Der große visionäre
Pädagoge und Schriftsteller Janusz Korczak (1878-1942), der sich wie
kaum ein anderer seiner Zeitgenossen für eine umfassende
gesellschaftliche Übereinkunft über allgemein verbindliche
Kinderrechte sowie eine von liebevoller Achtung der kindlichen
Persönlichkeit geprägte Form der Erziehung einsetzte, beklagte zeit
seines Lebens besonders die schmerzliche Gleichgültigkeit der
Erwachsenen gegenüber Kindern im Allgemeinen sowie den eigenen
Kindern im Besonderen. In seinem wunderbaren „Vorwort an den
erwachsenen Leser“ zu seiner programmatischen Erzählung „Wenn
ich wieder klein bin“ (1925) schreibt er sehr eindrücklich:
Ihr sagt:
„Der Umgang mit Kindern ermüdet uns.“
Ihr habt recht.
Ihr sagt:
„Denn wir müssen zu ihrer Begriffswelt hinuntersteigen.
Hinuntersteigen, uns herabneigen, beugen, kleiner machen.“
Ihr irrt euch.
Nicht das ermüdet uns. Sondern – dass wir zu ihren Gefühlen emporklimmen müssen. Emporklimmen, uns ausstrecken, auf die Zehenspitzen stellen, hinlangen.
Um nicht zu verletzen.
„Der Umgang mit Kindern ermüdet uns.“
Ihr habt recht.
Ihr sagt:
„Denn wir müssen zu ihrer Begriffswelt hinuntersteigen.
Hinuntersteigen, uns herabneigen, beugen, kleiner machen.“
Ihr irrt euch.
Nicht das ermüdet uns. Sondern – dass wir zu ihren Gefühlen emporklimmen müssen. Emporklimmen, uns ausstrecken, auf die Zehenspitzen stellen, hinlangen.
Um nicht zu verletzen.
Während viele seiner im
Kontext der Zeit geradezu revolutionären Erziehungsansätze selbst
heute noch sogar in hoch entwickelten Gesellschaften weniger
selbstverständlich scheinen als man sich wünschen möchte, begann
nur wenige Jahre später die völkische Bewegung in Deutschland ihr
menschenverachtendes Gegenprogramm zu Korczaks pädagogischen Ideen
zu formulieren, so Johanna Haarer in ihrem verhängnisvollen
sogenannten Erziehungsratgeber „Die deutsche Mutter und ihr erstes
Kind“ (1934), das in leicht modifizierten Neuauflagen und unter
allgemeinerem Titel bis in die 1970er Jahre in deutschen Haushalten
weit verbreitet war und die Gedankenwelt vieler Familien bis heute
auf unselige Weise prägt. Der Grundgedanke des größten
Verkaufserfolgs der letzten Jahre auf dem Markt der
Erziehungsratgeber („Jedes Kind kann schlafen lernen“) lautet
„lasst das Kind schreien, bis es still ist“. Schon die spätere
NS-Gausachbearbeiterin für „Rassefragen“ Haarer hatte in ihrem
Buch das Kind geradezu als Feind betrachtet: um es zu einem
zukünftigen guten deutschen Soldaten zu erziehen, sind direkter
Blickkontakt, Spaß, Trost und Freude strengstens verboten, und wenn
das Kind schreit „dann, liebe Mutter, werde hart! Fange nur ja
nicht an, das Kind aus dem Bett herauszunehmen, es zu tragen, zu
wiegen, zu fahren oder es auf dem Schoß zu halten, es gar zu
stillen.“
Genau vor diesem unseligen
Kontrast, deren Auswirkungen für das persönliche Glück eines
Kindes und seinen Start ins Leben kaum bedeutsamer sein könnte, hat
der amerikanische Schriftsteller Jim Shepard einen beeindruckenden
Roman konstruiert und damit ganz nebenbei die vielleicht gelungenste
fiktive literarische Vergegenwärtigung einer Kindheit im Warschauer
Ghetto geschaffen, die wir bislang lesen durften. Dabei ist es dem
Autor auf vorbildliche Art und Weise gelungen, die Gedankenwelt
Janusz Korczaks und den von ihm propagierten wünschenswerten Umgang
mit Kindern so auf eine anspruchsvoll-fesselnde Handlung zu
übertragen, dass sein Buch auch jenseits genauerer (oder auch nur
weitläufiger) Kenntnis der pädagogischen Ideen Janusz Korczaks als
unkonventionelle Mischung aus Bildungs- und Schelmenroman glänzend
funktioniert.
„Ich sehe meine
Gefühle durch ein Teleskop“, sagte er. „Es ist eine kleine
Bande, die sich auf einer polaren Ebene zusammendrängt. Wenn einer
hustet, empfinde ich zuerst Mitleid und dann das Gegenteil:
Vielleicht ist er ansteckend. Vielleicht müssen wir ihm unser
letztes bisschen Arznei geben."
Sie entschuldigte sich
und sagte, sie lasse ihn jetzt schlafen.
„Ich bin nicht dazu
da, um geliebt zu werden, sondern um zu handeln“, sagte er zu ihr.
„Der Heilige befiehlt
und Gott ist sein Vollstrecker“, sagte sie.
„Ich tue, was ich
kann“, sagte er. „Unser Gott mag nicht den Willen haben, dem
Gesetz Geltung zu verschaffen, aber das heißt nicht, dass wir das
Gesetz nicht befolgen sollten.“
„Wen verklagen wir
wegen Vertragsbruch?“, fragte sie.
„Levi Jizchak, der
Berditschewer Rebbe, soll Gott vor ein rabbinisches Gericht geladen
haben“, sagte er zu ihr.
„Ich glaube, wir
finden nie einen Ort, an dem wir in Ruhe verdauen können und unseren
Frieden haben“, sagte sie.
„Manchmal denke ich:
Schlaf nicht ein“, sagte er. „Hör dir noch zehn Minuten ihr
Atmen an. Ihr Husten. Die leisen Geräusche, die sie machen.“
Der kleinwüchsige,
schwächliche Aron wächst als zweitjüngstes Kind einer armen
jüdischen Familie im dörflichen Polen auf. Seine ersten Lebensjahre
sind von einem urtümlich-anarchischen Freiheitsdrang geprägt, der
von seiner Familie zunächst als Anzeichen von Schwachsinn missdeutet
wird. Da man ihm aufgrund seiner geringen Körpergröße allgemein
wenig zutraut und er erst spät zu lesen und zu schreiben lernt, darf
er zu Hause viel Zeit mit seiner Mutter verbringen, deren ganze
mütterliche Liebe und Sorge jedoch dem bettlägerigen jüngsten
Bruder gilt, der nach Jahren liebevoller Pflege schließlich doch
entkräftet an einer Lungenentzündung stirbt. Als Arons Vater wenig
später eine Stelle als Fabrikarbeiter in Warschau annimmt und die
ganze Familie mit ihm in die polnische Metropole zieht, erweitert
sich der Horizont des aufgeweckten, aber vernachlässigten Jungen
schlagartig. Nachdem er seine Hilfsarbeitertätigkeit wegen seiner
unerschütterlichen Eigensinnigkeit verloren hat, beginnt er mit
einem befreundeten Nachbarsjungen eine denkwürdige Karriere als Dieb
und Schmuggler, wodurch er erstmals den wohlwollenden Respekt seines
hartherzigen Vaters gewinnt, während die Beziehung zur geliebten
Mutter darunter leidet. Diesen herzzerreißenden Konflikt meistert
Aron jedoch mit dem bedingungslosen Selbstbewusstsein eines
Erwachsenen, ohne dabei in seiner Liebe nachzulassen.
In dieser Nacht
krabbelte ich, als alle schliefen, zu meiner Mutter ins Bett, was sie
überraschte. Sie roch nach Kohl und nach Ofenkohle. „Hast du
schlecht geträumt?“, fragte sie mit ihrer schläfrigen Stimme. Ihr
Finger kitzelte mich am Ohr:
„Wein nicht“, sagte
ich zu ihr, und sie steckte meinen Kopf unter ihr Kinn. Ich schlang
die Arme um ihren Hals, und da sagte sie, ich sei ihr wunderbarer
Junge. Als ich am nächsten Morgen aufwachte, hatte ich ins Bett
gemacht.
Die Bombardierung
Warschaus durch Nazi-Deutschland und die anschließende Besetzung
Polens verändern das Leben von Aron und seiner Familie tiefgreifend.
Dabei ist es ausgerechnet Aron, der sich der allmählichen
Einschränkungen durch die Nazis am längsten und besten zu erwehren
vermag. Selbst noch als er mit seinen Angehörigen eine karge Wohnung
im Ghetto beziehen muss, das die Deutschen zunehmend strenger und
repressiver von der Außenwelt abriegeln, kann er durch seine rege
Schmugglertätigkeit durch ein Mauerloch und später durch den
Haupteingang seiner Familie und seinen Freunden erstaunlich lange ein
einigermaßen erträgliches Leben finanzieren. Doch das bleibt nicht
lange so. Bald schon wird eine weitere Großfamilie in ihrer engen
Wohnung einquartiert und wenig später müssen sich Arons Vater sowie
seine beiden älteren Brüder zu einem angeblichen Arbeitseinsatz
melden. Man wird nie wieder von ihnen hören. Als besonders
verhängnisvoll erweist sich jedoch auf lange Sicht Arons
„Freundschaft“ mit einem opportunistischen Angehörigen der
jüdischen Ghettopolizei, der seinen Schützling als Spitzel und
arglosen Denunzianten missbraucht.
Warschauer Ghetto, Krochmalna-Straße |
Nachdem er hilflos mit
ansehen muss, wie einer seiner Freunde vor seinen Augen von der
Gestapo erschossen wird und seine geliebte Mutter wenig später nach
wochenlangem Leiden an Fleckfieber stirbt, steht Aron schließlich
ganz allein da. Weil seine Freunde ihn gleichzeitig zu Recht und zu
Unrecht für einen Denunzianten halten und ihn mit dem Tod bedrohen,
versteckt er sich über Wochen in den Ruinen zerstörter Häuser und
verlassenen Kellern. Am Ende seiner Kräfte wird er schließlich von
Janusz Korczak gefunden, der ihn in seinem Waisenhaus aufnimmt, wo
sich Aron langsam erholt – nicht nur körperlich, sondern auch
psychisch. Hier lernt er einen kaum für möglich gehaltenen
Mikrokosmos von gegenseitigem Respekt und Toleranz kennen, in dem
sich Kinder und Erwachsene auf gleichberechtigter Ebene begegnen. Im
barbarischen Umfeld des Ghettos, in dem die Nationalsozialisten ein
gewalttätiges Regime mutwilliger Anarchie installiert haben, das der
Philosophie Janusz Korczaks auf größtmögliche Weise entgegensteht,
sorgt dieser selbst unter schlimmsten Rahmenbedingungen bis an den
Rand der totalen Erschöpfung für eine Atmosphäre der
Menschlichkeit und des Friedens sowie für ein ausgeprägtes
feinsinniges Kulturleben. Noch im Sommer 1942 führt er mit seinen
Kindern Rabindranath Tagores berühmtes Stück „Das Postamt“ auf,
das aufgrund seiner befreierischen Thematik auch in den
Konzentrationslagern zu dieser Zeit ausgesprochen häufig gespielt
wurde. Und obwohl Aron immer noch die Rache seiner ehemaligen
Kameraden fürchtet, darf er schon bald den Heimleiter auf seinen
täglichen kräftezehrenden Betteltouren begleiten, mit denen der
berühmte Pädagoge bis zuletzt das Bestehen seines Waisenhauses
aufrecht zu erhalten versucht.
Ich war bei ihm, weil
ich jetzt jedes Mal, wenn die Lichter ausgingen, daran denken musste,
wie meine Mutter im Krankenhaus aufwachte und mich nirgendwo fand und
wie sehr es sie überraschte, dass sie keine Faust machen konnte. Ich
sah Luteks Gesicht, als ihm die Kaninchenfellmütze davonflog.
„Während ich hier
lag, erfand ich eine Maschine“, sagte Korczak mit dem Rücken zu
mir. „Eine Art Mikroskop, das in einen hineinsehen konnte. Es hatte
eine Skala von eins bis hundert, und ich stellte die Messschraube auf
neunundneunzig, sodass jeder sterben würde, der nicht zumindest ein
Prozent seiner Menschlichkeit behalten hatte. Nachdem ich die
Maschine dann hatte laufen lassen, waren nur noch Bestien übrig.
Alle anderen waren umgekommen.“
„Sie hatten eine
schwere Woche“, sagte Madame Stefa.
„Und als ich die
Messschraube auf achtundneunzig stellte, war ich ebenfalls tot“,
sagte er.
Über die letzten Tage
Janusz Korczaks und seiner fast 200 Schützlinge gibt es zahlreiche
erschütternde authentische Zeitzeugenberichte. In der wohl
prominentesten literarischen Beschreibung schildert der Pianist
Waldyslaw Szpilman auf herzzerreißende Art und Weise, wie Korczak
und seine langjährige Partnerin Stefania Wylczynska die Kinder
Anfang August 1942 angesichts des Deportationsbefehls auf einen
Sommerausflug vorbereiten und sie fröhlich singend zum Umschlagplatz
begleiten. Wir wissen heute, dass Korczak aufgrund seiner Prominenz
nicht nur vom polnischen Widerstand, sondern auch von den deutschen
Besatzern zahlreiche Gelegenheiten erhielt, der Deportation nach
Treblinka zu entgehen, jedoch die von ihm betreuten Kinder um keinen
Preis im Stich lassen wollte und sie vermutlich sogar bis in die
Gaskammer begleitete – eine Konstellation äußerster
Selbstaufopferung, die auch Jerry Lewis in seinem niemals
fertiggestellten Film „The Day the Clown Cried“ (1972)
künstlerisch umzusetzen versuchte. In Jim Shepards Roman soll Aron
schließlich unter dem Druck seiner nun im Widerstand organisierten
ehemaligen Freunde entscheidende Hinweise für einen Anschlag auf das
deutsche Polizeihauptquartier liefern. Die einzige Bedingung, die er
stellt, scheint jedoch vollkommen unerfüllbar...
Jim Shepard/© Jim Shepard |
Das große literarische
und moralische Wagnis, die historischen Vorgänge im Warschauer
Ghetto im Rahmen der fiktiven Handlung eines Romans zu schildern, ist
Jim Shepard durch seine sensible, psychologisch fundierte Arbeit an
seinen vielschichtigen Charakteren und dank seiner mühevollen,
psychisch aufreibenden Quellenrecherche auf ebenso überraschende wie
bewundernswerte (und noch dazu spannende) Art und Weise kongenial
geglückt. Die von ihm geschilderten Ereignisse bewegen sich dabei
nicht nur im engsten Bereich des historisch Möglichen, sondern
stellen eine so meisterhafte Verdichtung all dessen dar, was wir
heute über die Schoah sowie die Vielzahl der in ihr versammelten
Einzelschicksale wissen, dass man hier kaum noch von Fiktion sprechen
kann. Obwohl alle wesentlichen von Janusz Korczak eingeforderten
Kinderrechte (Achtung der Unwissenheit des Kindes, Achtung der
Wissbegierde des Kindes, Achtung der Misserfolge und Tränen des
Kindes, Achtung des Eigentums des Kindes, Recht des Kindes, so zu
sein, wie es ist) dem jungen Protagonisten im Rahmen der Handlung von
den Erwachsenen systematisch vorenthalten, abgesprochen oder geraubt
werden, stellt er sich den Herausforderungen seines Lebens mit
bewundernswertem Mut. Jim Shepard hat mit seinem fesselnden Roman
nicht nur dem Vermächtnis des großen Pädagogen Janusz Korczak ein
unvergessliches literarisches Denkmal gesetzt, sondern auch der
bewundernswerten menschlichen Fähigkeit, seinen eigenen inneren Kern
selbst unter den widrigsten Bedingungen niemals aufzugeben, denn er
ist das Einzige, was von uns bleibt – deshalb dürfen wir nicht
aufhören, an die Opfer von Krieg und Gewalt zu erinnern.
„Aron und der König der Kinder“, aus dem Amerikanischen von Claudia Wenner, erschienen bei
C.H. Beck, 270 Seiten, € 19,95
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