Jerusalem

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Freitag, 5. Juli 2013

„Eulenrod“ von Hans Stilett

Ein kleines Buch, lediglich handtellergroß, fadengebunden in farbig bedrucktes Leinen ohne Schutzumschlag, das ein stimmungsvoll-lichtdurchflutetes Fichtenwaldpanorama ziert und unter dessen liebevoll-verschroben wirkenden Titel „Eulenrod“ der als virtuoser Sprachkünstler ausgewiesene einundneunzigjährige Schriftsteller Hans Stilett die extravagante Erläuterung „Biographisches Mosaik“ gesetzt hat.



Schon die ungewöhnlich hochwertige Ausstattung des Buch legt nahe, dass es sich hier um so etwas wie ein literarisches Kleinod handeln muss, der ungewöhnliche Einband scheint zu suggerieren, dass sich hier nicht nur die äußere Gestaltung, sondern auch der Inhalt deutlich von dem abzuheben verspricht, was der Buchmarkt sonst gewöhnlich in Serie produziert: eine Ausstattung also wie sie sonst nur religiösen Texten, beliebten Klassikern oder philosophischen Sinnsprüchen vorbehalten bleibt.

Kinderzeit ist keine Zeit – sie bleibt ein stetes Raunen
Heut dient sie mir als Zeitvertreib und Übung im Bestaunen
Des Pfauenauges beispielsweis, das sich im Tau bewundert
Ich staune noch als Tattergreis und hoff ich werde Hundert

Kaum etwas könnte Inhalt, Wirkung und Intensität von Hans Stiletts alchemistischem kleinen Buch über seine achtzig Jahre zurückliegende Kindheit im thüringischen Städtchen Zeulenroda treffender zusammenfassen als diese zärtlich-melancholischen Verse des kurioserweise im nur etwa zwanzig Kilometer nördlich gelegenen Weida geborenen und aufgewachsenen Liedermachers und DDR-Bürgerrechlers Stephan Krawczyk in seinem einprägsamen Lied „Kinderzeit“.

Der berufliche Werdegang Hans Stiletts, geboren als Hans Adolf Stiehl, nimmt sich nach konventionellen Maßstäben eher ungewöhnlich aus: denn nachdem er dreißig Jahre als leitender Redakteur im Bundespresseamt tätig gewesen war, nahm er nach seiner Pensionierung im Jahr 1983 ein Studium der Komparatistik, Germanistik und Philosophie auf, das er 1989 mit seiner Promotion über Montaignes Reisetagebuch abschloss. Schon Seit Anfang der 1970er Jahre hatte er zahlreiche Gedichtbände veröffentlicht, die größte und breiteste öffentliche Anerkennung sollte ihm allerdings mit einer vielgerühmten hochambitionierten vollständigen Neuübersetzung von Montaignes Essays (1998) zuteil werden, einer kaum hoch genug einzuschätzender Großtat, für die der vollendete Stilist zu Recht mit zahlreichen internationalen Preisen ausgezeichnet wurde.

Als Leitstern und übergeordnetes Motto für sein neues Buch „Eulenrod“ fungiert nun ebenfalls ein Montaigne-Zitat: „Ein kleiner Mensch ist ein ganzer Mensch, genauso wie ein großer.“ So dürfen wir als Leser das große unverhoffte Glück erfahren, das Geheimnis des Lebens wie neu durch die hellwachen Augen eines spielend und neugierig beobachtend zu seinem ersten, ihm ur-eigenen Bewusstsein gelangenden Kindes zu sehen, dessen unmittelbare sinnliche Erfahrungen in einer Welt ohne Unterhaltungsindustrie durch die eng umrissenen örtlichen und familiären Gegebenheiten klar definiert werden. Eine reiche Kindheit aber vermag uns das ganze Leben lang zu bereichern:

Ein Stern, der an fernen Himmeln leuchtet. Und fremde Wesen werden rufen: Schaut die Erde! Wunderbar! Und ein Astronom, wie noch keiner ihn je sah, wird von anderswoher ihr Licht zerlegen, immer weiter, weiter, bis er plötzlich ausruft: Da ist's, da ist es! Er hat fürwahr Eulenrod entdeckt – im grünen Dunkel der Wälder ein heller Fleck, mit Straßen, mit Häusern, mit Stuben und mit Bodenkammern, und in einer träumend ich.

Hans Stilett ist zu Recht der Meinung, dass unsere Kindheit zwar äußerlich vorübergehen mag, aber dennoch in unserem Inneren für immer sicher bewahrt und aufgehoben verbleibt. Deswegen ist die Sprache seiner funkelnden Momentaufnahmen, sind die von ihm geschauten Bilder absolut universell. In ihrer stetigen, auch sprachlich konsequent umgesetzten Gegenwärtigkeit werfen sie uns im positivsten Sinne auf uns selbst zurück, bis zur tränen- und lebenswasserreichen Quelle unseres allereigensten Wesens: das ist es, was wir vom Geist der Kindheit lernen können – unser Leben mit wachen Sinnen, Neugier und ohne Angst aktiv selbst zu gestalten.

Die vom Kränzchen gehen sonntags manchmal an die Weida wandern. Heut biegen sie ins kleine Teichtal ab. Die Sonne scheint, und zwischen dottergelben Blumen gurgelt der Bach. Ich will, daß der Großvater mir ein Wassermühlrad macht, und gutgelaunt geht er drauf ein. Erst schnitzt er einen kleinen Ast als Stange zurecht, dann schneidet er ins noch grüne Holz Schlitze, durch die er zwei flache Späne zieht; das sind die Schaufeln. Dann steckt er Astgabeln in den Uferschlamm, eine links, eine rechts, und legt die Stange drauf, so daß die Schaufeln ins Wasser tauchen – und schon beginnt sich das Rad zu drehn, schnell und schneller. Werden die Wellen flach, ruckt es und bleibt stehn, nur um beim nächsten Schub noch geschwinder wieder loszulegen. Und es tanzt und tanzt. Und wir lachen und lachen, der Großvater und ich.

Die Erwachsenen im Buch vermag nur ein den Ort überfahrender Zeppelin oder die laut tösende Marschkolonne der Nazis dazu zu bewegen, die Fenster zu öffnen und ihre Köpfe herauszustrecken – nur um sie gleich wieder zuzuklappen. Für den kindlichen Erzähler jedoch ist die ganze Welt ein Abenteuer:

Ich leg mich bei Deckers Gerhard bäuchlings auf den Kiesweg und versinke ins Geschau der bunten Stiefmütterchen so tief, daß ich hernach taumle.

Zwei hohe, metaphorische Fichtenstämme verdecken den ersten sowie den letzten Buchstaben im Ortsnamen des irdisch-realen Zeulenroda und machen das waldverborgene Städtchen zum mystisch-entrückten Ort einer unvergänglich-immerwährenden Kindheit. Darin liegen alle Freuden und Kümmernisse eines vollständig gelebten Lebens literarisch geborgen.

Ich hoff, ich werde Hundertzehn beim Staunen und Betrachten
Dann will ich langsam stiften gehn und staunend mich umnachten.

So heißt es am Ende von Stephan Krawczyks Lied. Was kann man sich Schöneres wünschen, wenn man sich so reich beschenkt weiß?

Eulenrod“, erschienen bei Antje Kunstmann, 112 Seiten, € 14,95








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