Jerusalem

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Dienstag, 28. Mai 2013

„Der jüdische Messias“ von Arnon Grünberg


Von Arnon Grünberg, geboren 1971 in Amsterdam als Sohn deutscher Juden und Überlebender der Schoah, wird immer wieder gern kolportiert, er sei im Alter von siebzehn Jahren als sogenanntes „asoziales Element“ seiner langjährigen Schule, dem renommierten Vossius Gymnasium, strafverwiesen worden – einen besseren Gründungsmythos für eine ebenso beispiellose wie nachhaltig-erfolgreiche Karriere als zynisch-scharfsinnig-gewitzte Kultfigur der jungen niederländischen Literatur und popstarhaft bewunderter internationaler Bestsellerautor kann man sich kaum vorstellen.

Wie zutreffend diese absurde Diagnose falsch verstandenen humanistischen Elitedenkens engstirnig-bürokratischen Berufsbeamtentums trotz allem war, wenn auch in komplett gegensätzlicher Hinsicht, erweist sich auf äußerst positiv-erhellende Art und Weise angesichts der dankbar-faszinierenden, kurzweiligen Lektüre seines soeben endlich in deutscher Übersetzung erschienenen, im Original jedoch bereits vor neun Jahren veröffentlichten und in zahlreichen Sprachen bereits erfolgreichen Romans „Der jüdische Messias“, in dessen in jeder Hinsicht prophetischer Handlung Grünberg sein unnachahmliches Gespür für die bodenlosen Untiefen bürgerlicher Moral und die zahlreichen Fallstricke menschlicher Verdrängungsmechanismen voll auszukosten vermag.

In diesem Roman begegnen wir einem talentierten, wenn auch grüblerisch veranlagten und gefühlskalten jungen Mann deutscher Abstammung in der sauberen Stadt Basel, der verhängnisvollerweise nicht nur einen Hang zu verqueren Spitzfindigkeiten der modernen Philosophie besitzt, sondern zudem leider auch in der Nachttischschublade seiner Mutter diverse Erinnerungsstücke an deren innerhalb der Familie totgeschwiegenen Vater entdeckt hat, einen im Zweiten-Weltkrieg „gefallenen“ SS-Mann und unbelehrbaren Überzeugunstäter, zu dessen Hinterlassenschaften unter anderem das zweifelhafte literarische Machwerk „Mein Kampf“ von „Du-weißt-schon-wem“ gehört, das Xavier Radek in den folgenden Wochen mit Begeisterung unter der Bettdecke lesen wird.

Dein Opa musste Juden bewachen [...] Das war alles, er musste auf sie aufpassen, damit sie nicht weglaufen oder Dummheiten machen. Aber weil er soviel Energie hatte, hat er ab und zu mal einen geschlagen. [...] Du darfst nicht vergessen, dass die Arbeit dort nicht die erste Wahl deines Großvaters war. Er hätte lieber was anderes getan. [...] Viel lieber wäre er Bauer geworden, mit Feldern und Kühen. [...] Aber damals hat die einfachen Leute niemand gefragt. [...] Er hatte schrecklich viel Energie.[...] Er war hyperaktiv. Er brauchte auch nur ganz wenig Schlaf. Zwei, drei Stunden die Augen zu, und er war wieder voll da. Heute bekommen die Leute gegen so was Tabletten.



Aus der Lektüre von „Mein Kampf“ und seinen eigenen daran anknüpfenden beschränkten philosophischen Erwägungen zieht der einer sprichwörtlichen „Herzensbildung“ ebenso grundsätzlich wie endgültig, also gleichsam „unheilbar“ entbehrende Xavier folgende Schlüsse: wenn die Juden als „Feinde des Glücks“ – wie Hitler sie nennt – durch den Schmerz ihres Leidens das Glück der Welt verhindern, dann will er sich fortan mit ganzer Kraft der Aufgabe widmen, das Leiden der Juden zu mindern.

Zu diesem Zweck schließt er sich nicht nur einer zionistischen Jugendgruppe an, sondern besucht auch regelmäßig den orthodoxen Gottesdienst in der Basler Synagoge, übersetzt gemeinsam mit seinem späteren Liebhaber Awrommele, dem Sohn des Rabbis, zu Studienzwecken „Mein Kampf“ ins Jiddische und lässt sich von einem senilen, halbblinden Möchtegern-Mohel im Rahmen einer haarsträubend-unappetitlichen Operation beschneiden, wobei er nicht nur seine Vorhaut, sondern auch einen Hoden einbüßt, den er schließlich auf den Namen „König David“ tauft und in einem Einmachglas stets bei sich trägt.

Als in Amsterdam sein „künstlerisches Talent“ als Schöpfer einer ambitionierten Bilderserie von Porträts seiner Mutter mit dem bereits erwähnten bizarren Einmachglas von der Kunstakademie abgeschmettert wird, wandert Xavier gemeinsam mit Awrommele nach Israel aus, wo er schließlich als unwahrscheinlicher Ministerpräsident seiner vermeintlichen inneren Bestimmung als „Tröster aller Juden“ näher kommt als er je zu hoffen geglaubt hätte und als größenwahnsinniger jüdischer Führer einen apokalyptischen Weltenbrand auslöst.

Nach einem halben Jahr begann man zu munkeln, der Hoden im Einmachglas sei der Messias. [...]
Das ist König David, das ist der Hoden, den ich mit siebzehn verloren habe, als ich entdeckte, wer ich war. Ich habe damals die Konsequenzen gezogen und die Geschichte meines Volks angenommen. Ich habe mich beschneiden lassen. König David hat mich in dieses Land geführt, er hat gemacht, dass ich die Wahlen gewinne. König David ist mein König, er kann auch euer König sein.“
Ja, ha-Radek“, schrien seine Anhänger. „König David soll unser König sein. Er soll uns leiten in diesen dunklen Zeiten. Er soll uns zur Seite stehen.“

Bei der überraschend kurzweiligen Lektüre dieser faszinierend-geschmacklosen und betont politisch-unkorrekten Farce mit ihren zahllosen ebenso unappetitlichen wie leider auch unvergesslichen Details stellt sich allerdings weniger die Frage, wie man sich als vermeintlich psychisch gesunder Leser der zweifelhaften Wucht dieser in jeder Hinsicht extremen Eindrücke erfolgreich erwehren kann, sondern vielmehr wie ein Autor überhaupt eine solch bösartige, einem nachhaltig den Boden unter den Füßen wegziehende Parallelwelt zu erschaffen vermag.

Doch gerade in diesem schwer auszuhaltenden Widerspruch liegt Grünbergs unnachahmliches Talent begründet: in seinem außerordentlichen seismographischen Gespür, den in unserer Gesellschaft allgegenwärtigen, unterschwellig stets vorhandenen moralischen Müll zu identifizieren und durch konsequente Übertreibung folgerichtig ad absurdum zu führen. In dieser Hinsicht ist „Der jüdische Messias“ nicht nur ein geniales Werk literarischer Alltagsdurchdringung, sondern auch das vielleicht beste Beispiel für Grünbergs zynisch karikierende Kunst und ein bewundernswerter Versuch der Abwehr dessen, was er beschreibt.

Der jüdische Messias“, aus dem Niederländischen von Rainer Kersten, erschienen bei Diogenes, 637 Seiten, € 24,90


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