Der
erste Band der neuen Buchreihe „Meine rätselhaften Lehrjahre“
des fiktiven Erzählers Lemony Snicket ist ein schmales Büchlein von
gerade einmal 221 Seiten. Auf der Rückseite des vom kanadischen
Comic-Künstlers Seth elegant dreifarbig gestalteten Umschlags ist
ein Auschnitt aus einer überschwänglichen Rezension anlässlich des
Erscheinens der amerikanischen Originalausgabe im renommierten Boston
Globe abgedruckt, die besagt man müsse dieses Buch unbedingt
zweimal lesen: „Das erste Mal für die Lacher und das zweite
Mal, um die Spur zu verfolgen.
Diese
Diagnose ist indes absolut korrekt, denn es gibt kaum einen anderen
zeitgenössischen Schriftsteller, der es so geistreich versteht,
falsche literarische Spuren für seine Leser auszulegen wie Daniel
Handler (geboren 1970), der unter seinem bewährten Pseudonym Lemony
Snicket bereits den großen internationalen Erfolg seiner ersten,
zwischen 1999 und 2006 erschienenen dreizehnteiligen Kinderbuchreihe
„Eine Reihe betrüblicher Ereignisse“ verantwortete, deren ersten
drei Teile bereits im Jahr 2004 mit Jim Carrey eindrucksvoll für
Hollywood verfimt wurden.
Schon
diese erste Buchreihe um die drei ausdrücklich „bemitleidenswerten“,
von ihrem raffgierigen Onkel, Graf Olaf, verfolgten steinreichen
Baudelaire-Waisen erfreute sich besonders bei Erwachsenen großer
Beliebtheit, weil Handler es darin virtuos verstand, ein
surrealistisch-dunkles viktorianisches Setting mit
ironisch-sarkastischem Humor und einer überbordenden kindlichen
Fantasie zu mitreißend-skurrilen Geschichten zu verarbeiten, in
denen er stets besonders pointierte, sprachlich wie philosophisch
funkelnd-schöne Formulierungen für die verschiedensten
Denkwürdigkeiten des menschlichen Alltags fand, wie sie im deutschen
Sprachraum in dieser Dichte nur Wolf Haas zu schaffen vermag.
Ich
folgte Theodora die Auffahrt entlang und eine lange Ziegeltreppe
hinauf zur Eingangstür, wo sie sechsmal hintereinander Sturm
klingelte. Alles sagte mir, dass das falsch war – dass wir am
falschen Ort vor der falschen Tür standen. Aber das half mir nichts.
Zu wissen, dass etwas falsch ist, ohne dass das etwas hilft, ist eine
Erfahrung, die man im Leben häufig macht, und ich bezweifle, dass
ich je wissen werde, warum.
Diese
weise, bei gewöhnlichen Menschen sich erst am Ende eines langen,
erfüllten Lebens einstellende Erkenntnis aus dem zweiten Kapitel
seines neuen Buchs „Der Fluch der falschen Frage: Meine
rätselhaften Lehrjahre, Teil 1“, welches den gelungenen
Auftakt zur ebenfalls auf mehrere, bisher noch nicht exakt bezifferte
Teile angelegten Vorgeschichte des Werdegangs von Lemony Snicket in
einer obskuren kafkaesken Geheimorganisation namens V.F.D. erzählt,
ist exemplarisch für ein schwer zu fassendes, von großer
Originalität geprägtes Werk, das die komplexe, in vielerlei
Hinsicht bereits vollendete, geradlinig-authentische kindliche
Persönlichkeit auf eine Art und Weise feiert, wie es selbst im
Bereich der pädagogischen oder kinderpsychologischen Fachliteratur
nur ganz selten vorkommt.
Daniel Handler |
Die
Tatsache, dass Daniel Handlers Werke für den durchschnittlichen
deutschen Spießbürger aufgrund des darin transportierten
hellwachen, anarchischen Humors als probate zeitgemäße
Weltanschauung und ihrer aus Kinder(alb)träumen sowie intuitiv zu
unserer Seele sprechenden Märchen gespeisten dunklen Grundatmosphäre
schwer einzuordnen sind, hat bisher leider einen angemessenen
kommerziellen Erfolg im deutschen Sprachraum vnachhaltig erhindert.
Dabei spricht der Autor auf wunderbare und versöhnliche Art und
Weise in besonderem Maße auch das verdrängte oder beiseite
geschobene Kind im erwachsenen Leser an.
„Die
Landkarte ist nicht das Gelände.“
„Was
soll das heißen?“
„Das
ist ein Erwachsenenausdruck für den Schlamassel, in dem wir
stecken.“
„Erwachsene
erzählen Kindern nie irgendwas.“
„Kinder
Erwachsenen aber auch nicht“, sagte ich. „Die Kinder und die
Erwachsenen dieser Welt sitzen in getrennten Booten und begegnen sich
nur, wenn entweder wir wollen, dass sie uns mit dem Auto irgendwo
hinfahren, oder wenn sie wollen, dass wir uns die Hände waschen.“
Am Anfang des Buches sitzt der
zwölfjährige Erzähler Lemony Snicket nach Abschluss seiner
theoretischen Grundausbildung mit seinen beiden Eltern vor einer
giftig-dampfenden Teetasse in Schierlings
Schreibwaren und Café
gegenüber des Hauptbahnhofs einer namenlosen Großstadt, als eine
Frau mit einer wilden, wallenden Haarmähne das heruntergekommene
Etablissement betritt, schnell eine Postkarte kauft und, bevor sie
den merkwürdigen Laden eilig wieder verlässt, dem angehenden
Praktikanten im Vorübergehen heimlich einen Zettel mit einer
geheimen Botschaft zusteckt:
KLETTER AUS DEM KLOFENSTER UND
KOMM IN DIE
GASSE HINTER DEM LADEN. ICH
WARTE IN DEM
GRÜNEN ROADSTER. DU HAST FÜNF
MINUTEN.
S.
„Roadster“,
das wusste ich, war ein hochgestochenes Wort für Auto, und ich
fragte mich unwillkürlich, welcher normale Mensch sich die Mühe
machte, „Roadster“ zu schreiben, wenn das Wort „Auto“
vollkommen ausreichte. Ich fragte mich auch, welcher normale Mensch
eine Geheimbotschaft signierte, und sei es nur mit einem S. Eine
Geheimbotschaft war geheim. Wozu also die Unterschrift?
Die
geheimnisvolle Frau erweist sich nach geglückter Flucht als
zukünftige, selbstgewählte Mentorin des Erzählers, die angeblichen
Eltern als hinterhältige, heimtückische Unbekannte und der Tee als
mit dem starken Opiat Laudanum versetztes Betäubungsgetränk.
Wenn
ich meinen Tee getrunken hätte, wäre ich nicht in dem Roadster
gelandet, und wenn ich nicht in dem Roadster gelandet wäre, dann
wäre ich auch nie im falschen Baum gelandet oder im falschen Keller,
dann hätte ich nie die falsche Bibliothek zerstört oder all die
anderen falschen Antworten auf die falschen Fragen gefunden, die ich
stellte. S. Theodora Markson hatte recht. Es gab niemanden hier, der
mich an die Hand nahm.
Schon
bald verschlägt es die beiden ungleichen Partner in eine fast
gänzlich entvölkerte Stadt namens Schwarz-aus-dem-Meer, eine der
schäumenden See durch Trockenlegung abgerungene armselige Enklave,
deren ehemaliger Reichtum, die ganzen Kolonien von Tintenfischen
mittels bizarrer spritzenartiger Maschinen industriell entfernte
schwärzeste Tinte der Welt, längst versiegt ist. Hier sollen sie im
Auftrag einer merkwürdigen alten Dame einen angeblich gestohlenen
Gegenstand wiederbeschaffen, deren Wert laut Klientin auf eine „mehr
als astronomische Summe“ geschätzt werde: eine abgrundtief
hässliche Statuette der sogenannten Bordunbestie, einem
furchterregenden Fabelwesen aus dem lokalen Sagenkreis.
"Lemony Snicket" |
Das
sich aus diesen Zutaten entspinnende köstlich-geniale Verwirrspiel,
das von zahlreichen gelungenen Wort-Definitionen, einem konsequent
durchexerzierten Running-Gag um den Namen S. Theodora Markson („Wofür
steht das S?“), einer ganzen Reihe falscher Fragen, deren
wichtigste „Wer kann das so spät noch sein?“ den englischen
Originaltitel zitierend auf dem Rückumschlag abgedruckt ist, sowie
zahllosen unvergesslich-skurrilen Charakteren mit bemerkenswerten
Namen befeuert wird, die die jüdisch-deutsche Herkunft des Autors
ebenso offenbaren wie seine umfangreiche klassische literarische
Bildung, hinterlässt uns bis zum Ende geradezu atemlos amüsiert.
Die
Motten umflatterten ein kleines Schild mit dem Aufdruck: DASHIELL
QWERTZ, UNTER-BIBLIOTHEKAR. Er war jünger, als ich mir Bibliothekare
im Allgemeinen vorstelle, zu jung, um der Vater von irgendwem zu
sein, den ich kannte, und seine Frisur sah aus, als hätte er die
Scherenattacke eines Geisteskranken überlebt.
Dass
die Auflösung schließlich weniger spektakulär ausfällt als man
möglicherweise erwarten möchte und viele unerwartete Pointen noch
für die nächsten, sehnlichst erwarteten und hoffentlich bald
folgenden Abenteuer offen lässt, unterstützt nur die bereits am
Anfang gelernte Lektion – denn das „ist eine Erfahrung, die
man im Leben häufig macht“. Es
bleibt dennoch vollkommen unerlässlich, das Buch gleich nach
Abschluss der Lektüre ein zweites Mal zu lesen, denn die Art und
Weise wie Daniel Handler uns ein ums andere Mal an der Nase
herumführt, ohne etwas Wesentliches zu verschweigen, ist einfach
unnachahmlich.
Dabei kommt Handler allerdings in
besonderem Maße die höchst signifikante Tatsache zugute, dass
Kinder noch ganz anders, vor allem viel aufmerksamer und umfassender
zu beobachten und zu formulieren vermögen als Erwachsene. Aus dieser
vom Autor offenbar tief verinnerlichten Grundpannung bezieht „Der
Fluch der falschen Frage“ einen großen Teil seiner wunderbaren,
geistreich-witzigen Energie.
„Lemony
Snicket“, sagte ich und überreichte ihr einen Umschlag, der in
meiner Tasche gesteckt hatte. Darin befand sich mein sogenanntes
Empfehlungsschreiben – ein paar wenige Zeilen, die mich als einen
herausragenden Leser, einen guten Koch, einen mittelmäßigen Musiker
und einen miserablen Zänker auswiesen. Mir war verboten worden, mein
Empfehlungsschreiben zu lesen, und ich hatte ziemlich lange
gebraucht, um die Klebelasche zu lösen und neu zu versiegeln.
Das Buch ist vom vielfach
ausgezeichneten Comic-Künstler Seth in einer kongenialen, dem Geist
des Bandes absolut gerecht werdenden, hintergründig-ironischen
Bildsprache durchgängig zweifarbig illustriert worden, was perfekt
zum Charakter des Romans als immer wieder lesbares Lieblingsbuch
passt, in dem man jedes Mal neue Details zu entdecken vermag. Eine
schöne Idee, denn dadurch wird die Nähe zum nahe verwandten Genre
des ambitionierten Comics oder der Graphic Novel besonders deutlich.
Daniel Handler aber ist ein Genie, dem mit dem Auftakt zu seiner
neuen Buchreihe ohne Zweifel ein weiterer großer Wurf gelungen ist.
„Der Fluch der falschen Frage“,
aus dem Amerikanischen von Sabine Roth, erschienen bei Goldmann, 221
Seiten, € 10,-