod
ihres Freundes kann Stevie nach den Erlebnissen der letzten Woche
längst nicht mehr glauben, und so versucht sie auf eigene Faust,
mehr über Simon und seine Arbeit herauszufinden. Ein befreundeter
Polizeibeamter vermittelt ihr schließlich die Bekanntschaft eines
vorbestraften Hackers, der ihm noch einen Gefallen schuldet. Dieser
soll Stevie dabei helfen, das Rätsel um Simons Tod aufzuklären,
doch in einem Umfeld, in dem der Tod allgegenwärtig ist, wird es
zunehmend schwieriger zu unterscheiden, wer eines natürlichen und
wer eines künstlich herbeigeführten Todes gestorben ist.
London 2011/Foto: Peter Trimming |
Die schottische
Schriftstellerin Louise Welsh hat mit „V5N6“ einen atemberaubend
spannenden Thriller auf höchstem literarischen Niveau geschrieben,
in dem sie das realistische Szenario einer weltweiten Pandemie
entfesselt, die jeden willkürlichen Akt des Terrors wie einen minder
schweren Betriebsunfall erscheinen lässt. Denn während es hier noch
einen konkreten sichtbaren Gegner gibt, den man mit überschaubaren
Mitteln bekämpfen kann, müssen wir dort einen unsichtbaren Feind
fürchten, dessen Eigenschaften wir selbst mit dem fortgeschrittenen
mikrobiologischen Wissen unserer Zeit kurz- bis mittelfristig kaum zu
entschlüsseln oder wirksam zu bekämpfen vermögen, sondern der
zerstörerischen Intelligenz eines nicht auf ein bestimmtes
Territorium eingrenzbaren mutierten Virus nahezu schutzlos
ausgeliefert sind. Die Betroffenen in Louise Welshs glänzend
beobachtetem Roman fliehen Hals über Kopf aufs Land, halten ihre
Mitmenschen mit Waffengewalt davon ab, sich ihnen auf mehr als zehn
Metern Entfernung zu nähern, sie plündern Supermärkte, um sich in
selbstgewählte Isolation zurückzuziehen oder flüchten sich in
möglicherweise letzte Genüsse wie wahllosen Sex und hemmungslose
Sauforgien.
„Was ist ein
Todesfall verglichen mit Tausenden? Eine Tragödie für Familie und
Freunde, natürlich, aber es ist, wie ich dir gesagt habe. Wir sind
im Krieg. Da gelten andere Regeln. Vielleicht können wir nicht
verhindern, dass sich das Fieber weiter ausbreitet, aber wir können
unser Bestes tun, um für Ordnung zu sorgen.“ Seine Stimme klang
jetzt wieder bestimmt, er wurde wieder zu dem Derek, den sie kannte,
zu dem standfesten Mann, der sich seiner selbst und der Verdorbenheit
der Welt sicher war. „Tu dir einen Gefallen und fahre nach Hause,
solange es noch hell ist. Du weißt, wie London ist, ein verdammter
Dampfdrucktopf. Polizei und Feuerwehr sind unterbesetzt, und es hat
dreißig Grad im Schatten. So schnell kannst du gar nicht schauen und
die Muslimbruderschaft und die English Defence League stacheln sich
wieder gegenseitig auf, ganz zu schweigen von all den anderen
Durchgeknallten, die bei schönem Wetter gerne aus ihren Löchern
kommen. Heute Nacht könnte so eine von den Nächten werden, in der
sich der Druck entlädt.“
Louise Welshs
intelligenter Thriller („Schlagen sie diesen Roman nicht auf, wenn
sie heute noch etwas vorhaben!“ ) ist aber nicht nur
außergewöhnlich unterhaltsam, sondern auch von beeindruckender
erzählerischer Ökonomie und sprachlicher Prägnanz. Ohne den Leser
mit allzu vielen medizinischen Details zu belasten, gelingen ihr
ausgesprochen fesselnde und überzeugende Milieuschilderungen und
psychologische Porträts. Die zunehmend im bittersten Sinne auf sich
allein gestellte verzweifelte Protagonistin ist die einzige Person im
Buch, von der wir wissen, dass sie das Virus überlebt hat – diese
Tatsache scheint der einzige plausible Grund, warum Stevie inmitten
des allgegenwärtigen sie umgebenden fortschreitenden Sterbens all
ihre Energie (anstatt sich aufs eigene Leben zu besinnen) auf die
restlose Aufklärung der Hintergründe von Simons rätselhaftem Tod
konzentriert und sich damit bewusst der realen Gefahr eines
gewaltsamen Todes durch jene aussetzt, die das immer noch verhindern
wollen und sie unerbittlich verfolgen, obwohl zu befürchten steht,
dass es bald keine nennenswerte Öffentlichkeit mehr geben wird, die
noch Interesse an der schockierenden Wahrheit haben könnte. Beinahe
zu spät beginnt Stevie zu ahnen, dass die Hintermänner
möglicherweise aus einem vollkommen anderen Grund hinter ihr her
sein könnten als sie bisher geglaubt hat.
Louise Welsh/Foto: Gunter Gluecklich |
Muss mit der
flächendeckenden Ausbreitung eines hochansteckenden Virus auch unser
vertrautes Leben als soziale Wesen enden? Verurteilt uns eine
potenziell tödliche Krankheit zwangsläufig zur Einsamkeit? Wie
können wir dem drohenden Verhängnis entfliehen? Anders als viele
konventionelle internationale Thrillerautoren lässt Louise Welsh
ihren Roman am Ende nicht kraftlos in sich zusammenfallen, sondern
nutzt Showdown und Auflösung, um den Leser zahlreichen drängenden,
gewissermaßen „letzten“ Fragen auszusetzen, die ihn angesichts
von akuten Fällen wie Ebola, Zika und Dengue noch lange über das
Buch und das darin skizzierte Schreckensszenario nachdenken lassen.
„V5N6“, aus dem
Englischen von Wolfgang Müller, erschienen bei Antje Kunstmann, 352
Seiten, € 19,95
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