Jerusalem

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Montag, 13. Mai 2013

„Mr T., der Spatz und die Sorgen der Welt“ von Miriam Toews


Eine der wichtigsten Aufgaben der klassischen Psychoanalyse wie der modernen Psychotherapie, die so offensichtlich und gleichzeitig so banal scheint, dass man sie kaum extra erwähnen möchte, ist ohne Zweifel die Wiedererweckung menschlichen Mitgefühls im zu behandelnden Patienten. Da die meisten von uns im Alltag aufgrund der gesellschaftlichen Strukturen empathisches Verständnis für unsere Mitmenschen im vollen Wortsinn eher entbehren, ohne sich dessen bewusst zu sein oder dies als fundamentalen Mangel überhaupt wahrzunehmen, ist die Leistung der kanadischen Autorin Miriam Toews in ihrem neuen, vielleicht persönlichsten Buch bisher kaum hoch genug zu bewerten, in dem sie den bewundernswerten Versuch unternimmt, den Selbstmord ihres Vaters aus dessen persönlicher Innensicht zu begreifen und seinen einsamen letzten Weg literarisch nachzuvollziehen.

Melvin Toews, allseits beliebter Grundschullehrer in einer beschaulichen, mennonitisch geprägten kanadischen Kleinstadt, spazierte an einem sonnigen Frühlingstag, nur wenige Monate nach seiner durch einen leichten Schlaganfall erzwungenen Pensionierung, in aufgeräumter Stimmung aus seinem Krankenhauszimmer in der von seinem älteren Bruder geleiteten Klinik seiner Heimatstadt und trampte, nach einem ausgiebigen Spaziergang durch die frisch erblühende Natur, ins nahe gelegene Nachbarstädtchen, wo er an die Fliegengittertür des kleinen Bahnhofscafés klopfte, um der Kellnerin eine Frage zu stellen:

Wann kommt der nächste Zug?“, fragte er höflich wie immer.
In ein paar Minuten“, antwortete sie.
Ach ja“, sagte er, „man hört ihn schon pfeifen.“
Die einen sagen, er hat sich auf die Gleise gekniet, die kleine Kirche im Blick, mit dem Rücken zum herannahenden Zug, die anderen, er hat bis zur letzten Sekunde gewartet und sich dann vor den Zug geworfen. […] Sicher wissen wir von dem Tag nur, dass die Sonne am Himmel strahlte und dass es für den 13. Mai ungewöhnlich warm war. Und dass, selbst als seine Leiche schon weggebracht worden war, auf den Gleisen und in den Gräben zu beiden Seiten kleine hellgelbe Rezeptkarten verstreut lagen. Seit ich mich erinnern kann, hat er abends vorm Zubettgehen auf solchen Karten Botschaften an sich selbst geschrieben und dann sorgfältig auf seine Schuhe gelegt, wo er sie am nächsten Morgen ganz sicher finden würde. An diesem Tag waren die gelben Karten, die ihm aus der Tasche auf die Gleise fielen, leer.



Bei Melvin Toews wurde schon im jugendlichen Alter eine manische Depression diagnostiziert, sein Psychiater hatte ihn davor gewarnt, eine Familie zu gründen, die Wahrscheinlichkeit, jemals ein normales leben zu führen, sei äußerst gering. Trotzdem hätte Toews fünfzig Jahre später eigentlich mit berechtigtem Stolz auf ein erfülltes und erfolgreiches Leben zurückblicken können, das genau dem kleinbürgerlichen Ideal seiner Heimatstadt in der Provinz Manitobas zu entsprechen schien: er war glücklich verheiratet, hatte zwei aufgeweckte Töchter großgezogen, besuchte jeden Sonntag die Kirche und war als langjähriger Grundschullehrer überaus beliebt und bestens integriert. Nebenbei arbeitete er an einem Buch über die kanadischen Präsidenten.

Es ist immer ein großes literarisches Wagnis, sich in eine real existierende Person hinein zu versetzen, umso mehr wenn einem diese Person besonders nahe steht, umso mehr, wenn diese nach klinischen Maßstäben ein bestimmtes psychisches Krankheitsbild aufweist, das zwar als relativ gut erforscht gilt, das aber dennoch in seiner individuellen persönlichen Ausprägung für den Angehörigen weitestgehend ein schwer zu bestehendes Rätsel bleiben muss.

Miriam Toews, geboren 1961 in Steinbach/Manitoba, die allgemein unbestritten zu den bedeutendsten kanadischen Autorinnen der Gegenwart zählt, ist sich der Zerbrechlichkeit ihrer auf töchterlichem Einfühlungsvermögen und poetischer Weltdurchdringung gleichermaßen basierender Recherche nur allzu bewusst; wiederholt weist sie in ihrem Vor- und Nachwort darauf hin, dass „wir nicht wissen können“, was wirklich in ihm vorgegangen sein mag, wie es zu seiner Entscheidung kam, sich achtzehn Tage vor seinem Geburtstag das Leben zu nehmen. Dennoch gelingt der umsichtigen Autorin auf wunderbar-empathische, geradezu herzzerreißende Art und Weise ein tiefer, absolut wahrhaftiger, schmerzensreicher Blick in die Abgründe einer tief verletzten menschlichen Seele.

Ihrem verstorbenen Vater verleiht sie dabei von Anfang an eine vollkommen unverwechselbare, wunderbar-originelle, oft menschenfreundlich-humorvolle und absolut liebenswerte Stimme, indem sie ihn vom Krankenbett aus schriftlich sein Leben Revue passieren lässt, wobei immer wieder hoch reflektierte, lange, flüssige und versierte Abschnitte mit kurzen, abgehackten Einwürfen alterieren, aus denen nur noch haltlose Verwirrung und bittere Verzweiflung sprechen:

Es ist 6:46 Uhr. Ich kann mich nicht mehr bewegen. Ich bin nicht wie geplant vor die Tür gegangen. Ich hatte gehofft, dass das nicht passiert. Mein Optimismus schwingt sich zu solchen Höhenflügen auf, dass er urplötzlich wieder abstürzt. Über die Klippen..., über die Optimismus eben abstürzt. (Pardon.) Ich bemühe mich um Präzision. Ich bemühe mich, die Fakten niederzuschreiben. Vielleicht sollte ich ein wenig ausruhen... es ist noch recht früh. Bis später...

Die von mehreren, teilweise unbemerkt kleinen Schlaganfällen ausgelöste Demenz und der Verlust seiner lebenslangen Aufgabe als Grundschullehrer in Kombination mit seinem psychischen Krankheitsbild führten bei Melvin letztlich graduell zum absoluten Verlust jeglicher Lebensenergie. Selbst die zahlreichen von seinen Töchtern in verzweifelt-liebevoller Sorge um ihn geschriebenen und überall in seinem Umfeld deponierten Karteikarten helfen nicht mehr:

WIR LIEBEN DICH. MOM LIEBT DICH. DU BIST NICHT SCHULD. DU BIST EIN GUTER VATER. WIR SIND STOLZ AUF DICH: BITTE RUH DICH AUS. BITTE MACH DIR KEINE SORGEN. DU BIST BALD WIEDER BEI MOM. BITTE GLAUB UNS. WIR LIEBEN DICH UND WERDEN DICH IMMER LIEBEN.

Dabei wird umso deutlicher, wie hoch zu bemessen Melvins außerordentliche psychische Leistung ist, über fünfzig Jahre ein sogenanntes „normales“ Leben zu führen, in mancher Hinsicht sogar sehr viel „normaler“ zu sein als manch anderer als geistig vollkommen gesund geltender Mensch, und trotz aller Sprach- und Hilflosigkeit dennoch immer ein guter Ehemann und liebevoller Vater zu sein, obwohl er gleichzeitig allen Grund hatte, sich im Stillen mit einem anderen großen einsamen und verzweifelten Zeitgenossen zu identifizieren:

Ich glaube, damals verband mich, einen konservativen, gut gekleideten, höchst umgänglichen Kleinstadtgrundschullehrer, mehr mit Elvis Presley, dem König des Rock'n'Roll als mit meinen Missionarsverwandten. […] In den Artikeln wurden oft seine Stimmungsschwankungen erwähnt, seine Tablettenabhängigkeit und seine Schwierigkeiten, sich in dem ganzen Tamtam um sein Image zu finden. Angeblich verbrachte er viel Zeit allein in seinem Zimmer und war deprimiert. […] Meine Töchter wären völlig aus dem Häuschen gewesen, wenn ich ihnen das je erzählt hätte, und eigentlich hätte ich ihnen mein Faible für Elvis gestehen sollen – einfach, um sie herzlich lachen zu hören.

Miriam Toews poetisch-leichtes, humorvolles Buch über die wachsende Verzweiflung ihres auch für den Leser unvergesslich bleibenden Vaters ist nicht nur ein ermutigendes Geschenk für alle selbst von psychischen Krankheiten Betroffenen oder deren Angehörige, sondern auch ein beeindruckendes Dokument dessen, was Mitgefühl und mitmenschliche Gemeinschaft bewirken können sowie eine leise, jedoch stetig nachhallende, unkonventionell-berührende Hymne auf die vielfältigen Möglichkeiten des Lebens an sich. Gleichzeitig hat man am Ende das gute, befriedigende Gefühl, dass einem bescheidenen, liebenswerten Menschen unverhofft doch noch große Gerechtigkeit widerfährt, so dass man Melvin Towes gemeinsam mit seiner Tochter in ihren Worten zuflüstern möchte: „Dad, du hast dir deine Ruhe verdient. Schlop scheen.“

„Mr T., der Spatz und die Sorgen der Welt“, aus dem Englischen von Christiane Buchner und Martina Tichy, erschienen im Berlin Verlag, 261 Seiten, € 19,99

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