Jerusalem

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Donnerstag, 30. Mai 2013

„Serenade für Nadja“ von Zülfü Livaneli

Genau neunzig Jahre nach der mutig-visionären Staatsgründung tut sich die Türkei immer noch ausgesprochen schwer damit, die sich aus der grundlegenden politischen und territorialen Struktur des Osmanischen Reiches zwangsläufig ergebende muliethnische und multireligiöse Zusammensetzung sowie die familiäre Verflechtung ihrer als homogen-türkisch bezeichneten Bevölkerung offen anzuerkennen.

Immerhin war das Kernland der modernen Türkei seit hunderten von Jahren nicht nur die historisch gewachsene Heimat bedeutender, den Charakter des Landes wesentlich mitprägender armenischer und griechischer Minderheiten, sondern zu osmanischen Zeiten aufgrund der herrschenden religiösen Toleranz auch ein wichtiges Auffangbecken für verfolgte Juden, insbesondere für die wirtschaftlich wie kulturell florierenden sephardischen Gemeinden, die ab 1492 vor der Spanischen Inquisition von der iberischen Halbinsel fliehen mussten.

Darüber hinaus bot der osmanische Staatsapparat von jeher Nichtmuslimen aus seinem gesamten, sich während seiner Blütezeit weit bis nach Mitteleuropa und Nordafrika hinein ausdehnenden Herrschaftsgebiet stets bemerkenswert umfangreiche Karriere- und Aufstiegschancen. Mit der im Gründungsjahr 1923 getroffenen und bis heute herrschenden Definition als „türkisch“ aber konnte die Türkei den zahlreichen multiethnischen familiären Verflechtungen ihrer Bürger bis heute kaum jemals angemessen gerecht werden:

Derlei Verwerfungen hatten sich aus dem Versuch ergeben, aus einem Vielvölkerstaat wie dem Osmanischen Reich einen türkischen Nationalstaat zu bilden, in dem alle einander möglichst gleich sein sollten. Deshalb war auch die türkische Identität immer so ein heikles Thema. Wie mein Bruder es einmal formuliert hatte, hatten wir uns nicht wie die anderen Nationen einen Staat geschaffen, sondern bei uns hatte der Staat sich eine Nation geschaffen. [...] Den Staat zu kritisieren kam daher einer Beleidigung der Nation gleich und galt als unverzeihlich. [...] Meine tatarische Großmutter hatte zwar einem Turkvolk angehört, doch der Staat war mit ihr nicht weniger zimperlich umgesprungen als mit meiner armenischen Großmutter.

Zülfü Livaneli, 1946 geboren, mit zahlreichen nationalen wie internationalen Preisen ausgezeichnet und seit 2007 Unesco-Botschafter, ist einer der wenigen großen universellen Künstler unserer Zeit, der nicht nur als Komponist und Musiker, Filmemacher und Romancier eine gleichermaßen hohe Begabung vorweisen kann, sondern auch immer wieder durch sein humantitäres und politisches Engagement, als „europäischer Weltbürger“ par exellence sowie durch die zeitlos-gültige völkerverbindende Aussagekraft seiner Werke hervorsticht.

In seinem neuen begeisternden Roman „Serenade für Nadja“ gelingt ihm das große Kunststück, ein der Öffentlichkeit kaum bekanntes, spezifisch „türkisches“ Detail aus dem an solch erschütternden Bruchstücken und schrecklichen Einzelschicksalen so überaus reichen grundlegenden europäischen Drama, dem Zweiten Weltkrieg und der Vernichtung des europäischen Judentums, mit uneingestandenen, noch kollektiv aufzuarbeitenden Ereignissen aus der Geschichte der Türkei zu verknüpfen.



Der den Leser mit mit ihrer unverstellten Herzlichkeit sofort für sich einnehmenden vierunddreißigjährigen Protagonistin von Livanelis Roman „Serenade für Nadja“, der Literaturwissenschaftlerin Maya, obliegt es als Pressesprecherin und Hauptverantwortliche für die Öffentlichkeitsarbeit der Universität Istanbul, internationale Gäste der Hochschule am Flughafen willkommen zu heißen und während der Dauer ihres Aufenthalts stets mit zuvorkommender Gastfreundlichkeit zu betreuen – für gewöhnlich ein von Routine geprägter Job wie jeder andere.

Die Begenung mit dem faszinierenden siebenundachtzigjährigen deutschstämmigen Harvard-Professor Maximilian Wagner jedoch, der wie zahlreiche andere namhafte deutsche und jüdische Wissenschaftler (wie etwa Ernst Reuter, Paul Hindemith, Ernst Praetorius oder Erich Auerbach) bereits in den Kriegsjahren eine ordentliche Dozentur an der Universität Istanbul innegehabt hatte und nun für die Dauer eines Fachkongresses an die alte Wirkungsstätte zurückkehrt, stellt ihr Leben unerwartet vollkommen auf den Kopf.

Denn schon während des überraschend anregenden Gesprächs mit dem agilen, universell gebildeten Professor auf dem Weg vom Flughafen ins Hotel bemerkt sie, dass ihnen ein verdächtiger Wagen folgt: der türkische Geheimdienst, wie sich bald herausstellt, der die fassungslose junge Frau um Mitarbeit in Form von Spitzeldiensten bittet: was macht den harmlos wirkenden, traurigen alten Mann so interessant für den Staatsschutz?

Sind Sie eine Türkin, die ihr Vaterland liebt?“, fragte er dann.
Wie bitte? Ich verstehe nicht.“
Was gibt es da nicht zu verstehen? Ich frage Sie, ob Sie bereit sind, Ihrem Vaterland zu dienen?“
Inwiefern dienen?“
Beantworten Sie erst meine Frage. Lieben Sie Ihr Vaterland oder nicht?“

Für den 24. Februar, einen freien eiskalten Wintertag ohne Programmpunkte, bittet Wagner seine Begleiterin um einen gemeinsamen Ausflug in die Nähe des kleinen Badeorts Şile an der türkischen Schwarzmeerküste. Dort angekommen bittet der Professor Maya und den gemeinsamen Chauffeur, ihn am Strand alleinzulassen. Aus der Ferne beobachtet sie, wie er einsam in sich versunken im dichten Schneegestöber Violine spielt.

Als ich beim Professor ankam, erschrak ich. Sein Gesicht war ganz violett und sah furchtbar aus, wie das einer Leiche. Die Lippen waren blutleer, aus den Augen flossen ihm Tränen, und seine Wangen wirkten wie vereist. Knochenweiß umklammerten seine Finger den Geigenhals. Hätte er dort nicht gestanden, sondern gelegen, so hätte ich schwören können, der Mann sei erfroren.

Es gelingt ihr mit Hilfe des Fahrers, den mittlerweile kaum noch ansprechbaren prominenten Gast der Universität in eine nahe gelegene, während der Wintersaison jedoch stillgelegte und dementsprechend ungeheizte Pension zu schaffen. Während der Chauffeur Hilfe holt, rettet sie Maximilian Wagner durch einen unkonventionellen, in höchstem Maße zärtlich-barmherzigen Gnadenakt selbstlos das Leben, zerstört damit aber schließlich – ohne es zu ahnen – ihre bürgerliche Existenz.

Gleichzeitig eröffnet der sich ihr in seinem lebenslangen Schmerz über den Tod seiner Frau während eines nachtlangen Gesprächs nun volkommen offenbarende Wagner Maya jedoch unverhofft auch eine neue Lebensaufgabe, die sie im weiteren Verlauf des Buches mit ganzer Kraft weiterverfolgen wird.

Dazu muss sie sich nicht nur in Details der nationalsozialistischen Machtübernahme in Deutschland und der dadurch ausgelösten internationalen Verwerfungen auseinandersetzen, sondern auch den Hintergrund der unseligen Versenkung des mit 768 Passagieren hoffnungslos überladenen jüdischen Flüchtlingsschiffs Struma zu recherchieren, das von den türkischen Behörden nach fruchtlosen Verhandlungen mit den Engländern über eine Passage nach Palästina am 24. Februar 1942 manövrierunfähig ins Schwarze Meer geschleppt, dort seinem Schicksal überlassen und sodann von einem russischen U-Boot torpediert wurde – es gab damals lediglich vier Überlebende, darunter drei Besatzungsmitglieder.

Zülfü Livaneli verknüpft in seinem fesselnden Roman über den mutigen Neubeginn einer jungen Frau vor dem dankbar-naiven Hintergrund eines dynamischen Landes, das wenig Erfahrung damit hat, sich den schmerzvollen Ereignissen seiner Vergangenheit aktiv zu stellen, auf virtuose Art und Weise verschiedenste Zeit- und Handlungsebenen, in denen noch einmal unmissverständlich deutlich wird, wie sehr die Schoah nicht einmal aus dem Blickwinkel eines scheinbar unbeteiligten, neutralen Landes als zeitlich und geographisch begrenztes Ereignis betrachtet werden kann, sondern selbst in der äußersten Peripherie als universelles seismisches Beben des Schmerzes unweigerlich wahrgenommen werden muss.

Gegen Ende des Romans zitiert Maya den von ihr zu übersetzenden Literaturwissenschaftler Erich Auerbach (1892-1957) aus dessen in Istanbul entstandenem Essay „Der Triumph des Bösen“ über Blaise Pascals politische Theorie:

[Die Theoretiker der Staatsraison] fragten nach dem Staat um des Staates willen, sie sahen im Staat einen Wert; sie hatten, wie Macchiavelli, Freude an seiner lebendigen Dynamik, oder doch wenigstens, wie Hobbes, energisches Interesse an dem Nutzen, den er dem hier und jetzt lebenden Menschen zu bringen imstande ist, wenn man ihn richtig aufbaut. Das alles ist Pascal völlig gleichgültig. Ein inneres dynamisches Leben des Staates existiert für ihn nicht, und wenn es existierte, so würde er es für urböse halten; Interesse am Staat hat er nicht, denn alle sind für ihn gleich schlecht.

Dieser Diagnose schließt sich Livaneli ohne Vorbehalt an. Auch wenn sein Wunsch nach einer Welt, in deren Mittelpunkt das Glück des Menschen sowie die zahlreichen widersprüchlichen Ausdrucksformen menschlichen Lebens stehen, letztlich eine Utopie bleiben muss – in seinem neuen Roman scheint sie, wie in seiner Musik, absolut greifbar.

„Serenade für Nadja“, aus dem Türkischen von Gerhard Meier, erschienen bei Klett-Cotta, 336 Seiten, € 21,95

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