Jerusalem

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Mittwoch, 24. Februar 2016

„V5N6“ von Louise Welsh

Nachdem ihr neuer Freund – was ganz und gar nicht seine Art ist – sie bei einem Rendezvous kommentarlos versetzt hat und auch an den folgenden Tagen weder zurückruft noch auf ihre zahlreichen SMS reagiert, muss Stevie Flint wohl davon ausgehen, dass ihre hoffnungsvolle, nur wenige Monate alte Beziehung zu dem erfolgreichen Chirurgen Doktor Simon Sharkey damit schon wieder beendet ist. Was die gescheiterte junge Journalistin, die sich ihren Lebensunterhalt als Moderatorin bei einem Shoppingsender verdient, neben dem persönlichen Liebes- und Vertrauensverlust in selbstironischem Fatalismus jedoch am meisten schmerzt, ist der nicht unbeträchtliche Wert ihrer exklusiven Kosmetikartikel und des teuren Designerkleids, die sich noch in der Wohnung des Arztes befinden. Zwar widerstrebt es ihr, den Ort noch einmal zu betreten, an dem ihr ein unbeschwerteres Leben plötzlich zum Greifen nahe schien, aber schließlich fasst sie sich doch ein Herz und betritt während Simons üblicher Arbeitszeit mit Hilfe des ihr von ihm anvertrauten Zweitschlüssels heimlich sein Luxusappartement.




Hier muss Stevie auf denkbar grausamste Art und Weisen erkennen, dass sie ihrem Liebhaber Unrecht getan und dieser für sein Nichterscheinen zum Rendezvous und sein tagelanges Schweigen die beste und furchtbarste Ausrede hat, die man sich nur vorstellen kann, denn er liegt im Zustand fortgeschrittener Verwesung tot in seinem Bett. Nachdem sich die junge Frau schockbedingt gleich an Ort und Stelle erbrochen hat, schafft sie es gerade noch, die Polizei zu verständigen und die anschließende Befragung psychisch einigermaßen unbeschadet zu überstehen, bevor sie schließlich, am Ende ihrer Kräfte, nach Hause fährt und sich für die folgenden Tage krank meldet. Tatsächlich bekommt sie noch am selben Tag Anfälle von Schüttelfrost, die sie aber zunächst ebenfalls ihrem emotionalen Ausnahmezustand zuschreibt. Doch nur wenige Stunden später treten bei Stevie weitere heftige Krankheitssymptome auf: hohes Fieber, Durchfall, starker Husten und krampfartiges Erbrechen – mehrere Tage liegt Stevie stark geschwächt und wie bewusstlos im Bett, bis es ihr allmählich wieder besser geht.

Wollen Sie damit sagen, dass ich ernsthaft krank war?“
Julia zuckte mit den Achseln. „Jedenfalls geht ein ziemlich hässliches Virus um. Die Medien bauschen das natürlich auf. Sie sind jung und bei Kräften, also wahrscheinlich nicht. Wenn Sie alt wären oder an einer Grunderkrankung litten, wäre das etwas anderes. Die Hautptsache ist, dass Sie sich wieder erholt haben.“

Aus dem Fernsehen erfährt Stevie unterdessen, dass in ganz Europa ein bislang unbekannter, überaus aggressiver Virusstamm grassiert, für den es bislang keine erfolgreiche Behandlungsmethode zu geben scheint und dem im Verlauf der letzten Tage schon tausende von Menschen zum Opfer gefallen sind. Außerdem bekommt sie noch während ihrer Rekonvaleszenz überraschend Besuch von Simons Schwester, die ihr einen Brief ihres Freundes übergibt und sie über den Abschlussbericht der polizeilichen Ermittlungen informiert. Man habe weder Anhaltspunkte für Mord noch für Selbstmord feststellen können und trotz Simons tadellosem gesundheitlichen Zustand und guter körperlicher Fitness scheine alles für einen natürlichen Tod zu sprechen. Der Inhalt des Briefes legt allerdings anderes nahe: darin bittet der Arzt seine Freundin in eindringlichen Worten, ein Paket an sich zu nehmen, das er heimlich auf ihrem Dachboden versteckt habe, und dieses auf keinem Fall einer anderen Person auszuhändigen als nur einem bestimmten, namentlich bezeichneten Kollegen von ihm in der Klinik.


University College London Hospitals/Foto: Jim Linwood


Bei diesem Paket handelt es sich, wie sich bald herausstellt, um einen Laptop mit Passwortschutz. Als Stevie in ihrem Auto aufbricht, um Simons letzten Wunsch auszuführen, befindet sich London bereits deutlich erkennbar in Aufruhr, Polizei und Gesundheitsbehörden sind mit der Durchsetzung von Quarantänemaßnahmen beschäftigt und auf den Straßen ist die Furcht vor dem tödlichen Virus bereits allgegenwärtig. Im Krankenhaus erfährt sie von einem sich sehr freundlich und besorgt gebenden Kollegen ihres Freundes, dass ihre Kontaktperson leider kürzlich verstorben sei. Gleichzeitig zeigt der leitende Arzt großes Interesse an ihrem geheimnisvollen Paket, bedrängt sie geradezu: sie könne es ihm guten Gewissens anvertrauen, er sei ein guter Freund von Simon und habe gemeinsam mit ihm am selben Projekt gearbeitet, der Entwicklung einer neuen Behandlungsmethode bei infantiler Zerebralparese, die vielen Kindern in Zukunft das Leben erleichtern werde. Nur durch einen Zufall gelingt es Stevie, sich des Arztes zu erwehren und mit dem Laptop zu entkommen.

Erholt sie sich wieder?“
Dr. Chu schaute immer noch zur Tür, als sei sie sich nicht sicher, ob sie ihr folgen solle.
Sie meinen, ob sie überlebt?“
Die Brutalität ihrer Frage schockierte Stevie, aber sie musste sich eingestehen, dass sie genau das gemeint hatte.
Ja, denke schon.“
Die Ärztin schaute sie an. „Ich habe meine Hausaufgaben gemacht. Im vierzehnten Jahrhundert sind sechzig Prozent der Bevölkerung Europas an der Pest gestorben. Es ist ein Mythos, dass es an den Ratten lag. Die Wahrheit ist, dass wir die Gründe bis heute nicht richtig kennen. Jeder Überlebende hatte in seiner näheren Umgebung Opfer zu beklagen. Viele haben ihre ganze Familie verloren.“
Aber das kann man doch nicht annähernd vergleichen, oder?“
Die Ärztin wich ihrem Blick aus. Erneut ging ihre Hand zu den Haaren. Diesmal hatten sich tatsächlich ein paar Strähnen gelöst. Sie strich sie zurück.
Das kann man unmöglich wissen.“
Sie haben gesagt, Labore auf der ganzen Welt arbeiten daran. Eins wird doch sicher ein Gegenmittel finden?“
Vielleicht. Andererseits gibt es keinen lebenden Arzt, der nicht ständig daran erinnert wird, dass wir bereits an einem wirksamen Mittel gegen Erkältungen gescheitert sind.“

Als sie wenig später erstmals wieder zur Arbeit erscheint, findet sie ihr kleines Produktionsteam in Auflösung begriffen: ihre Co-Moderatorin und beste Freundin liegt todkrank auf der Intensivstation und die Regisseurin zeigt ebenfalls bereits deutliche Symptome des Virus. Direkt nach der Sendung wird Stevie von einem Fremden brutal überfallen, der es unverkennbar auf ihren Laptop abgesehen hat und sie beinahe erdrosselt. Mit Hilfe des Parkplatzwächters gelingt ihr jedoch in letzter Minute die Flucht, nur um ihre Wohnung vollkommen durchwühlt und verwüstet vorzufinden. An einen natürlichen Tod ihres Freundes kann Stevie nach den Erlebnissen der letzten Woche längst nicht mehr glauben, und so versucht sie auf eigene Faust, mehr über Simon und seine Arbeit herauszufinden. Ein befreundeter Polizeibeamter vermittelt ihr schließlich die Bekanntschaft eines vorbestraften Hackers, der ihm noch einen Gefallen schuldet. Dieser soll Stevie dabei helfen, das Rätsel um Simons Tod aufzuklären, doch in einem Umfeld, in dem der Tod allgegenwärtig ist, wird es zunehmend schwieriger zu unterscheiden, wer eines natürlichen und wer eines künstlich herbeigeführten Todes gestorben ist.


London 2011/Foto: Peter Trimming


Die schottische Schriftstellerin Louise Welsh hat mit „V5N6“ einen atemberaubend spannenden Thriller auf höchstem literarischen Niveau geschrieben, in dem sie das realistische Szenario einer weltweiten Pandemie entfesselt, die jeden willkürlichen Akt des Terrors wie einen minder schweren Betriebsunfall erscheinen lässt. Denn während es hier noch einen konkreten sichtbaren Gegner gibt, den man mit überschaubaren Mitteln bekämpfen kann, müssen wir dort einen unsichtbaren Feind fürchten, dessen Eigenschaften wir selbst mit dem fortgeschrittenen mikrobiologischen Wissen unserer Zeit kurz- bis mittelfristig kaum zu entschlüsseln oder wirksam zu bekämpfen vermögen, sondern der zerstörerischen Intelligenz eines nicht auf ein bestimmtes Territorium eingrenzbaren mutierten Virus nahezu schutzlos ausgeliefert sind. Die Betroffenen in Louise Welshs glänzend beobachtetem Roman fliehen Hals über Kopf aufs Land, halten ihre Mitmenschen mit Waffengewalt davon ab, sich ihnen auf mehr als zehn Metern Entfernung zu nähern, sie plündern Supermärkte, um sich in selbstgewählte Isolation zurückzuziehen oder flüchten sich in möglicherweise letzte Genüsse wie wahllosen Sex und hemmungslose Sauforgien.

Was ist ein Todesfall verglichen mit Tausenden? Eine Tragödie für Familie und Freunde, natürlich, aber es ist, wie ich dir gesagt habe. Wir sind im Krieg. Da gelten andere Regeln. Vielleicht können wir nicht verhindern, dass sich das Fieber weiter ausbreitet, aber wir können unser Bestes tun, um für Ordnung zu sorgen.“ Seine Stimme klang jetzt wieder bestimmt, er wurde wieder zu dem Derek, den sie kannte, zu dem standfesten Mann, der sich seiner selbst und der Verdorbenheit der Welt sicher war. „Tu dir einen Gefallen und fahre nach Hause, solange es noch hell ist. Du weißt, wie London ist, ein verdammter Dampfdrucktopf. Polizei und Feuerwehr sind unterbesetzt, und es hat dreißig Grad im Schatten. So schnell kannst du gar nicht schauen und die Muslimbruderschaft und die English Defence League stacheln sich wieder gegenseitig auf, ganz zu schweigen von all den anderen Durchgeknallten, die bei schönem Wetter gerne aus ihren Löchern kommen. Heute Nacht könnte so eine von den Nächten werden, in der sich der Druck entlädt.“

Louise Welshs intelligenter Thriller („Schlagen sie diesen Roman nicht auf, wenn sie heute noch etwas vorhaben!“ ) ist aber nicht nur außergewöhnlich unterhaltsam, sondern auch von beeindruckender erzählerischer Ökonomie und sprachlicher Prägnanz. Ohne den Leser mit allzu vielen medizinischen Details zu belasten, gelingen ihr ausgesprochen fesselnde und überzeugende Milieuschilderungen und psychologische Porträts. Die zunehmend im bittersten Sinne auf sich allein gestellte verzweifelte Protagonistin ist die einzige Person im Buch, von der wir wissen, dass sie das Virus überlebt hat – diese Tatsache scheint der einzige plausible Grund, warum Stevie inmitten des allgegenwärtigen sie umgebenden fortschreitenden Sterbens all ihre Energie (anstatt sich aufs eigene Leben zu besinnen) auf die restlose Aufklärung der Hintergründe von Simons rätselhaftem Tod konzentriert und sich damit bewusst der realen Gefahr eines gewaltsamen Todes durch jene aussetzt, die das immer noch verhindern wollen und sie unerbittlich verfolgen, obwohl zu befürchten steht, dass es bald keine nennenswerte Öffentlichkeit mehr geben wird, die noch Interesse an der schockierenden Wahrheit haben könnte. Beinahe zu spät beginnt Stevie zu ahnen, dass die Hintermänner möglicherweise aus einem vollkommen anderen Grund hinter ihr her sein könnten als sie bisher geglaubt hat.

Louise Welsh/Foto: Gunter Gluecklich

Muss mit der flächendeckenden Ausbreitung eines hochansteckenden Virus auch unser vertrautes Leben als soziale Wesen enden? Verurteilt uns eine potenziell tödliche Krankheit zwangsläufig zur Einsamkeit? Wie können wir dem drohenden Verhängnis entfliehen? Anders als viele konventionelle internationale Thrillerautoren lässt Louise Welsh ihren Roman am Ende nicht kraftlos in sich zusammenfallen, sondern nutzt Showdown und Auflösung, um den Leser zahlreichen drängenden, gewissermaßen „letzten“ Fragen auszusetzen, die ihn angesichts von akuten Fällen wie Ebola, Zika und Dengue noch lange über das Buch und das darin skizzierte Schreckensszenario nachdenken lassen.

„V5N6“, aus dem Englischen von Wolfgang Müller, erschienen bei Antje Kunstmann, 352 Seiten, € 19,95

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