Am Landgericht Detmold
findet zur Zeit der möglicherweise letzte große Auschwitz-Prozess
vor einem Gericht in Deutschland statt. Der 94jährige ehemalige
Angehörige der SS Reinhold H. muss sich wegen Beihilfe zum Mord in
mindestens 170.00 Fällen verantworten, an denen er als Wachmann im
Stammlager des Konzentrations- und Vernichtungslagers
Auschwitz-Birkenau beteiligt gewesen sein soll. Ein jüdischer
Auschwitz-Überlebender, der im laufenden Prozess als Zeuge und
Nebenkläger fungiert, bekannte am Abend des ersten Verhandlungstages
gegenüber den Tagesthemen, dass er mitunter irritierenderweise eine
gewisse Art von Mitleid gegenüber dem Angeklagten empfinde, dessen
altersbedingter schlechter Gesundheitszustand den Prozess für ihn zu
einer großen physischen und psychischen Belastung mache.
Konzentrationslager Auschwitz/Foto: Logaritmo |
Reinhold H. selbst hat
sich bislang nicht geäußert – weder zu den gegen ihn persönlich
erhobenen Vorwürfen noch zu dem prinzipiellen historischen
Sachverhalt des kollektiven von Nazi-Deutschland begangenen
Völkermords an Europas Juden, über den hier jenseits individueller
Schuld verhandelt wird. Holocaust-Experten und Gerichtspsychologen
sehen in seiner Persönlichkeit die für viele Angehörige der
Tätergeneration typischen Verdrängungsmechanismen auf absolut
repräsentative Art und Weise verwirklicht: „Ich kann mich nicht
erinnern, ja das ist mein Flair“, wie es der Texter der
Comedy-Gruppe EAV, Thomas Spitzer dem ähnlich „vergesslichen“
ehemaligen Wehrmachtsoffizier und späteren österreichischen
Bundespräsidenten Kurt Waldheim vor fast dreißig Jahren in einer
nonchalanten „Rock Me Amadeus“-Persiflage in den Mund legte.
Ohne Frage war die Zeit
des Nationalsozialismus auch für sogenannte Volksdeutsche
traumatisch. Sich aber an selbst mitverantwortete oder auch nur
stillschweigend geduldete Verbrechen einfach nicht zu erinnern,
scheint angesichts der erdrückenden historischen Beweislast wenig
glaubwürdig. Aber auch die zweite, nach dem Krieg flächendeckend
immer wieder vorgeschobene allgemeine Ausflucht, man habe ja von all
diesen furchtbaren Verbrechen gar nichts gewusst, hält einer
genaueren Untersuchung des Sachverhalts kaum stand: jeder
wahlberechtigte Deutsche, der es wissen wollte, war schon vor 1933 in
der Lage dazu, sich über Hitlers radikale Ziele zu informieren. Nach
der Machtergreifung wurden die deutschen Juden auf beispiellose Art
und Weise ausgegrenzt und verfolgt, wurden schließlich deportiert
und ermordet, waren am Ende nahezu spurlos aus der deutschen
Öffentlichkeit verschwunden.
Die Behauptung, vom
monströsen nationalsozialistischen Verbrechen an den europäischen
Juden nichts gewusst zu haben, obwohl die Transporte ja gewöhnlich
von zentralen Sammelstellen in deutschen Großstädten losfuhren, auf
deutschen Bahnstrecken, die gewöhnlich Städte und Dörfer auf
direktem Weg miteinander verbinden, ist ein Mythos, den
möglicherweise nur eine Generation zu akzeptieren bereit sein
konnte, die jüdisches Leben in Deutschland schon nicht mehr kannte
und von den Kriegstraumata ihrer Eltern hoffnungslos überfordert
war. In seinem erschütternden Buch „Kind, versprich mir, dass du dich erschießt“ über die bis heute kaum bekannte
Selbstmordepidemie im Deutschland des Jahres 1945 berichtet der Autor
Florian Huber sehr eindrücklich von einem Dorf in der Lausitz, in
der in den letzten Kriegstagen die sehr bezeichnende Angst vor einer
riesigen russischen Knochenbrechermaschine kursierte, mit deren Hilfe
die besiegten Deutschen nach der kurz bevorstehenden Kapitulation auf
fabrikmäßig-ökonomische Art und Weise vernichtet werden sollten.
Eine deutlichere unbewusste Spiegelung der von Nazi-Deutschland
verantworteten Verbrechen kann man sich kaum vorstellen.
"Pegida"-Demonstration in Dresden/Foto: blu-news.org |
Wenn man vor einer Wahl
steht, egal ob es sich dabei um eine moralisch-abstrakte oder
konkrete körperschaftliche Wahl handelt, muss man sich selbst
notwendigerweise Rechenschaft über die möglichen Konsequenzen
seiner Entscheidung ablegen. Man muss sich über die eigenen
moralischen Maßstäbe und persönlichen Ziele klarwerden sowie unter
Umständen zwischen verschiedenen Alternativen abwägen und sich für
die eine oder die andere Möglichkeit entscheiden. Aber man muss
auch, nachdem man seine Wahl getroffen hat, ihre direkten
Auswirkungen unablässig mit der Realität vergleichen, um sich
darüber bewusst zu werden, ob die eigenen Ansprüche in ihnen
tatsächlich verwirklicht werden. Als 1933 die Nationalsozialisten
auf demokratischem Wege an die Macht gelangten, hatten sich viele
Deutsche für populistische Versprechen und die vermeintliche
Hoffnung auf ein besseres Leben entschieden. Sie taten dies aber
bewusst auf Kosten anderer und mit wenig rationaler Voraussicht auch
auf eigene Kosten.
Letztlich drängt sich das
Bild von unreifen, kindischen Menschen auf, deren Eigennutz, Ignoranz
und Bequemlichkeit deutlich größer sind als ihr Wille, das eigene
Lebensumfeld mit wachen Sinnen und scharfem Bestand zu beobachten,
selbst nachzudenken und Verantwortung fürs eigene Leben zu
übernehmen. Das Bild von Hitler als Verführer, der die Deutschen
auf einen verhängnisvollen und falschen Weg geführt hat, ist nicht
mehr als eine bequeme Selbsttäuschung. Wer sich nachträglich von
einem populistischen Demagogen getäuscht fühlt, gleicht einem
Freier, der eine aufregende, aber unpersönliche Nacht im Bordell
verbracht hat und am nächsten Morgen lauthals herumjammert, die Hure
hätte es lediglich auf sein Geld abgesehen gehabt und ihn zum Dank
noch mit einer Geschlechtskrankheit angesteckt.
Diese Einstellung – und
es scheint äußerst schmerzvoll dies zuzugeben – ist auch heute
noch weiter verbreitet, als man sich gemeinhin einzugestehen bereit
ist: zum Beispiel dort, wo für den drohenden Verlust von
Arbeitsplätzen in der deutschen Automobilindustrie aufgrund
gesetzeswidriger Abgasmanipulationen die USA als Spielverderber
verantwortlich gemacht werden anstatt des VW-Konzerns als
Verursacher. Oder wo ein ehemals staatlich subventionierter
Industriezweig notwendig gewordene Einschränkungen des Gesetzgebers
mit dem Hinweis auf die bisherige Praxis nicht hinnehmen will. Oder
wo jemand über die Kürzung seiner Rente schimpft, obwohl er weiß,
dass sich die gesellschaftlichen Verhältnisse im Vergleich zum
ursprünglichen Veranlagungszeitraum so einschneidend verändert
haben, dass realitätsbezogene Anpassungen unumgänglich sind. Wo
einer seinen vermeintlich sicheren Job verliert, den man ihm
ursprünglich als absolut krisensicher anemphohlen hat. Oder einfach
nur dort, wo man für einen persönlichen Fehlkauf die Schuld nicht
bei sich selbst sucht, sondern beim Verkäufer oder Hersteller. Die
Liste scheinbar banaler Beispiele ließe sich ohne Mühe beliebig
fortsetzen, aber die kollektive Einstellung, die ihr zugrunde liegt,
ist alles andere als banal, sondern sehr gefährlich, denn es geht
dabei um nichts anderes als die persönliche Verantwortung als
Individuum und als mündiger Teil eines Kollektivs abzugeben und sich
durch die Unterwerfung unter eine äußere (Pseudo-)Autorität
moralische Absolution zu erkaufen.
Landgericht Detmold/Foto: Tsungam |
Ein spezifischer
Lösungsansatz, für den man als Schüler noch eine Eins bekommen
hat, kann vierzig Jahre später grundsätzlich falsch sein. Das mag
für den Betreffenden schwer zu akzeptieren sein, besonders wenn er
sich angesichts seiner Leistung über Jahrzehnte in der falschen
Gewissheit amtlicher Anerkennung gesonnt hat, aber das Leben hält
für solche Erlebnisse keine Garantie und kein Sicherheitsnetz
bereit. Seiner persönlichen Verantwortung für sich, sein Leben und
seine Mitmenschen muss man sich unmittelbar selber stellen.
Besorgniserregend scheint, dass sich in der Einstellung vieler
Deutscher in dieser Hinsicht offenbar bis heute wenig geändert hat.
Ständig sehen sie sich permanent arglistig getäuscht und
übervorteilt, ob vom Staat, von der sogenannten Lügenpresse, dem
Arbeitgeber oder der Gewerkschaft. Angesichts des gesellschaftlichen
Zuspruchs, den fremdenfeindliche, nationalchauvinistische
Organisationen wie AfD und Pegida derzeit erhalten, ist es jedoch zu
wenig, den eigenen Verstand auszuschalten und darauf zu hoffen, dass
man später nicht sagen muss: Sie haben uns getäuscht! Wie hätten
wir es jemals für möglich halten sollen, dass sie wirklich auf
Flüchtlinge schießen würden, sie haben ja nur gesagt, dass sie es
vorhaben!
Es gibt Stimmen, die einem
greisen Angeklagten wie Reinhold H. mit Hinweis auf seinen
angeschlagenen Gesundheitszustand einen anstrengenden Prozess vor dem
ordentlichen Gericht eines demokratischen Rechtsstaates ersparen
wollen. Dies würde aber trotz des gebotenen menschlichen Mitgefühls
nicht nur ein erneutes nicht zu rechtfertigendes Verbrechen an den
Opfern der Schoah darstellen, die in den deutschen
Konzentrationslagern ungeachtet ihres Alters und Gesundheitszustandes
vollkommen willkürlich millionenfach in den Tod geschickt wurden. Es
wäre außerdem eine öffentliche Verhöhnung all derer, die diese
Schrecken überlebt haben und bis heute an ihren zahlreichen
physischen und psychischen Folgen leiden und auf Gerechtigkeit und
öffentliche Anerkennung hoffen. Letztlich wäre eine ordentliche
Durchführung des Prozesses gegen Reinhold K. Aber auch ein wichtiges
Signal, dass die historische Selbsttäuschung all jener die „nichts
gewusst haben“ wollen, „sich nicht erinnern können“ oder “sich
vom Führer betrogen fühlen“ vor Gericht keinen Bestand haben
kann. Diese Erkenntnis ist entscheidend – besonders heute.
Keine Kommentare:
Kommentar veröffentlichen
Hinweis: Nur ein Mitglied dieses Blogs kann Kommentare posten.