Von
Arnon Grünberg, geboren 1971 in Amsterdam als Sohn deutscher Juden
und Überlebender der Schoah, wird immer wieder gern kolportiert, er
sei im Alter von siebzehn Jahren als sogenanntes „asoziales
Element“ seiner langjährigen Schule, dem renommierten Vossius
Gymnasium, strafverwiesen worden – einen besseren Gründungsmythos
für eine ebenso beispiellose wie nachhaltig-erfolgreiche Karriere
als zynisch-scharfsinnig-gewitzte Kultfigur der jungen
niederländischen Literatur und popstarhaft bewunderter
internationaler Bestsellerautor kann man sich kaum vorstellen.
Wie
zutreffend diese absurde Diagnose falsch verstandenen humanistischen
Elitedenkens engstirnig-bürokratischen Berufsbeamtentums trotz allem
war, wenn auch in komplett gegensätzlicher Hinsicht, erweist sich
auf äußerst positiv-erhellende Art und Weise angesichts der
dankbar-faszinierenden, kurzweiligen Lektüre seines soeben endlich
in deutscher Übersetzung erschienenen, im Original jedoch bereits
vor neun Jahren veröffentlichten und in zahlreichen Sprachen bereits
erfolgreichen Romans „Der jüdische Messias“, in dessen in jeder
Hinsicht prophetischer Handlung Grünberg sein unnachahmliches Gespür
für die bodenlosen Untiefen bürgerlicher Moral und die zahlreichen
Fallstricke menschlicher Verdrängungsmechanismen voll auszukosten
vermag.
In
diesem Roman begegnen wir einem talentierten, wenn auch grüblerisch
veranlagten und gefühlskalten jungen Mann deutscher Abstammung in
der sauberen Stadt Basel, der verhängnisvollerweise nicht nur einen
Hang zu verqueren Spitzfindigkeiten der modernen Philosophie besitzt,
sondern zudem leider auch in der Nachttischschublade seiner Mutter
diverse Erinnerungsstücke an deren innerhalb der Familie
totgeschwiegenen Vater entdeckt hat, einen im Zweiten-Weltkrieg
„gefallenen“ SS-Mann und unbelehrbaren Überzeugunstäter, zu
dessen Hinterlassenschaften unter anderem das zweifelhafte
literarische Machwerk „Mein Kampf“ von „Du-weißt-schon-wem“
gehört, das Xavier Radek in den folgenden Wochen mit Begeisterung
unter der Bettdecke lesen wird.
Dein
Opa musste Juden bewachen [...] Das war alles, er musste auf sie
aufpassen, damit sie nicht weglaufen oder Dummheiten machen. Aber
weil er soviel Energie hatte, hat er ab und zu mal einen geschlagen.
[...] Du darfst nicht vergessen, dass die Arbeit dort nicht die erste
Wahl deines Großvaters war. Er hätte lieber was anderes getan.
[...] Viel lieber wäre er Bauer geworden, mit Feldern und Kühen.
[...] Aber damals hat die einfachen Leute niemand gefragt. [...] Er
hatte schrecklich viel Energie.[...] Er war hyperaktiv. Er brauchte
auch nur ganz wenig Schlaf. Zwei, drei Stunden die Augen zu, und er
war wieder voll da. Heute bekommen die Leute gegen so was Tabletten.
Aus
der Lektüre von „Mein Kampf“ und seinen eigenen daran
anknüpfenden beschränkten philosophischen Erwägungen zieht der
einer sprichwörtlichen „Herzensbildung“ ebenso grundsätzlich
wie endgültig, also gleichsam „unheilbar“ entbehrende Xavier
folgende Schlüsse: wenn die Juden als „Feinde des Glücks“ –
wie Hitler sie nennt – durch den Schmerz ihres Leidens das Glück
der Welt verhindern, dann will er sich fortan mit ganzer Kraft der
Aufgabe widmen, das Leiden der Juden zu mindern.
Zu
diesem Zweck schließt er sich nicht nur einer zionistischen
Jugendgruppe an, sondern besucht auch regelmäßig den orthodoxen
Gottesdienst in der Basler Synagoge, übersetzt gemeinsam mit seinem
späteren Liebhaber Awrommele, dem Sohn des Rabbis, zu Studienzwecken
„Mein Kampf“ ins Jiddische und lässt sich von einem senilen,
halbblinden Möchtegern-Mohel im Rahmen einer
haarsträubend-unappetitlichen Operation beschneiden, wobei er nicht
nur seine Vorhaut, sondern auch einen Hoden einbüßt, den er
schließlich auf den Namen „König David“ tauft und in einem
Einmachglas stets bei sich trägt.
Als
in Amsterdam sein „künstlerisches Talent“ als Schöpfer einer
ambitionierten Bilderserie von Porträts seiner Mutter mit dem
bereits erwähnten bizarren Einmachglas von der Kunstakademie
abgeschmettert wird, wandert Xavier gemeinsam mit Awrommele nach
Israel aus, wo er schließlich als unwahrscheinlicher
Ministerpräsident seiner vermeintlichen inneren Bestimmung als
„Tröster aller Juden“ näher kommt als er je zu hoffen geglaubt
hätte und als größenwahnsinniger jüdischer Führer einen
apokalyptischen Weltenbrand auslöst.
Nach
einem halben Jahr begann man zu munkeln, der Hoden im Einmachglas sei
der Messias. [...]
„Das
ist König David, das ist der Hoden, den ich mit siebzehn verloren
habe, als ich entdeckte, wer ich war. Ich habe damals die
Konsequenzen gezogen und die Geschichte meines Volks angenommen. Ich
habe mich beschneiden lassen. König David hat mich in dieses Land
geführt, er hat gemacht, dass ich die Wahlen gewinne. König David
ist mein König, er kann auch euer König sein.“
„Ja,
ha-Radek“, schrien seine Anhänger. „König David soll unser
König sein. Er soll uns leiten in diesen dunklen Zeiten. Er soll uns
zur Seite stehen.“
Bei
der überraschend kurzweiligen Lektüre dieser
faszinierend-geschmacklosen und betont politisch-unkorrekten Farce
mit ihren zahllosen ebenso unappetitlichen wie leider auch
unvergesslichen Details stellt sich allerdings weniger die Frage, wie
man sich als vermeintlich psychisch gesunder Leser der zweifelhaften
Wucht dieser in jeder Hinsicht extremen Eindrücke erfolgreich
erwehren kann, sondern vielmehr wie ein Autor überhaupt eine solch
bösartige, einem nachhaltig den Boden unter den Füßen wegziehende
Parallelwelt zu erschaffen vermag.
Doch
gerade in diesem schwer auszuhaltenden Widerspruch liegt Grünbergs
unnachahmliches Talent begründet: in seinem außerordentlichen
seismographischen Gespür, den in unserer Gesellschaft
allgegenwärtigen, unterschwellig stets vorhandenen moralischen Müll
zu identifizieren und durch konsequente Übertreibung folgerichtig ad
absurdum zu führen. In dieser Hinsicht ist „Der jüdische Messias“
nicht nur ein geniales Werk literarischer Alltagsdurchdringung,
sondern auch das vielleicht beste Beispiel für Grünbergs zynisch
karikierende Kunst und ein bewundernswerter Versuch der Abwehr
dessen, was er beschreibt.
„Der jüdische Messias“, aus dem Niederländischen von Rainer Kersten,
erschienen bei Diogenes, 637 Seiten, € 24,90
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