Jerusalem

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Samstag, 13. Juli 2013

„Erikas Geschichte“ von Ruth Vander Zee und Roberto Innocenti

Es ist nicht nur ein vielfach erprobtes, sondern auch äußerst wirkungsvolles Stilmittel ambitionierter Buch- und Comic-Illustratoren, zu erzählende Vergangenheit mit Hilfe von Bildern in Schwarz-Weiß-Technik in Szene zu setzen. In einem Werk über die Schoah jedoch scheint diese Wahl der bildnerischen Mittel ganz besonders naheliegend, nicht nur weil ein Großteil aller historischen Bilddokumente aufgrund der damaligen technischen Voraussetzungen naturgemäß lediglich in diesem Format vorliegt; darüber hinaus lädt diese unwillkürlich abstrahierende Verfahrensweise den Betrachter auch dazu ein, sich mit den drängenden moralischen und philosophischen Fragen dieser Zeit auseinanderzusetzen.

Die fehlende natürliche Farbe suggeriert dabei bereits einen wesentlichen, nahezu allumfassenden Mangel an allem allgemein-anerkannt Menschlichen, der besonders dann in unserer erheblichen Irritation deutlich wird, wenn wir einmal ganz unverhofft die seltenen Farbaufnahmen aus jener Zeit zu sehen bekommen: Wie ist es möglich, scheinen diese Bilder uns regelrecht anzuschreien, dass trotz der hinlänglich bekannten schreckenerregenden gesellschaftlichen und politischen Rahmenbedingungen im Nationalsozialismus die Blätter der Bäume grün sind, bunte Blumen blühen und SS-Männer eine unverdient-gesunde Hautfarbe besitzen?

Auch der Regisseur Steven Spielberg drehte sein beeindruckendes Opus magnum „Schindlers Liste“ ganz bewusst in Schwarz-Weiß – und die wenigsten, die diesen unvergesslichen Film gesehen haben, werden sich daran erinnern, dass in einigen Massenszenen in seinem Verlauf immer wieder ein kleines Mädchen auftauchte, dessen Mantel während der technischen Nachbereitung des Films rot koloriert worden war. Mit diesem genialen kleinen Kunstgriff gelang es dem Regisseur, gerade im kollektiven Schicksal der europäischen Juden doch wieder das furchtbare Los des Einzelnen herauszustellen, die Zusammensetzung einer letztlich lediglich nüchtern-abstrakt wirkenden Zahl zu einem umfassenden Begreifen der sinnlosen vorsätzlichen Vernichtung unzähliger einzelner Leben erfolgreich aufzubrechen.

Einst hieß es, mein Volk werde so zahlreich sein wie die Sterne am Himmel.
Zwischen 1933 und 1945 sind sechs Millionen von diesen Sternen ausgelöscht worden.
Jeder Stern steht für einen Menschen aus meinem Volk, dessen Leben zerstört und dessen Familie auseinandergerissen wurde.

So schreibt die amerikanische Kinderbuchautorin und Musikpädagogin Ruth Vander Zee in ihrem vom italienischen Meisterillustrator Roberto Innocenti ebenso bildmächtig wie poetisch in Szene gesetzten international vielfach prämierten Bilderbuch „Erikas Geschichte“, das zehn Jahre nach seinem ersten Erscheinen in den USA nun in einer buchkünstlerisch schönen und überarbeiteten deutschen Neuausgabe vorliegt.


Roberto Innocenti gilt mit seinem stilbildenden Buch „Rosa Weiss“ (1986) als weltweit erster Illustrator, der es wagte, die Schoah zum Thema eines erzählenden Bilderbuchs zu machen und darf deshalb durchaus die Ehre für sich reklamieren, auf diese Weise ein neues Genre im Bereich Kinder- und Jugendbuch begründet zu haben. Auch für „Erikas Geschichte“ hat der Autodidakt eine künstlerisch beeindruckende Reihe ultrarealistischer großformatiger Zeichnungen geschaffen, die unter Aufbietung aller Schattierungen der Farbe Grau mühelos eine beängstigende Atmosphäre allgegenwärtiger Angst und Unterdrückung im Betrachter hervorzurufen vermögen.

Die von den beiden Autoren mit nur wenigen Bildern und in einer sehr knappen reduzierten Sprache in nur wenigen Worten erzählte Geschichte ist absolut ungeheuerlich: eine Frau wirft ihr lediglich einige Wochen altes Baby aus dem fahrenden Zug. Doch was wir aus der Sicht unserer heutigen in vielerlei Hinsicht privilegierten Lebensrealität als Ausdruck äußerster sittlicher Verrohung, seelischer Grausamkeit und unbegreiflicher Kaltherzigkeit werten müssten, erweist sich in den bitteren Tagen des Zweiten Weltkriegs als unerwartete Geste radikalster mütterlicher Liebe, gänzlich unwahrscheinlichste letzte Hoffnung – und letztlich auch als tatsächliche Rettung: denn der Zug ist ein Transport in die deutschen Todeslager, die verzweifelte Mutter eine von den Machthabern zum sicheren Tod verurteilte Jüdin.

Und was dann passiert ist, ist das Einzige, was ich mit Sicherheit weiß.
Meine Mutter hat mich aus dem Zug geworfen.

Das junge Mädchen überlebt – liebevoll auf- und als eigenes Kind angenommen von einer deutschen Familie, die sie jedoch nicht im Unklaren lässt über ihre Herkunft. Eingebettet ist diese Geschichte in eine Rahmenhandlung, in der die amerikanische Autorin während einer Europareise der Erzählerin zufällig begegnet und bei dieser Gelegenheit auch ihre bewegende Lebensgeschichte erfährt.

Trotz der Kürze der eigentlichen Erzählung – das Buch hat lediglich vierundzwanzig nicht nummerierte Seiten – gelingt es den Autoren auf faszinierend-unaufdringliche Art und Weise ein erstaunlich großes Spektrum an wichtigen Details und bitteren Wahrheiten über die Schoah zu vermitteln, ohne dass sich der kindliche Leser überfordert fühlen muss. Tatsächlich rühren die Bilder Roberto Innocentis auf besonders herzzerreissende Art und Weise auch das Kind im Erwachsenen an.

Auch Innocenti setzt dem dominierenden Schwarz-Grau seiner technisch-perfekten, schneidend scharfen Zeichnungen mit äußerstem künstlerischen Bedacht kleine deutlich erkennbare Farbinseln und kontrastierende Irritationen entgegen: den gelben Judenstern an den Mänteln der deportierten Juden, das Weiß des am Bahnhof verlassen zurückbleibenden Kinderwagens und auch das reine leuchtende Weiß des Bündels, in das der schutzbedürftige Säugling eingewickelt ist. Schon beim Wurf aus dem rollenden Gefängnis des Viehwaggons erscheint das menschliche Bündel jedoch in der „rosenfingrigen“ Farbe des unverwüstlichen, beharrlichen, gerade erwachenden Lebens.

Vor allem die dunklen Kriegsbilder – aber auch (allerdings in weitaus geringerem Ausmaß) die farbigen Zeichnungen der Rahmenhandlung – offenbaren in Details deutliche Strukturen des Verfalls: Risse in den Wänden, zerbrochene Glasscheiben, abgeblätterter Putz. Selbst im von einem Wirbelsturm heimgesuchten Rothenburg des Jahres 1995 erscheinen ganze Dächer abgedeckt:

Ein älterer Ladenbesitzer, der in der Nähe stand, erzählte uns,
dass der Sturm ebenso große Verwüstungen verursacht habe wie der letzte
alliierte Luftangriff während des Kriegs.

So bleiben die Verletzungen des Kriegs und der Schoah unter der Oberfläche allgegenwärtig: Ruth Vander Zee und Roberto Innocenti haben ihnen mit ihrem großartigen, bildmächtig-versöhnlichen Buch einen wichtigen Platz in unserem Bewusstsein zurückgegeben. Die beeindruckendste Zeichnung in „Erikas Geschichte“ jedoch ist das panoramaartige farbige Schlussbild einer Nachkriegsjugend in der Schwebe: die entwurzelte, heranwachsende Erika steht allein in Sichtweite der Häuser ihres Dorfes und blickt vor einem stürmisch-veränderlichen Herbsthimmel mit wehendem Kleid einem vorbeirauschenden Güterzug hinterher. Erst am Ende des Buches heißt es:

Heute hat mein Baum wieder Wurzeln. Und mein Stern leuchtet noch immer.

Erikas Geschichte“ ist vor allem dank der wunderbaren poetischen Bildsprache Roberto Innocentis ein absolutes buchkünstlerisches Meisterwerk, dessen unnachahmliche Bilder noch lange im Betrachter nachhallen.

Erikas Geschichte“, aus dem Amerikanischen von Gabriele Haefs, erschienen bei Gerstenberg, 24 Seiten, € 16,95

Freitag, 12. Juli 2013

„Ein weißes Land“ von Sherko Fatah


Die vielfältigen Migrationsbewegungen des Zwanzigsten Jahrhunderts haben nicht nur unsere Wahrnehmung des Islam und der arabischen Welt nachhaltig verändert, sondern deren wechselhafte Geschichte auch ins Herz unserer Gesellschaft getragen. Autoren wie der kürzlich völlig zu Recht mit dem von der Stadt Heidelberg alle drei Jahre vergebenen Hilde-Domin-Preis für Exilliteratur ausgezeichnete Abbas Khider bereichern die deutsche Sprache und das Geistesleben in unserem Land auf vielfach-ungeahnte, wunderbare und kaum zu ermessende Art und Weise.

Auch der Berliner Schriftsteller Sherko Fatah wurde im Jahr 2007 mit diesem wichtigen Literaturpreis prämiert, noch bevor er seine wichtigsten beiden Werke veröffentlicht hatte. 1964 als Sohn eines Kurden irakischer Herkunft und einer deutschen Mutter in Ost-Berlin geboren, verbrachte er einen Teil seiner Kindheit und Jugend in Wien, bevor sich die Familie schließlich endgültig in West-Berlin niederließ. Seine familiären Wurzeln in Kurdistan hat Fatah jedoch immer gepflegt, er ist ein ausgewiesener Kenner der vielfältigen historischen Voraussetzungen für die blutigen Konflikte des Nahen Ostens, die uns bis heute in Atem halten.

In seinem letzten, von der Literaturkritik gefeierten und den virtuosen Erzähler schmeichelhaft, aber nicht unberechtigt in die Nähe von Dichtern wie Fjodor Dostojewski, Victor Hugo oder Robert Louis Stevenson rückenden Roman „Das dunkle Schiff“ beschrieb Fatah das bittere Schicksal eines geläuterten Islamisten im Berliner Exil, der seiner Vergangenheit als potenzieller Selbstmordattentäter auch im befriedeten Deutschland nicht zu entrinnen vermag.

In seinem Ende 2011 erschienenen und nun auch als Taschenbuch vorliegenden, kaum weniger beeindruckenden epischen Roman „Ein weißes Land“, noch im Frühjahr letzten Jahres aussichtsreich auf der Shortlist für den Preis der Leipziger Buchmesse, macht sich Ende der 1930er Jahre ebenfalls ein junger Iraker auf den Weg nach Europa, um – wie er glaubt – sein Glück zu machen. Der doppeldeutige Titel des Buches bezieht sich anspielungsreich auf eine Formulierung Heinrich Himmlers, die dieser in einer Unterredung mit dem fanatischen Antisemiten und arabischen Nationalisten Mohammed Amin al-Husseini (1893-1974), dem berüchtigten Großmufti von Jerusalem, für die im Rahmen des bevorstehenden Angriffskrieges in Osteuropa von Nazi-Deutschland zu erobernden Gebiete gebraucht haben soll.



Der unbedarfte Antiheld des Buches, ein kurdischer Simplicius, ist stets auf Seiten jener, die ihm im jeweiligen Moment die meisten persönliche Vorteile zu verheißen scheinen und wird so zum dankbaren Spielball unterschiedlichster politischer Machtinteressen sowie der großen gewalttätigen nationalen und internationalen Konflikte der 1930er und 40er Jahre. Insbesondere die zahlreichen Schnittstellen zwischen deutschem und arabischem Antisemitismus werden in Sherko Fatahs großartigem spannenden Schelmenroman erstmals in diesem der Öffentlichkeit kaum bekannten offensichtlichen Zusammenhang literarisch beleuchtet.

Ich sitze hier und beobachte dich wie einen Fremden. Aber ich kenne dich. Vielleicht werde ich es dir nie sagen: Ich kenne dich, ich kenne dich gut. Es ist einige Jahre her. Es ist eine Ewigkeit her. Lange genug, um mich nicht mehr zu erkennen. Aber wie auch, du schaust mich nicht an, du schaust nie jemanden direkt an. Du bist der wichtige Doktor aus dem fernen Deutschland. Und ich, was bin ich schon? Der Bote, den du nicht brauchst, der dir lästig ist. [...] Und doch, Gottes Wege sind unerforschlich, bist du hierhergekommen. Du hättest überall hingehen können nach dem Krieg. Aber nein, du bist hier, vor meinen Augen, und allein dein Anblick bringt mir die alte Furcht zurück, die uns beide einmal umschlossen hielt wie eine Faust.

1921, im Jahr der irakischen Unabhängigkeit geboren, wächst der junge Anwar in einem wenig homogenen, multiethnischen Staat von Großbritanniens kolonialen Gnaden auf und gerät als Diener wechselnder Herren in die eskalierenden Auswüchse von Gewalt und ersten massiven Pogrome, woran nicht nur seine Freundschaft zu den beiden irakischen Juden Ephraim und Ezra scheitert, sondern auch seine Liebe zu des letzteren Schwester Mirjam. Innerhalb seiner unwahrscheinlichen, aber innerhalb der grausamen Zeitläufe dennoch denkbaren und daher möglichen Odyssee kämpft Anwar schließlich als Mitglied der sogenannten Ostturkmenischen Division der Waffen-SS an der Ostfront und ist an der blutigen Niederschlagung des Aufstands im Warschauer Ghetto beteiligt, die er schwer verletzt überlebt.

Jemand will gehört haben, dass du ein Soldat geworden bist und in den Krieg gezogen bist. Ich kann mir das nicht vorstellen, du, in einer Uniform, mit einem Gewehr in der Hand. Gern würde ich wissen, gegen wen du kämpfst und ob du all das um einer guten Sache willen tust. Nie hast du über deine Ideen gesprochen, immer nur zugehört. Wie kommt es da, dass ausgerechnet du bereit bist, für sie zu sterben? Sind alle um dich herum wie du? Opfern sie sich oder sind sie einfach nur dumm? [...] Es ist erstaunlich zu sehen, wie wenig sich verändert, trotz der Schrecklichkeiten, die wir aus Europa hören. Man sagt, es gebe Lager dort, in denen die Juden umgebracht und verbrannt werden. Ich frage mich, ob du so etwas vielleicht gesehen hast. Und ich frage mich noch etwas – aber das spreche ich nicht aus. Wie alle anderen werden auch wir bald fortgehen und doch sage ich: Komm zurück.

Zurück in Bagdad erlebt Anwar, wie der Irak in konzertierten zionistischen Aktionen, an denen auch seine ehemaligen Freunde maßgeblich beteiligt sind, seiner jüdischen Bevölkerung nahezu vollkommen entleert wird – ein Jahrtausend fruchtbarer Koexistenz und gelungener gegenseitiger kultureller Interaktion geht somit zu Ende. Schließlich steht der lebenslang vergeblich dem vermeintlichen Glück hinterherjagende ewige Verlierer der Weltgeschichte erneut vor dem großen Nichts, gegen das die arabischen Gesellschaften derzeit immer noch mit unverminderter Leidenschaft revoltieren.

Sherko Fatah ist ein absoluter Glückfall für die deutsche Literatur, da er uns in bestechender literarischer Form, mit einer süchtig machenden Sprache und vor allem aus unserem eigenen kulturellen Verständnis heraus unmissverständlich klar macht, dass die Geschichte, die er so überaus versiert erzählt, heute auch unsere Geschichte ist.

„Ein weißes Land“, erschienen bei btb, 478 Seiten, € 10,99

Freitag, 5. Juli 2013

„Eulenrod“ von Hans Stilett

Ein kleines Buch, lediglich handtellergroß, fadengebunden in farbig bedrucktes Leinen ohne Schutzumschlag, das ein stimmungsvoll-lichtdurchflutetes Fichtenwaldpanorama ziert und unter dessen liebevoll-verschroben wirkenden Titel „Eulenrod“ der als virtuoser Sprachkünstler ausgewiesene einundneunzigjährige Schriftsteller Hans Stilett die extravagante Erläuterung „Biographisches Mosaik“ gesetzt hat.



Schon die ungewöhnlich hochwertige Ausstattung des Buch legt nahe, dass es sich hier um so etwas wie ein literarisches Kleinod handeln muss, der ungewöhnliche Einband scheint zu suggerieren, dass sich hier nicht nur die äußere Gestaltung, sondern auch der Inhalt deutlich von dem abzuheben verspricht, was der Buchmarkt sonst gewöhnlich in Serie produziert: eine Ausstattung also wie sie sonst nur religiösen Texten, beliebten Klassikern oder philosophischen Sinnsprüchen vorbehalten bleibt.

Kinderzeit ist keine Zeit – sie bleibt ein stetes Raunen
Heut dient sie mir als Zeitvertreib und Übung im Bestaunen
Des Pfauenauges beispielsweis, das sich im Tau bewundert
Ich staune noch als Tattergreis und hoff ich werde Hundert

Kaum etwas könnte Inhalt, Wirkung und Intensität von Hans Stiletts alchemistischem kleinen Buch über seine achtzig Jahre zurückliegende Kindheit im thüringischen Städtchen Zeulenroda treffender zusammenfassen als diese zärtlich-melancholischen Verse des kurioserweise im nur etwa zwanzig Kilometer nördlich gelegenen Weida geborenen und aufgewachsenen Liedermachers und DDR-Bürgerrechlers Stephan Krawczyk in seinem einprägsamen Lied „Kinderzeit“.

Der berufliche Werdegang Hans Stiletts, geboren als Hans Adolf Stiehl, nimmt sich nach konventionellen Maßstäben eher ungewöhnlich aus: denn nachdem er dreißig Jahre als leitender Redakteur im Bundespresseamt tätig gewesen war, nahm er nach seiner Pensionierung im Jahr 1983 ein Studium der Komparatistik, Germanistik und Philosophie auf, das er 1989 mit seiner Promotion über Montaignes Reisetagebuch abschloss. Schon Seit Anfang der 1970er Jahre hatte er zahlreiche Gedichtbände veröffentlicht, die größte und breiteste öffentliche Anerkennung sollte ihm allerdings mit einer vielgerühmten hochambitionierten vollständigen Neuübersetzung von Montaignes Essays (1998) zuteil werden, einer kaum hoch genug einzuschätzender Großtat, für die der vollendete Stilist zu Recht mit zahlreichen internationalen Preisen ausgezeichnet wurde.

Als Leitstern und übergeordnetes Motto für sein neues Buch „Eulenrod“ fungiert nun ebenfalls ein Montaigne-Zitat: „Ein kleiner Mensch ist ein ganzer Mensch, genauso wie ein großer.“ So dürfen wir als Leser das große unverhoffte Glück erfahren, das Geheimnis des Lebens wie neu durch die hellwachen Augen eines spielend und neugierig beobachtend zu seinem ersten, ihm ur-eigenen Bewusstsein gelangenden Kindes zu sehen, dessen unmittelbare sinnliche Erfahrungen in einer Welt ohne Unterhaltungsindustrie durch die eng umrissenen örtlichen und familiären Gegebenheiten klar definiert werden. Eine reiche Kindheit aber vermag uns das ganze Leben lang zu bereichern:

Ein Stern, der an fernen Himmeln leuchtet. Und fremde Wesen werden rufen: Schaut die Erde! Wunderbar! Und ein Astronom, wie noch keiner ihn je sah, wird von anderswoher ihr Licht zerlegen, immer weiter, weiter, bis er plötzlich ausruft: Da ist's, da ist es! Er hat fürwahr Eulenrod entdeckt – im grünen Dunkel der Wälder ein heller Fleck, mit Straßen, mit Häusern, mit Stuben und mit Bodenkammern, und in einer träumend ich.

Hans Stilett ist zu Recht der Meinung, dass unsere Kindheit zwar äußerlich vorübergehen mag, aber dennoch in unserem Inneren für immer sicher bewahrt und aufgehoben verbleibt. Deswegen ist die Sprache seiner funkelnden Momentaufnahmen, sind die von ihm geschauten Bilder absolut universell. In ihrer stetigen, auch sprachlich konsequent umgesetzten Gegenwärtigkeit werfen sie uns im positivsten Sinne auf uns selbst zurück, bis zur tränen- und lebenswasserreichen Quelle unseres allereigensten Wesens: das ist es, was wir vom Geist der Kindheit lernen können – unser Leben mit wachen Sinnen, Neugier und ohne Angst aktiv selbst zu gestalten.

Die vom Kränzchen gehen sonntags manchmal an die Weida wandern. Heut biegen sie ins kleine Teichtal ab. Die Sonne scheint, und zwischen dottergelben Blumen gurgelt der Bach. Ich will, daß der Großvater mir ein Wassermühlrad macht, und gutgelaunt geht er drauf ein. Erst schnitzt er einen kleinen Ast als Stange zurecht, dann schneidet er ins noch grüne Holz Schlitze, durch die er zwei flache Späne zieht; das sind die Schaufeln. Dann steckt er Astgabeln in den Uferschlamm, eine links, eine rechts, und legt die Stange drauf, so daß die Schaufeln ins Wasser tauchen – und schon beginnt sich das Rad zu drehn, schnell und schneller. Werden die Wellen flach, ruckt es und bleibt stehn, nur um beim nächsten Schub noch geschwinder wieder loszulegen. Und es tanzt und tanzt. Und wir lachen und lachen, der Großvater und ich.

Die Erwachsenen im Buch vermag nur ein den Ort überfahrender Zeppelin oder die laut tösende Marschkolonne der Nazis dazu zu bewegen, die Fenster zu öffnen und ihre Köpfe herauszustrecken – nur um sie gleich wieder zuzuklappen. Für den kindlichen Erzähler jedoch ist die ganze Welt ein Abenteuer:

Ich leg mich bei Deckers Gerhard bäuchlings auf den Kiesweg und versinke ins Geschau der bunten Stiefmütterchen so tief, daß ich hernach taumle.

Zwei hohe, metaphorische Fichtenstämme verdecken den ersten sowie den letzten Buchstaben im Ortsnamen des irdisch-realen Zeulenroda und machen das waldverborgene Städtchen zum mystisch-entrückten Ort einer unvergänglich-immerwährenden Kindheit. Darin liegen alle Freuden und Kümmernisse eines vollständig gelebten Lebens literarisch geborgen.

Ich hoff, ich werde Hundertzehn beim Staunen und Betrachten
Dann will ich langsam stiften gehn und staunend mich umnachten.

So heißt es am Ende von Stephan Krawczyks Lied. Was kann man sich Schöneres wünschen, wenn man sich so reich beschenkt weiß?

Eulenrod“, erschienen bei Antje Kunstmann, 112 Seiten, € 14,95








Samstag, 29. Juni 2013

„Femme fatale“ von Martin Walker

Das Krimi-Genre hat seinen Lesern im Verlauf der letzten Jahre eine erstaunliche Anzahl der exotischsten Schauplätze auf der ganzen Welt erschlossen, manchmal jedoch – wie wir immer wieder aus der Presse erfahren müssen – finden sich die größten Monstrositäten ganz unverhofft hinter der nächstnachbarlichen Haustür, und so scheint es kaum verwunderlich, dass sich viele deutsche Krimifans zuletzt mit großer Begeisterung auf jene Werke gestürzt haben, die ihre Handlung mit deutlich erkennbarem, oftmals satirisch überhöhtem spezifischen Lokalkolorit würzen, um das allseits bekannte und guter Literatur von jeher immanente heilsame Wiedererkennen im Leser noch zu forcieren.

Das wesentliche Problem vieler Lokalkrimis bleibt allerdings die den Nachahmungsmechanismen des Buchmarkts geschuldete ärgerliche Tatsache, dass literarische Kriterien immer häufiger hinter dem deutlich erkennbaren Bemühen der Verlage zurücktreten, dem Leser selbst zu den abwegigsten Unorten der deutschen Provinz einen Kriminalroman anbieten zu wollen.

Einen erfreulicher Sonderfall zwischen diesen beiden Extremen bilden die seit 2008 bei Diogenes in schöner Regelmäßigkeit erscheinenden, wunderbar-ergötzlichen, federleicht zu konsumierenden Périgord-Krimis des renommierten schottischen Journalisten und Schriftstellers Martin Walker (geboren 1947). Sein sympathischer Protagonist Bruno, ein ausgewiesener Feinschmecker, ambitionierter Hobbykoch und umsichtiger Kleinstadtpolizist mit Waffenphobie, ist die heimliche Seele seines beschaulichen fiktiven Heimatortes, der die selbst in der südwestfranzösischen Idylle mitunter aufkeimenden, alltäglichen Konflikte in aller Regel mit bewundernswertem diplomatischen Geschick und menschenfreundlich-besonnenem Weitblick bewältigt.

Und die ewig junge Frage, an der sich im Laufe der Jahrtausende schon Generationen von Philosophen, Esoterikern und Propheten erfolglos abgearbeitet haben, ohne eine befriedigende allgemeingültige Antwort geben zu können, die längeren Bestand haben könnte als eine verschwindend geringe Zeitspanne im Weltgefüge: nämlich ob der Zufall in der Welt existiert, beantwortet Martin Walker zumindest für die Region Périgord stets mit einem klaren Nein. Freilich ist allein die erhabene Position des „Schöpfers“ – wenn auch in diesem Fall die des literarischen – wie keine andere geeignet, Ereignisse von Vorsatz, Schicksal oder Synchronizität nicht nur aufgrund des eigenen exponierten Überblicks zu erkennen, sondern sie sogar bewusst herbeizuführen.

So dürfen wir zumindest als eifrige Walker-Leser wenigstens für die kurzweilige Dauer der Lektüre fest daran glauben, dass alle Dinge miteinander verbunden sind und der Sinn des Lebens vor allem darin besteht, dies zu erkennen und darüber hinaus mit wachen Sinnen einen unerschöpflichen Vorrat an genießerischen Augenblicken unbeschwerten Glücks anzusammeln, der uns möglicherweise über die zweifellos kommenden Momente von Not und Verzweiflung hinweghelfen wird.

Darüber hinaus verbinden die international erfolgreichen Bruno-Romane auf kunstvollste Art und Weise liebevoll porträtiertes, authentisches Lokalkolorit mit der Sehnsucht des Lesers nach Urlaub in einer für ihr Essen und ihre hochwertigen Lebensmittelprodukte weltweit bekannten Feinschmeckerregion. Gleichzeitig zeigt der politische Journalist Martin Walker darin immer wieder sehr elegant auf, wie sich globale soziale Prozesse zwangsläufig auch auf das Zusammenleben in scheinbar intakten ländlichen Gemeinschaften auswirken.



Das bildmächtige, vom Eindruck des gelungenen Covers noch eindrucksvoll gesteigerte Entrée zu Brunos jetzt erschienenem fünften Fall mit dem anspielungsreichen Titel „Femme fatale“ scheint geradezu filmreif: an einem entspannten, träge vor sich hinplätschernden Samstagmorgen treibt, während der örtliche Kirchenchor Bachs Matthäuspassion probt, ein einsames, herrenloses Ruderboot mit einer Aufsehen erregenden Fracht den Fluss herunter:

Die Frau konnte unmöglich noch am Leben sein. Sie war fast vollständig von Wasser überspült, nur die Brüste, das Gesicht und die Fußspitzen ragten daraus hervor. Die Haare fächerten sich wogend hinter ihrem Kopf, und die Hände schienen mit den Wellen zu spielen. Der Vogel hatte sich über ihr linkes Auge hergemacht, das andere schaute ausdruckslos zum Himmel empor. Dass die Frau sehr schön gewesen sein musste, war unverkennbar. Sie hatte eine makellose Haut und ein ebenmäßiges Gesicht. Nase und Kinn waren wohlgeformt, die Wangenknochen ausgeprägt. Bruno glaubte einen leichten Brandgeruch wahrzunehmen und etwas Öliges, das an Paraffin erinnerte. Neben der Leiche schwamm eine leere Wodkaflasche.

Die unbekannte, mit diabolischem Vorsatz künstlich im Boot drapierte Nackte erweist sich als fatale im doppelten Sinne: verhängnisvoll für sich ebenso wie für andere und – im dritten Wortsinn – als absolut tot. Die pathologische Untersuchung der Ermordeten offenbart schon bald schaurige Details ausgesprochen pikanter Todesumstände, die nahezulegen scheinen, dass die schöne Tote bei einer geheimen satanistischen Messe geopfert worden sein könnte.

Der mutmaßliche Tatort ist schnell identifiziert: ein in gräflichem Privatbesitz befindliches prähistorisches Höhlensystem, von dessen bisher erfolgreich geheimgehaltener Funktion als Veranstaltungsort für exklusive Sexparties sich clevere Strategen nun einen Aufschwung des lokalen Tourismus versprechen. Und während Bruno bei seinen weiteren Ermittlungen auf eine merkwürdige geschäftliche Verflechtung der französischer Waffenindustrie mit arabischem Terrorismus und internationalen Hedgefonds stößt, muß er sich wie gewohnt nicht nur der amourösen Avancen einer schönen Unbekannten erwehren, sondern wird auch wieder einmal mit seinen immer noch starken Gefühlen für seine zu einer nationalen Spezialeinheit in Paris versetzten Ex-Partnerin konfrontiert, deren Dienststelle aufgrund delikater internationaler Verwicklung – wie sich herausstellt – ebenfalls bereits in dem Fall zu ermitteln begonnen hat.

Auch in seinem fünften Périgord-Roman gelingt es Martin Walker mit leichter Hand und viel augenzwinkerndem Humor, drei unterschiedliche Fälle aufs Unterhaltsamste zu einem überaus spannenden Krimi zusammenzuführen, der Dank seines liebevoll beobachteten, lebensnahen Lokalkolorits und der mit Hilfe von Julia Watson, der Frau des Autors, einer renommierten Restaurantkritikerin und Food-Bloggerin, nachkochbar zusammengestellten und von Bruno im Verlaufe der Handlung persönlich zubereiteten Menüfolgen beinahe in der Lage ist, einen kompletten Urlaub in Südfrankreich im Geiste des Lesers zu ersetzen.

„Femme fatale“, aus dem Englischen von Michael Windgassen, erschienen bei Diogenes, 427 Seiten, € 22,90


Donnerstag, 27. Juni 2013

„Wenn Gott schläft“ von Shahin Najafi


Die alte Streitfrage unter Historikern und Philosophen, ob sich Geschichte wiederhole: unter totalitären Bedingungen, wie sie im Iran nicht erst seit der islamischen Revolution gegen das Schah-Regime im Jahr 1979 herrschen, werden besonders in der von Inkompetenz und Korruption ausgelösten eskalierenden wirtschaftlichen Depression der letzten Jahre und unter dem angesichts der reichen Bodenschätze des Landes und einer außergewöhnlich gut ausgebildeten breiten Mittelschicht vollkommen unnötigen Elend der Bevölkerung nicht nur allgemeine Grundzüge der Funktionsweisen von Diktaturen sichtbar. Die sich in blinder Selbstüberschätzung grausam-blöde gegen die eigenen Ressourcen richtende staatlich santionierte Gewalt bringt auch immer wieder Helden hervor, die sich der unausweichlich scheinenden Resignation und Fügung in die Verhältnisse auch unter Todesgefahr mit aller Kraft verweigern.



Es ist also keine Überraschung, dass Wolf Biermann – als Ikone des unschuldig verfolgten, unerschrockenen Sängers – am 15. Juni 2012 zu den fünfzig prominenten Erstunterzeichnern eines Solidaritätsaufrufs deutscher Kulturschaffender mit dem seit 2005 in Deutschland lebenden iranischen Sänger und Lyriker Shahin Najafi zählte, der zuvor, nur wenige Tage nach der Veröffentlichung seines satirischen Songs „Naghi“ im Internet, einer im Vergleich mit anderen seiner Lieder eher harmlos-humoristischen Anrufung des für seinen Humor bekannten zehnten Imams der Schiiten aus dem Neunten Jahrhundert, von der iranischen Geistlichkeit mit einem Todesurteil sowie einem Kopfgeld von 100.000 Dollar belegt worden war.

Naghi, ich beschwör dich beim Ausmaß der Sanktionen
Dem steigenden Dollarkurs und dem Gefühl der Demütigung
Bei dem Imam aus Pappe
Bei dem Kind, das schon im Mutterleib nach dem heiligen Ali schreit
Beim Religionsunterricht während der Nasen-OP
Beim Imam, bei allen Gebetsketten und Gebetsteppichen made in China
Beim Finger von Sheys Rezaei
Beim religiösen Fußball und der Religion im Aus

Oh Naghi, nun da Mahdi schläft, rufen wir dich
Oh Naghi, mögest du wiederauferstehen
Oh Naghi, wir stehen bereit für dich, in Leichentüchern

Naghi, ich beschwör dich bei der Liebe und Viagra
Bei den weit gespreizten Beinen der Ergebenen
Bei Fladenbrot, Hühnchen, Fleisch und Fisch
Bei den Brüsten aus Silikon und geflickten Jungfernhäutchen
Naghi, bei Golshiftehs Titten
Bei der verlorenen Ehre, die wir eigentlich nie hatten...

Es hat immer etwas Wunderbares, fundamental Erhellendes, wenn man ganz unverhofft und mit den verfeinerten Mitteln der Kunst, die dankbare Gelegenheit bekommt, ein Land samt seiner Kultur und seiner Bewohner auf gänzlich andere Art und Weise kennenlernen zu dürfen als man es aus dem üblichen, von den Medien vermittelten Zerrbild bereits zu kennen vermeint. Seit der Islamischen Revolution vor mehr als dreißig Jahren ist der Iran im Bewusstsein des Westens vor allem als gern beschworenes Negativbeispiel für wirtschaftliche und soziale Rückständigkeit sowie insbesondere für religiösen Fanatismus missbraucht worden, als finster-mittelalterliche Umkehrung der sogenannten Errungenschaften der westlichen Zivilisation. Das scheinbar schlimmste jedoch: die Islamische Republik will die Atombombe!

Dieses gefährliche kulturelle Ängste gebündelt schürende Feindbild setzt allerdings vollkommen illegitimerweise Anschauungen der Führungsriege des totalitären Regimes mit den im pluralistischen Sinne unzähligen unterschiedlichsten möglichen Auffassungen seiner Bürger gleich, wodurch die Existenz einer eigenständigen denkenden und bewusste individuelle Entscheidungen treffenden Persönlichkeit kategorisch verneint wird. Diese Vorstellung aber ist vollkommen absurd.

Wenn du die Augen öffnest und dich umschaust
Siehst du nur Leichen, die alle auf dich einschlagen
Auch von deinen Eltern hast du eines Tages genug
Weil sie wollen, dass du ein Schaf wirst wie sie
Aber durch meine Adern strömt das Blut einer wilden Generation
Die an das, was du uns anbietest, nicht mehr glaubt [...]
Hadji, an dir hängt eine Menge Bart wie Wolle herum
Mit der Gebetskette in der Hand kriegst du jede für die Zeit-Ehe rum

Einen guten unverstellt-lebenshungrigen Einblick in den wilden unangepassten Iran bekommt man hingegen durch den halbdokumentarischen Spielfilm „Perserkatzen kennt doch keiner“ von Bahman Ghobadi über zwei illegale Rockmusiker in Teheran, der bei den Filmfestspiellen von Cannes im Jahr 2009 völlig zu Recht mit einen Spezialpreis der Jury ausgezeichnet wurde. Aber auch in dem überraschenden Roman „Der geheime Basar“ des israelischen Schriftstellers Ron Leshem, dem vielleicht ersten mittels Facebook-Freundschaften entstandenen Buch der Literaturgeschichte, erhalten wir tiefe Einblicke in die zahlreichen Wunder des unbekannten Iran – mit seinen geheimen Partys, illegalen Konzerten, Sex und Drogen.

Der Kölner Verlag Kiepenheuer & Witsch hat dem seit vielen Jahren in der Rheinmetropole lebenden Sänger und Lyriker Shahin Najafi und seinem musikalisch-politischen Kampf unter dem Titel „Wenn Gott schläft“ nun ein Taschenbuch gewidmet, das zahlreiche Songtexte, Gedichte sowie biographische Prosatexte des verfolgten Musikers erstmals in deutscher Sprache versammelt, übersetzt von dem Soziologen M.H.Allafi und sachkundig-erhellend kommentiert von Omid Nouripour, dem langjährigen Sprecher für Sicherheitspolitik der Grünen-Fraktion im deutschen Bundetag.

Der Werdegang Shahin Najafis überrascht dabei am meisten: denn obwohl der Islam in seiner Familie traditionell keine besondere Rolle spielte, entwickelte der begabte Jugendliche, wie er in einem längeren Text am Anfang des Buches sehr eindrücklich beschreibt, ein so intensives Interesse an religiösen Dingen, dass er bereits als Siebzehnjähriger nicht nur als begnadeter Koran-Rezitator, sondern auch als große zukünftige Hoffnung der lokalen Geistlichkeit seiner Heimatstadt Bandar Anzali am Kaspischen Meer galt. Dass er dennoch kein Mullah geworden ist, verdankt er dem beißenden Uringeruch im Gewand eines extra aus Teheran angereisten hohen Geistlichen, der ihn, begeistert von seiner „himmlischen“ und „göttlichen“ Rezitation, zur Belohnung zu sich nach vorne gerufen hatte, dass er „neben ihm sitze“.

Nachdem er bei Renovierungsarbeiten in der Moschee durch Zufall auf eine Zeitungsnotiz mit dem Grabspruch des Dichters Sohrap Sepehri (1928-1980) gestoßen war: „Wenn ihr nach mir sucht, sollt ihr das sanft und behutsam tun, nicht dass das Porzellan meiner Einsamkeit Risse bekommt“, begann er sich intensiv mit persischer Lyrik zu beschäftigen, was eine graduelle und schließlich endgültige Abkehr von Gott und der Religion zur Folge hatte. Seine weitere persönliche und künstlerische Entwicklung beschreibt Najafi unter den gegebenen politischen Umständen als geradezu zwangsläufig für einen geistig hellwachen, lebenshungrigen Menschen im Iran, der mit offenen Augen und kritischem Verstand sein Land betrachtet.

In seinen Texten und Gedichten ist einerseits die unverstellt-rotzige, rebellische Sprache des Rap sehr präsent, andererseits finden sich auch deutliche Anklänge an die uralte persische Lyriktradition, die die intensive Auseinandersetzung des Autors mit dieser altehrwürdigen Schule verraten. Aber auch seine intensiven Kenntnisse der religiösen Traditionen des Islam verleihen den Texten eine besondere Wahrhaftigkeit und Authentizität, denn die Perspektive des Sinnsuchers ist geblieben. Wo aber soll man noch Sinn finden, wenn die kollektive Realität von Armut, Mord und Unterdrückung bestimmt wird, das totalitäre Regime selbst vor Mord und Vergewaltigung nicht zurückschreckt und insbesondere die gut ausgebildeten Frauen systematisch unterdrückt und ihnen ein selbstbestimmtes Leben vorenthält?

Als die Reformer plötzlich Reformisten waren
Als die Revolutionäre klein beigaben oder weniger geworden sind
Als die Bärte zu Bärtchen wurden und die Wurzeln unter die Axt kamen
Als die Revolutionswächter politische Geschäfte machten
Als Musiker wie Fereidoon an einer Überdosis starben
Als zwanzig Millionen Stimmen vom Winde verweht wurden
Als die Gewänder schokoladenbraune, weiße und gelbe Farbe hatten
Als wir frei waren und die Freiheit die Form von Schmerzen hatte
Als die Filmemacher Schlagstöcke trugen
Es war kein Kino, es war ein Zirkus, voller Geschenke und Blumen

Als du und die Trauer und die Ironie, die traurige Ironie da waren
Als du und eine Herde von durchgefallenen Gelehrten da waren
Als du und die Reue und vorsichtige Gedichte da waren
Als du und der Gedanke auf diese Welt zu pissen da waren

„Wenn Gott schläft“ – das jedoch bleibt unausgesprochen – müssen wir selbst für gerechte Verhältnisse sorgen. Die verfeinerte politische Anspielung, wie sie die klassischen persischen Dichter früherer Jahrhunderte notwendigerweise meisterhaft beherrschen mussten, wenn sie nicht die Gunst ihrer fürstlichen Mäzene, ihr Einkommen und ihr Publikum verlieren wollten, lehnt Najafi mit aller Entschiedenheit ab – und er hat gute Gründe dafür: im Zeitalter des Internets können Künstler und ihr Publikum auch über geographische Entfernungen von tausenden von Kilometern mühelos zueinander finden.

Was an Shahin Najafis mitreißend-engagierter, unmittelbar wesentlicher Lyrik jedoch am meisten zu beeindrucken vermag, ist die wunderbare Tatsache, dass in ihr die Sphäre der Politik, der umfangreiche Bereich des Privaten und Persönlichen sowie die romantische und brüderliche Liebe ähnlich wie in der Dichtung Nazim Hikmets eine kaum voneinander abzugrenzende Einheit bilden. „Wenn Gott schläft“ ist ein wichtiges, kaum hoch genug zu lobendes Buch, das unsere Wahrnehmung des Iran und seiner Menschen nachhaltig zu verändern vermag.

„Wenn Gott schläft“, aus dem Persischen von M.H. Allafi, mit einem Geleitwort von Günter Wallraff sowie einem Vorwort und zahlreichen Erläuterungen von Omid Nouripour, erschienen als KiWi Paperback, 160 Seiten, € 8,99

Dienstag, 18. Juni 2013

„Und doch ein ganzes Leben“ von Helga Weiss

Auch beinahe siebzig Jahre nach Kriegsende erscheint auf dem internationalen Buchmarkt immer noch Jahr für Jahr eine beträchtliche Anzahl von neuen, bisher unbekannten literarischen Berichten von unmittelbaren Zeugen des organisierten Massenmords an den europäischen Juden durch Nazi-Deutschland: zum Teil sind es Kinder und Enkel der direkten Opfer, die das Schweigen über deren Leiden brechen, in manchen Fällen werden versteckte Aufzeichnungen bei privaten Renovierungsarbeiten oder in noch nicht ausgewerteten Archiven gefunden, aber auch unmittelbar Betroffene entschließen sich mitunter noch am Ende ihres Lebens dazu, gleichsam aus erster Hand über den ihnen aufgezwungenen Weg Zeugnis abzulegen.

Wer allerdings angesichts der enormen Fülle an detaillierten wissenschaftlichen Erkenntnissen über die Schoah allen Ernstes die Frage aufwirft, wozu wir noch weitere Zeitzeugenberichte brauchen, sollte sich noch einmal dringend die unbequeme, unleugbare Tatsache vor Augen führen, dass im Weltenbrand des Zweiten Weltkriegs die Gesamtzahl der zivilen Todesopfer (39.000.000) die der militärischen nicht nur um fast zwei Drittel übersteigt, sondern vor allem dass allein die Anzahl der ermordeten Juden nach Zusammenführung sämtlicher heute zu Verfügung stehender Quellen 6.000.000 vermutlich sogar noch übertreffen dürfte.

Um diese verstandesmäßig kaum zu fassende Zahl dennoch wenigstens annähernd begreifen zu können, ist es nicht nur nützlich, sondern geradezu unverzichtbar, sich mit den persönlichen Zeugnissen der Betroffenen zu beschäftigen: es geht hier um nicht weniger als 6.000.000 sinnlos ausgelöschte Leben, viele davon fraglos unspektakulär, unauffällig, unambitioniert – ganz gewöhnliche Lebensentwürfe von ganz gewöhnlichen „Menschen-wie-du-und-ich“, deren einziges Ziel es war, in Liebe und Einklang mit sich und der Welt zu leben.

Das Unfassbare am fabrikmäßig organisierten Judenmord ist ja gerade die jedem humanistischen Grundgedanken vehement zuwiderlaufende Konsequenz, mit der die absurd-geisteskranke pseudophilosophische Herleitung der angeblichen jüdischen Minderwertigkeit aus dem Ungeist des mitteleuropäischen Nationalismus des Neunzehnten Jahrhunderts zunächst über die theoretische Infragestellung jüdischen Lebens bis zur unmittelbaren totalen physischen Vernichtung tatsächlich von den Nationalsozialisten und ihren zahlreichen Handlangern durchgezogen wurde.

Besonders aus der bitteren Erkenntnis der jeglicher Definition von Menschlichkeit entzogenen Perspektive der Nationalsozialisten als selbsternannte Richter über Tod und Leben, Falsch und Richtig, Gut und Böse, muss man umso deutlicher bekräftigen, dass jedes dieser mutwillig zerstörten 6.000.000 Leben es vor allem ohne jede Einschränkung verdient gehabt hätte weitergelebt zu werden, in aller möglichen Unvollkommenheit und Banalität, und demzufolge auch heute noch gehört zu werden. So dürfen wir jeden Zeitzeugenbericht getrost als physisch-sichtbaren Beitrag zur schönen, in Judentum und Christentum gleichermaßen verbreiteten Vorstellung vom Buch des Lebens betrachten, in das die Namen und Taten der Gerechten „bis in alle Ewigkeit“ eingeschrieben seien.



Der Name der tschechischen bildende Künstlerin Helga Weissová-Hosková, geb. 1929 in Prag, ist interessierten Lesern bereits durch eine nachhaltig beeindruckende Buchveröffentlichung aus dem Jahr 1998 bekannt, in der unter dem programmatischen Titel „Zeichne, was du siehst“, der Aufforderung ihres mit großer Wahrscheinlichkeit in Auschwitz ermordeten Vaters an die künstlerisch begabte und intellektuell aufgeweckte Tochter anlässlich der gemeinsamen Internierung im Konzentrationslager Theresienstadt im Dezember 1941, nahezu sämtliche ihrer dort entstandenen Kinderzeichnungen versammelt sind, auf denen die damalige Schülerin mit beeindruckend-wachem Blick für die Details des Lageralltags das alltägliche Grauen im von den Nazis bewusst beschönigend „Ghetto“ genannten Durchgangslager auf dem Weg in die Todeslager Auschwitz, Treblinka, Sobibor und Majdanek wiedergibt. Ihr kindlich-naiver Zeichenstrich erschreckt und beeindruckt den Betrachter dabei umso mehr, da für ihn darin unmittelbar erfahrbar wird, dass dies alles, was doch kein Kind jemals auch nur mit eigenen Augen bezeugen sollte, Abertausenden von Kindern in der Schoah tatsächlich widerfahren ist.

Doch Helga Weissová-Hosková führte seit dem Beginn der deutschen Okkupation in Prag und später in Theresienstadt auch ein höchst aussagekräftiges persönliches Tagebuch, welches sie vor ihrer Deportation nach Auschwitz ihrem aufgrund seiner exponierten Tätigkeit im Geschäftszimmer der sogenannten „Ghettoverwaltung“ relativ weitreichende Protektion genießenden Onkel übergab, der es gemeinsam mit ihren Zeichnungen und Skizzen in einem geheimen Versteck im Lager einmauerte und nach dem Krieg unversehrt wieder bergen konnte.

Ihre weitere Leidenszeit in Auschwitz-Birkenau, im Messerschmidt-Flugzeugwerk Freiberg/Sachsen sowie im zehntägigen unwahrscheinlichen Verlauf einer kafkaesk-absurden Odyssee mit dem Zug, kurz hinter der sich stetig vorwärtsschiebenden Frontlinie, und schließlich die letzten Kriegstage im berüchtigten Lager Mauthausen, wo nur wenige Tage vor Eintreffen ihres Transports die Vergasungen auf Druck des Roten Kreuzes endgültig eingestellt worden waren, schrieb sie als Vierzehnjährige nur wenige Wochen nach der Befreiung ebenfalls im Tagebuchstil auf.

Diese Aufzeichnungen sind nun erstmals gemeinsam mit einem Teil ihrer Zeichnungen in einem Buch zusammengeführt worden: „Und doch ein ganzes Leben – Ein Mädchen, das Auschwitz überlebt hat“. Darin ergibt sich umso mehr das Bild eines talentierten, geistig hellwachen, mutigen jungen Mädchens das sich seines so umfassend niemals ausgesprochenen väterlichen „Auftrags“ vollkommen bewusst zu sein scheint und das während aller Kränkungen, Demütigungen und im Verlaufe seines verzweifelten, ihr von den Nazis grausam aufgezwungenen Kampfs ums Überleben dennoch niemals den Kern ihrer Persönlichkeit preiszugeben bereit ist, immer an die Möglichkeit der Rettung glaubt und auf rührende Art und Weise selbst den Gedanken ans unwahrscheinliche Überleben des geliebten Vaters nicht aufgeben mag:

Wenn wir wenigstens im Zug [nach Auschwitz] die Pastete gegessen hätten; wir hatten sie für Papa aufgehoben, damit wir ihm gleich etwas geben können. Mein Gott, wie haben wir Dummköpfe uns das überhaupt vorgestellt? „Ihr fahrt zu euren [bereits deportierten] Männern in das neue Ghetto.“ Und wir haben ihnen das geglaubt. Manche Frauen haben sich sogar freiwillig gemeldet.

Im aufschlussreichen Interview im Anhang des Buches bekennt die Dreiundneunzigjährige:

Ich habe das nur für mich selbst geschrieben und hatte damit, glaube ich, eigentlich keine weiteren Absichten. Na ja, ob ich nun welche hatte oder nicht, weiß ich nicht genau. Ich habe ja auch gezeichnet. Auch diese Zeichnungen habe ich für mich gemacht, aber es kann sein, dass ich ein klein wenig daran dachte, dass ich alles für spätere Zeiten festhalten will, denn aus heutiger Sicht betrachtet, steckte schon eine gewisse Regelmäßigkeit dahinter. Vor allem aber schrieb ich für mich. Es kann allerdings sein, dass ich damals schon ein kleines bisschen diesen Gedanken verfolgte.

Ein wesentlicher Unterschied von Helgas Tagebuch zu den zahlreichen uns heute bekannten anderen kindlichen Schilderungen als aussagekräftige Zeugnisse des NS-Terrors besteht vor allem in der wunderbaren Tatsache des glücklichen Überlebens der jungen Autorin: denn das Grauen vieler anderer Kindertagebücher, die in der Regel schon deshalb mit dem Zeitpunkt der Deportation abbrechen, weil die SS in den Konzentrationslagern anders als im Ghetto keinerlei persönlichen Besitz mehr duldete, ergibt sich schließlich vor allem aus unserem detaillierten Wissen über das vielfältige Grauen, das den innerlich unnötig früh Gereiften noch bevorstehen sollte und das so zahlreiche hoffnungsvolle, vielversprechende Lebenswege, mit denen wir uns so vorbehaltlos identifizieren, mit kalter Berechnung einfach endgültig kappte.

In Helga Weissovás Tagebuch steigert sich das Grauen stetig, bis es allgegenwärtig ist und die Autorin nicht sicher sein kann, ob sie den jeweils beschriebenen Tag überleben wird: von ersten Einschränkungen aufgrund der von den Nationalsozialisten auch in der Tschechoslowakei umgehend implementierten menschenunwürdigen deutschen „Rassegesetzen“, über die ersten, lediglich Bekannte oder Verwandte betreffenden Deportationen nach Theresienstadt, den dortigen physischen und vor allem massiven psychischen Terror, bis hin zu ersten Gerüchten im Lager über den Einsatz von Gas und die Transporte nach Auschwitz, die Selektion, Zwangsarbeit, Hunger und die absolute physische Vernichtung.

Ja, das ist das letzte System. Wochen, womöglich Monate ohne Essen und Trinken haben sie hinter sich, diese – Menschen? Ja, das waren einstmals Menschen. Gesund, stark, mit eigenem Willen und eigenen Gedanken, mit Gefühlen, Neigungen und Liebe. Mit Liebe zum Leben, zum Guten und zur Schönheit, mit dem Glauben an eine bessere Zukunft. Übrig geblieben sind Schemen, Körper, Gerippe ohne Seelen.

Man mag darüber streiten, ob es legitim sei, einem organisch entstandenen Tagebuch über die Zeit im vergleichsweise „privilegierten“ Durchgangslager Theresienstadt eine im selben Stil geschriebene tagebuchartige Rekapitulation der späteren Ereignisse in den Todeslagern hintanzustellen. Daran jedoch, dass eine Weiterführung der begonnenen Geschichte in irgendeiner Form zwingend notwenig war, dürfte allerdings niemand auch nur den geringsten Zweifel hegen. Die von der Autorin bereits kurz nach der Befreiung gefundene Form führt ohnehin gerade im Zusammenspiel mit ihren präzise beobachteten Zeichnungen dazu, dass das vorliegende Buch aufgrund seiner schmerzhaften Authentizität und ausgesprochenen Detailfülle wie kaum ein anderes Dokument geradezu ideal dazu geeignet ist, um die darin beschriebenen Ereignisse intellektuell wie emotional gleichermaßen nachvollziehen zu können und diese somit in ihrer ganzen Tragweite zu begreifen.

Die Waggons sind da, der zweite Transport [nach Auschwitz] geht in die Schleuse. Mama macht schnell das Abendbrot, Papa soll sich noch einmal zum letzten Mal ordentlich satt essen. [...] Hier haben wir drei gesessen, jeden Abend, das letzte Dreivierteljahr. Das war für uns die beste Zeit in Theresienstadt, hier hatten wir unsere glücklichsten Stunden. Wenn gerade jetzt der Krieg zu Ende wäre... Das wäre zu schön. [...] Den Kopf an Papas Brust gepresst, höre ich deutlich seinen Herzschlag, wie von ferne, traurig, wie die Stimmung des heutigen Abends. Ach Papa, wären deine Arme doch so stark, dass mich niemals etwas aus ihrer Umarmung reißen könnte.

Wer die Bedeutung und den Wert des Lebens vollends begreifen will, sollte dieses Buch lesen.

„Und doch ein ganzes Leben“, aus dem Tschechischen von Elke Čermáková, erschienen bei Lübbe, 223 Seiten, € 18,-