Die vielfältigen Migrationsbewegungen des
Zwanzigsten Jahrhunderts haben nicht nur unsere Wahrnehmung des Islam
und der arabischen Welt nachhaltig verändert, sondern deren
wechselhafte Geschichte auch ins Herz unserer Gesellschaft getragen.
Autoren wie der kürzlich völlig zu Recht mit dem von der Stadt
Heidelberg alle drei Jahre vergebenen Hilde-Domin-Preis für
Exilliteratur ausgezeichnete Abbas Khider bereichern die deutsche
Sprache und das Geistesleben in unserem Land auf vielfach-ungeahnte,
wunderbare und kaum zu ermessende Art und Weise.
Auch der Berliner Schriftsteller Sherko Fatah
wurde im Jahr 2007 mit diesem wichtigen Literaturpreis prämiert,
noch bevor er seine wichtigsten beiden Werke veröffentlicht hatte.
1964 als Sohn eines Kurden irakischer Herkunft und einer deutschen
Mutter in Ost-Berlin geboren, verbrachte er einen Teil seiner
Kindheit und Jugend in Wien, bevor sich die Familie schließlich
endgültig in West-Berlin niederließ. Seine familiären Wurzeln in
Kurdistan hat Fatah jedoch immer gepflegt, er ist ein ausgewiesener
Kenner der vielfältigen historischen Voraussetzungen für die
blutigen Konflikte des Nahen Ostens, die uns bis heute in Atem
halten.
In seinem letzten, von der Literaturkritik
gefeierten und den virtuosen Erzähler schmeichelhaft, aber nicht
unberechtigt in die Nähe von Dichtern wie Fjodor Dostojewski, Victor
Hugo oder Robert Louis Stevenson rückenden Roman „Das dunkle Schiff“ beschrieb Fatah das bittere Schicksal eines geläuterten
Islamisten im Berliner Exil, der seiner Vergangenheit als
potenzieller Selbstmordattentäter auch im befriedeten Deutschland
nicht zu entrinnen vermag.
In seinem Ende 2011 erschienenen und nun auch als
Taschenbuch vorliegenden, kaum weniger beeindruckenden epischen Roman
„Ein weißes Land“, noch im Frühjahr letzten Jahres
aussichtsreich auf der Shortlist für den Preis der Leipziger
Buchmesse, macht sich Ende der 1930er Jahre ebenfalls ein junger
Iraker auf den Weg nach Europa, um – wie er glaubt – sein Glück
zu machen. Der doppeldeutige Titel des Buches bezieht sich
anspielungsreich auf eine Formulierung Heinrich Himmlers, die dieser
in einer Unterredung mit dem fanatischen Antisemiten und arabischen
Nationalisten Mohammed Amin al-Husseini (1893-1974), dem berüchtigten
Großmufti von Jerusalem, für die im Rahmen des bevorstehenden
Angriffskrieges in Osteuropa von Nazi-Deutschland zu erobernden
Gebiete gebraucht haben soll.
Der unbedarfte Antiheld des Buches, ein kurdischer
Simplicius, ist stets auf Seiten jener, die ihm im jeweiligen Moment
die meisten persönliche Vorteile zu verheißen scheinen und wird so
zum dankbaren Spielball unterschiedlichster politischer
Machtinteressen sowie der großen gewalttätigen nationalen und
internationalen Konflikte der 1930er und 40er Jahre. Insbesondere die
zahlreichen Schnittstellen zwischen deutschem und arabischem
Antisemitismus werden in Sherko Fatahs großartigem spannenden
Schelmenroman erstmals in diesem der Öffentlichkeit kaum bekannten
offensichtlichen Zusammenhang literarisch beleuchtet.
Ich sitze hier und beobachte dich wie einen
Fremden. Aber ich kenne dich. Vielleicht werde ich es dir nie sagen:
Ich kenne dich, ich kenne dich gut. Es ist einige Jahre her. Es ist
eine Ewigkeit her. Lange genug, um mich nicht mehr zu erkennen. Aber
wie auch, du schaust mich nicht an, du schaust nie jemanden direkt
an. Du bist der wichtige Doktor aus dem fernen Deutschland. Und ich,
was bin ich schon? Der Bote, den du nicht brauchst, der dir lästig
ist. [...] Und doch, Gottes Wege sind unerforschlich, bist du
hierhergekommen. Du hättest überall hingehen können nach dem
Krieg. Aber nein, du bist hier, vor meinen Augen, und allein dein
Anblick bringt mir die alte Furcht zurück, die uns beide einmal
umschlossen hielt wie eine Faust.
1921, im Jahr der irakischen Unabhängigkeit
geboren, wächst der junge Anwar in einem wenig homogenen,
multiethnischen Staat von Großbritanniens kolonialen Gnaden auf und
gerät als Diener wechselnder Herren in die eskalierenden Auswüchse
von Gewalt und ersten massiven Pogrome, woran nicht nur seine
Freundschaft zu den beiden irakischen Juden Ephraim und Ezra
scheitert, sondern auch seine Liebe zu des letzteren Schwester
Mirjam. Innerhalb seiner unwahrscheinlichen, aber innerhalb der
grausamen Zeitläufe dennoch denkbaren und daher möglichen Odyssee
kämpft Anwar schließlich als Mitglied der sogenannten
Ostturkmenischen Division der Waffen-SS an der Ostfront und ist an
der blutigen Niederschlagung des Aufstands im Warschauer Ghetto
beteiligt, die er schwer verletzt überlebt.
Jemand will gehört haben, dass du ein Soldat
geworden bist und in den Krieg gezogen bist. Ich kann mir das nicht
vorstellen, du, in einer Uniform, mit einem Gewehr in der Hand. Gern
würde ich wissen, gegen wen du kämpfst und ob du all das um einer
guten Sache willen tust. Nie hast du über deine Ideen gesprochen,
immer nur zugehört. Wie kommt es da, dass ausgerechnet du bereit
bist, für sie zu sterben? Sind alle um dich herum wie du? Opfern sie
sich oder sind sie einfach nur dumm? [...] Es ist erstaunlich zu
sehen, wie wenig sich verändert, trotz der Schrecklichkeiten, die
wir aus Europa hören. Man sagt, es gebe Lager dort, in denen die
Juden umgebracht und verbrannt werden. Ich frage mich, ob du so etwas
vielleicht gesehen hast. Und ich frage mich noch etwas – aber das
spreche ich nicht aus. Wie alle anderen werden auch wir bald
fortgehen und doch sage ich: Komm zurück.
Zurück in Bagdad erlebt Anwar, wie der Irak in
konzertierten zionistischen Aktionen, an denen auch seine ehemaligen
Freunde maßgeblich beteiligt sind, seiner jüdischen Bevölkerung
nahezu vollkommen entleert wird – ein Jahrtausend fruchtbarer
Koexistenz und gelungener gegenseitiger kultureller Interaktion geht
somit zu Ende. Schließlich steht der lebenslang vergeblich dem
vermeintlichen Glück hinterherjagende ewige Verlierer der
Weltgeschichte erneut vor dem großen Nichts, gegen das die
arabischen Gesellschaften derzeit immer noch mit unverminderter
Leidenschaft revoltieren.
Sherko Fatah ist ein absoluter Glückfall für die
deutsche Literatur, da er uns in bestechender literarischer Form, mit
einer süchtig machenden Sprache und vor allem aus unserem eigenen
kulturellen Verständnis heraus unmissverständlich klar macht, dass
die Geschichte, die er so überaus versiert erzählt, heute auch
unsere Geschichte ist.
„Ein weißes Land“, erschienen bei btb, 478
Seiten, € 10,99
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