Eine der wichtigsten
Aufgaben der klassischen Psychoanalyse wie der modernen
Psychotherapie, die so offensichtlich und gleichzeitig so banal
scheint, dass man sie kaum extra erwähnen möchte, ist ohne Zweifel
die Wiedererweckung menschlichen Mitgefühls im zu behandelnden
Patienten. Da die meisten von uns im Alltag aufgrund der
gesellschaftlichen Strukturen empathisches Verständnis für unsere
Mitmenschen im vollen Wortsinn eher entbehren, ohne sich dessen
bewusst zu sein oder dies als fundamentalen Mangel überhaupt
wahrzunehmen, ist die Leistung der kanadischen Autorin Miriam Toews
in ihrem neuen, vielleicht persönlichsten Buch bisher kaum hoch
genug zu bewerten, in dem sie den bewundernswerten Versuch
unternimmt, den Selbstmord ihres Vaters aus dessen persönlicher
Innensicht zu begreifen und seinen einsamen letzten Weg literarisch
nachzuvollziehen.
Melvin Toews, allseits
beliebter Grundschullehrer in einer beschaulichen, mennonitisch
geprägten kanadischen Kleinstadt, spazierte an einem sonnigen
Frühlingstag, nur wenige Monate nach seiner durch einen leichten
Schlaganfall erzwungenen Pensionierung, in aufgeräumter Stimmung aus
seinem Krankenhauszimmer in der von seinem älteren Bruder geleiteten
Klinik seiner Heimatstadt und trampte, nach einem ausgiebigen
Spaziergang durch die frisch erblühende Natur, ins nahe gelegene
Nachbarstädtchen, wo er an die Fliegengittertür des kleinen
Bahnhofscafés klopfte, um der Kellnerin eine Frage zu stellen:
„Wann kommt der
nächste Zug?“, fragte er höflich wie immer.
„In ein paar
Minuten“, antwortete sie.
„Ach ja“, sagte
er, „man hört ihn schon pfeifen.“
Die einen sagen, er
hat sich auf die Gleise gekniet, die kleine Kirche im Blick, mit dem
Rücken zum herannahenden Zug, die anderen, er hat bis zur letzten
Sekunde gewartet und sich dann vor den Zug geworfen. […] Sicher
wissen wir von dem Tag nur, dass die Sonne am Himmel strahlte und
dass es für den 13. Mai ungewöhnlich warm war. Und dass, selbst als
seine Leiche schon weggebracht worden war, auf den Gleisen und in den
Gräben zu beiden Seiten kleine hellgelbe Rezeptkarten verstreut
lagen. Seit ich mich erinnern kann, hat er abends vorm Zubettgehen
auf solchen Karten Botschaften an sich selbst geschrieben und dann
sorgfältig auf seine Schuhe gelegt, wo er sie am nächsten Morgen
ganz sicher finden würde. An diesem Tag waren die gelben Karten, die
ihm aus der Tasche auf die Gleise fielen, leer.
Bei Melvin Toews wurde
schon im jugendlichen Alter eine manische Depression diagnostiziert,
sein Psychiater hatte ihn davor gewarnt, eine Familie zu gründen,
die Wahrscheinlichkeit, jemals ein normales leben zu führen, sei
äußerst gering. Trotzdem hätte Toews fünfzig Jahre später
eigentlich mit berechtigtem Stolz auf ein erfülltes und
erfolgreiches Leben zurückblicken können, das genau dem
kleinbürgerlichen Ideal seiner Heimatstadt in der Provinz Manitobas
zu entsprechen schien: er war glücklich verheiratet, hatte zwei
aufgeweckte Töchter großgezogen, besuchte jeden Sonntag die Kirche
und war als langjähriger Grundschullehrer überaus beliebt und
bestens integriert. Nebenbei arbeitete er an einem Buch über die
kanadischen Präsidenten.
Es ist immer ein großes
literarisches Wagnis, sich in eine real existierende Person hinein zu
versetzen, umso mehr wenn einem diese Person besonders nahe steht,
umso mehr, wenn diese nach klinischen Maßstäben ein bestimmtes
psychisches Krankheitsbild aufweist, das zwar als relativ gut
erforscht gilt, das aber dennoch in seiner individuellen persönlichen
Ausprägung für den Angehörigen weitestgehend ein schwer zu
bestehendes Rätsel bleiben muss.
Miriam Toews, geboren
1961 in Steinbach/Manitoba, die allgemein unbestritten zu den
bedeutendsten kanadischen Autorinnen der Gegenwart zählt, ist sich
der Zerbrechlichkeit ihrer auf töchterlichem Einfühlungsvermögen
und poetischer Weltdurchdringung gleichermaßen basierender Recherche
nur allzu bewusst; wiederholt weist sie in ihrem Vor- und Nachwort
darauf hin, dass „wir nicht wissen können“, was wirklich in ihm
vorgegangen sein mag, wie es zu seiner Entscheidung kam, sich
achtzehn Tage vor seinem Geburtstag das Leben zu nehmen. Dennoch
gelingt der umsichtigen Autorin auf wunderbar-empathische, geradezu
herzzerreißende Art und Weise ein tiefer, absolut wahrhaftiger,
schmerzensreicher Blick in die Abgründe einer tief verletzten
menschlichen Seele.
Ihrem verstorbenen Vater
verleiht sie dabei von Anfang an eine vollkommen unverwechselbare,
wunderbar-originelle, oft menschenfreundlich-humorvolle und absolut
liebenswerte Stimme, indem sie ihn vom Krankenbett aus schriftlich
sein Leben Revue passieren lässt, wobei immer wieder hoch
reflektierte, lange, flüssige und versierte Abschnitte mit kurzen,
abgehackten Einwürfen alterieren, aus denen nur noch haltlose
Verwirrung und bittere Verzweiflung sprechen:
Es ist 6:46 Uhr. Ich
kann mich nicht mehr bewegen. Ich bin nicht wie geplant vor die Tür
gegangen. Ich hatte gehofft, dass das nicht passiert. Mein Optimismus
schwingt sich zu solchen Höhenflügen auf, dass er urplötzlich
wieder abstürzt. Über die Klippen..., über die Optimismus eben
abstürzt. (Pardon.) Ich bemühe mich um Präzision. Ich bemühe
mich, die Fakten niederzuschreiben. Vielleicht sollte ich ein wenig
ausruhen... es ist noch recht früh. Bis später...
Die von mehreren,
teilweise unbemerkt kleinen Schlaganfällen ausgelöste Demenz und
der Verlust seiner lebenslangen Aufgabe als Grundschullehrer in
Kombination mit seinem psychischen Krankheitsbild führten bei Melvin
letztlich graduell zum absoluten Verlust jeglicher Lebensenergie.
Selbst die zahlreichen von seinen Töchtern in
verzweifelt-liebevoller Sorge um ihn geschriebenen und überall in
seinem Umfeld deponierten Karteikarten helfen nicht mehr:
WIR LIEBEN DICH. MOM
LIEBT DICH. DU BIST NICHT SCHULD. DU BIST EIN GUTER VATER. WIR SIND
STOLZ AUF DICH: BITTE RUH DICH AUS. BITTE MACH DIR KEINE SORGEN. DU
BIST BALD WIEDER BEI MOM. BITTE GLAUB UNS. WIR LIEBEN DICH UND WERDEN
DICH IMMER LIEBEN.
Dabei wird umso
deutlicher, wie hoch zu bemessen Melvins außerordentliche psychische
Leistung ist, über fünfzig Jahre ein sogenanntes „normales“
Leben zu führen, in mancher Hinsicht sogar sehr viel „normaler“
zu sein als manch anderer als geistig vollkommen gesund geltender
Mensch, und trotz aller Sprach- und Hilflosigkeit dennoch immer ein
guter Ehemann und liebevoller Vater zu sein, obwohl er gleichzeitig
allen Grund hatte, sich im Stillen mit einem anderen großen einsamen
und verzweifelten Zeitgenossen zu identifizieren:
Ich glaube, damals
verband mich, einen konservativen, gut gekleideten, höchst
umgänglichen Kleinstadtgrundschullehrer, mehr mit Elvis Presley, dem
König des Rock'n'Roll als mit meinen Missionarsverwandten. […] In
den Artikeln wurden oft seine Stimmungsschwankungen erwähnt, seine
Tablettenabhängigkeit und seine Schwierigkeiten, sich in dem ganzen
Tamtam um sein Image zu finden. Angeblich verbrachte er viel Zeit
allein in seinem Zimmer und war deprimiert. […] Meine Töchter
wären völlig aus dem Häuschen gewesen, wenn ich ihnen das je
erzählt hätte, und eigentlich hätte ich ihnen mein Faible für
Elvis gestehen sollen – einfach, um sie herzlich lachen zu hören.
Miriam Toews
poetisch-leichtes, humorvolles Buch über die wachsende Verzweiflung ihres auch
für den Leser unvergesslich bleibenden Vaters ist nicht nur ein
ermutigendes Geschenk für alle selbst von psychischen Krankheiten
Betroffenen oder deren Angehörige, sondern auch ein beeindruckendes
Dokument dessen, was Mitgefühl und mitmenschliche Gemeinschaft
bewirken können sowie eine leise, jedoch stetig nachhallende,
unkonventionell-berührende Hymne auf die vielfältigen Möglichkeiten
des Lebens an sich. Gleichzeitig hat man am Ende das gute,
befriedigende Gefühl, dass einem bescheidenen, liebenswerten
Menschen unverhofft doch noch große Gerechtigkeit widerfährt, so
dass man Melvin Towes gemeinsam mit seiner Tochter in ihren Worten
zuflüstern möchte: „Dad, du hast dir deine Ruhe verdient. Schlop
scheen.“
„Mr T., der Spatz und die Sorgen der Welt“, aus dem Englischen von Christiane Buchner und
Martina Tichy, erschienen im Berlin Verlag, 261 Seiten, € 19,99
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