Ein kleines Buch, lediglich
handtellergroß, fadengebunden in farbig bedrucktes Leinen ohne
Schutzumschlag, das ein stimmungsvoll-lichtdurchflutetes
Fichtenwaldpanorama ziert und unter dessen liebevoll-verschroben
wirkenden Titel „Eulenrod“ der als virtuoser Sprachkünstler
ausgewiesene einundneunzigjährige Schriftsteller Hans Stilett die
extravagante Erläuterung „Biographisches Mosaik“ gesetzt hat.
Schon die ungewöhnlich
hochwertige Ausstattung des Buch legt nahe, dass es sich hier um so
etwas wie ein literarisches Kleinod handeln muss, der ungewöhnliche
Einband scheint zu suggerieren, dass sich hier nicht nur die äußere
Gestaltung, sondern auch der Inhalt deutlich von dem abzuheben
verspricht, was der Buchmarkt sonst gewöhnlich in Serie produziert:
eine Ausstattung also wie sie sonst nur religiösen Texten, beliebten
Klassikern oder philosophischen Sinnsprüchen vorbehalten bleibt.
Kinderzeit ist keine Zeit –
sie bleibt ein stetes Raunen
Heut dient sie mir als
Zeitvertreib und Übung im Bestaunen
Des Pfauenauges beispielsweis,
das sich im Tau bewundert
Ich staune noch als
Tattergreis und hoff ich werde Hundert
Kaum etwas könnte Inhalt,
Wirkung und Intensität von Hans Stiletts alchemistischem kleinen
Buch über seine achtzig Jahre zurückliegende Kindheit im
thüringischen Städtchen Zeulenroda treffender zusammenfassen als
diese zärtlich-melancholischen Verse des kurioserweise im nur etwa
zwanzig Kilometer nördlich gelegenen Weida geborenen und
aufgewachsenen Liedermachers und DDR-Bürgerrechlers Stephan Krawczyk
in seinem einprägsamen Lied „Kinderzeit“.
Der berufliche Werdegang Hans
Stiletts, geboren als Hans Adolf Stiehl, nimmt sich nach
konventionellen Maßstäben eher ungewöhnlich aus: denn nachdem er
dreißig Jahre als leitender Redakteur im Bundespresseamt tätig
gewesen war, nahm er nach seiner Pensionierung im Jahr 1983 ein
Studium der Komparatistik, Germanistik und Philosophie auf, das er
1989 mit seiner Promotion über Montaignes Reisetagebuch abschloss.
Schon Seit Anfang der 1970er Jahre hatte er zahlreiche Gedichtbände
veröffentlicht, die größte und breiteste öffentliche Anerkennung
sollte ihm allerdings mit einer vielgerühmten hochambitionierten
vollständigen Neuübersetzung von Montaignes Essays (1998) zuteil
werden, einer kaum hoch genug einzuschätzender Großtat, für die
der vollendete Stilist zu Recht mit zahlreichen internationalen
Preisen ausgezeichnet wurde.
Als Leitstern und übergeordnetes
Motto für sein neues Buch „Eulenrod“ fungiert nun ebenfalls ein
Montaigne-Zitat: „Ein kleiner Mensch ist ein ganzer Mensch,
genauso wie ein großer.“ So dürfen wir als Leser das große
unverhoffte Glück erfahren, das Geheimnis des Lebens wie neu durch
die hellwachen Augen eines spielend und neugierig beobachtend zu
seinem ersten, ihm ur-eigenen Bewusstsein gelangenden Kindes zu
sehen, dessen unmittelbare sinnliche Erfahrungen in einer Welt ohne
Unterhaltungsindustrie durch die eng umrissenen örtlichen und
familiären Gegebenheiten klar definiert werden. Eine reiche
Kindheit aber vermag uns das ganze Leben lang zu bereichern:
Ein Stern, der an fernen
Himmeln leuchtet. Und fremde Wesen werden rufen: Schaut die Erde!
Wunderbar! Und ein Astronom, wie noch keiner ihn je sah, wird von
anderswoher ihr Licht zerlegen, immer weiter, weiter, bis er
plötzlich ausruft: Da ist's, da ist es! Er hat fürwahr Eulenrod
entdeckt – im grünen Dunkel der Wälder ein heller Fleck, mit
Straßen, mit Häusern, mit Stuben und mit Bodenkammern, und in einer
träumend ich.
Hans Stilett ist zu Recht der
Meinung, dass unsere Kindheit zwar äußerlich vorübergehen mag,
aber dennoch in unserem Inneren für immer sicher bewahrt und
aufgehoben verbleibt. Deswegen ist die Sprache seiner funkelnden
Momentaufnahmen, sind die von ihm geschauten Bilder absolut
universell. In ihrer stetigen, auch sprachlich konsequent umgesetzten
Gegenwärtigkeit werfen sie uns im positivsten Sinne auf uns selbst
zurück, bis zur tränen- und lebenswasserreichen Quelle unseres
allereigensten Wesens: das ist es, was wir vom Geist der Kindheit
lernen können – unser Leben mit wachen Sinnen, Neugier und ohne
Angst aktiv selbst zu gestalten.
Die vom Kränzchen gehen
sonntags manchmal an die Weida wandern. Heut biegen sie ins kleine
Teichtal ab. Die Sonne scheint, und zwischen dottergelben Blumen
gurgelt der Bach. Ich will, daß der Großvater mir ein Wassermühlrad
macht, und gutgelaunt geht er drauf ein. Erst schnitzt er einen
kleinen Ast als Stange zurecht, dann schneidet er ins noch grüne
Holz Schlitze, durch die er zwei flache Späne zieht; das sind die
Schaufeln. Dann steckt er Astgabeln in den Uferschlamm, eine links,
eine rechts, und legt die Stange drauf, so daß die Schaufeln ins
Wasser tauchen – und schon beginnt sich das Rad zu drehn, schnell
und schneller. Werden die Wellen flach, ruckt es und bleibt stehn,
nur um beim nächsten Schub noch geschwinder wieder loszulegen. Und
es tanzt und tanzt. Und wir lachen und lachen, der Großvater und
ich.
Die Erwachsenen im Buch vermag
nur ein den Ort überfahrender Zeppelin oder die laut tösende
Marschkolonne der Nazis dazu zu bewegen, die Fenster zu öffnen und
ihre Köpfe herauszustrecken – nur um sie gleich wieder
zuzuklappen. Für den kindlichen Erzähler jedoch ist die ganze Welt
ein Abenteuer:
Ich leg mich bei Deckers
Gerhard bäuchlings auf den Kiesweg und versinke ins Geschau der
bunten Stiefmütterchen so tief, daß ich hernach taumle.
Zwei hohe, metaphorische
Fichtenstämme verdecken den ersten sowie den letzten Buchstaben im
Ortsnamen des irdisch-realen Zeulenroda und machen das waldverborgene
Städtchen zum mystisch-entrückten Ort einer
unvergänglich-immerwährenden Kindheit. Darin liegen alle Freuden
und Kümmernisse eines vollständig gelebten Lebens literarisch
geborgen.
Ich hoff, ich werde
Hundertzehn beim Staunen und Betrachten
Dann will ich langsam stiften
gehn und staunend mich umnachten.
So heißt es am Ende von Stephan
Krawczyks Lied. Was kann man sich Schöneres wünschen, wenn man sich
so reich beschenkt weiß?
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