Es ist
immer problematisch, wenn man allen Ernstes glaubt, auf Grundlage
allgemeiner oder auch spezieller oder gar systematischer
Beobachtungen über die konkreten Lebensäußerungen und
Verhaltensmuster der Bürger eines bestimmten Staates anhand
möglicherweise grundlegend scheinender Ähnlichkeiten in ihrem
jeweiligen Handeln gleich auf eine Art von „Nationalcharakter“
als bestimmende Geistesverfassung schließen zu können. Was bei
einem naiven Blick von Außen auf den anhaltenden Konflikt zwischen
der Ukraine und Russland als ehemalige Mitgliedstaaten der
Sowjetunion allerdings ohne Zweifel irritieren muss, sind die
nationalistisch-faschistoiden, kaum oder nur wenig verschleierten
aggressiven Drohgebärden des im öffentlichen Bild mittlerweile
unstrittigen Aggressors, die unwillkürlich schlimmste Erinnerungen
an die Zeit des europäischen Imperialismus als Basis der Katastrophe
des Ersten Weltkrieges wach werden lassen.
Wenn
man die kleine Übersichtskarte im Buchumschlag zur erst kürzlich
erschienenen, äußerst verdienstvollen Dünndruck-Gesamtausgabe
sämtlicher (erhalten gebliebener) Erzählungen des 1940 vom NKWD
aufgrund haarsträubender Spionagevorwürfe im Rahmen antijüdischer
stalinistischer Säuberungen heimlich ermordeten Schriftstellers und
Journalisten Isaak Babel (geboren 1894 in Odessa) aufmerksam
betrachtet, bemerkt man auf Anhieb, dass die gesammelten Schauplätze
aus dessen bis zu seinem Tod bereits veröffentlichtem umfangreichen
erzählerischen Werk im Wesentlichen ein nur wenig erweitertes Gebiet
der aktuellen Konfliktzone sowie der Staatsgebiete der beiden
derzeitigen Konfliktparteien beschreiben. Auch wenn man bedenkt, dass
der NKWD alle bei Babel selbst aufgefundenen unveröffentlichten
Aufzeichnungen direkt nach dessen Hinrichtung verbrannte, macht
dieses überaus nützliche Zusammentreffen die vorliegende, von
Bettina Kaibach und Peter Urban klangvoll und ausdrucksstark
übersetzte Ausgabe aus gegenwärtiger Sicht besonders informativ und
wertvoll.
„Ivan
Nikodimyĉ“,
sagte er, als er an dem Jäger vorbeikam, „packen Sie das Gerät
zusammen, in der Stadt kriegen die Jerusalemer Adelsherren eine
Verfassung verpasst. Auf der Rybnaja haben sie den Babelschen Onkel
traktiert, bis er hin war.“
Schon
die kaum mehr als zehn Seiten lange Titelerzählung „Die Geschichte
meines Taubenschlags“, eine erschütternde, aus Sicht des
kindlichen Protagonisten erzählte autobiografische Chronologie eines
blutigen Pogroms in dessen Heimatstadt Nikolajew im Bezirk Odessa im
Jahr 1905, setzt zwei für die beschriebene Geschichtsepoche
ausgesprochen bedeutsam scheinende Gegenpole in schrecklichen
Kontrast zueinander, die auch den heutigen Betrachter erneut und
besonders aufschrecken müssen, weil er hohe Bildung und reiches
geistiges Innenleben auf der einen Seite und absolute selbstbezogene
Triebhaftigkeit und brutalste Mordlust auf der anderen auch in den
Ereignissen der Gegenwart wiederzuerkennen glaubt, einen der
schrecklichsten und nachhaltigsten Widersprüche des Zwanzigsten
Jahrhunderts, der wenig später auch in den Ereignissen der Schoah
immer wieder auf entsetzliche Art Weise zu Tage treten sollte.
Meine
Mutter war blass, sie befragte das Schicksal in meinen Augen und sah
mich an, wie man ein Krüppelchen ansieht, voll bitterem Bedauern,
denn sie allein wusste, wie glücklos unsere Familie war. […] Der
unvorschriftsmäßig gekleidete Schutzmann erschreckte meine Mutter
mehr als alles andere, seinetwegen ließ sie mich nicht gehen, aber
ich stahl mich durch die Höfe auf die Straße und lief zum
Vogelmarkt, der sich bei uns hinter dem Bahnhof befand.
Der
sehnlichste Herzenswunsch des neunjährigen Erzählers ist schon seit
langem ein eigener kleiner Taubenschlag mit drei Taubenpärchen. Da
er kurz vor vor der Aufnahmeprüfung zum Gymnasium seiner
beschaulichen Heimatstadt steht, verspricht ihm sein Vater für den
Fall, dass er in den beiden wesentlichen zu prüfenden Fächern zwei
Einsen mit Stern mit nach Hause bringe, einen Rubel und fünfzig
Kopeken zur Erfüllung seines Wunsches. Andere Zensuren als Einsen
scheinen ohnehin kaum denkbar, da von vierzig neu zu vergebenden
Plätzen lediglich zwei für Juden reserviert sind und diesen der
ordentliche Zugang zur höheren Bildung auch sonst auf jede
erdenkliche Art und Weise systematisch erschwert wird. Die Aussicht
aber, dass ihr einziger Sohn das Gymnasium besuchen könnte, stellt
für die zu bescheidenem Wohlstand gelangte, assimilierte Familie
nicht nur ein wichtiges Sehnsuchtsziel als Zeichen ihres fragilen
bürgerlichen Aufstiegs dar, sondern scheint auch das Versprechen zu
beinhalten, in Zukunft unauflösbar Teil eines kulturell hoch
entwickelten Gemeinwesens zu sein.
Nikolajew/Zeitgenössische Postkarte |
Nachdem
die Prüfung trotz tadelloser Leistung wegen der beträchtlichen
Schmiergeldzahlung eines anderen Vaters an die Prüfungskommission
misslungen ist, wird im folgenden Jahr ein zweiter Versuch
unternommen, wofür der Vater des jugendlichen Protagonisten
keinerlei Kosten scheut und einen Privatlehrer engagiert, der den
Jungen nicht nur auf die Prüfung vorbereitet, sondern sogar den
gesamten Stoff der ersten Gymnasialklasse mit ihm durchnimmt –
letztlich mit Erfolg. Der unbedachte, begeisterte Vater veranstaltet
ein großes Fest zu Ehren seines Sohnes.
Außer
den Handlungsreisenden kam der alte Liberman zu uns, der mich in der
Thora und in Hebräisch unterrichtet hatte. Bei uns nannte man ihn
Monsieur Liberman. Er trank mehr bessarabischen Wein als ihm gut tat,
die traditionellen Seidenschnürchen krochen ihm unter der roten
Weste hervor, und er brachte auf Hebräisch einen Toast auf mich aus.
In diesem Toast gratulierte der Alte meinen Eltern und sagte, ich
hätte bei der Prüfung alle meine Feinde besiegt, besiegt hätte ich
die russischen Jungen mit den dicken Backen und die Söhne unserer
groben Geldsäcke. So habe in alter Zeit David, der König von Juda,
den Goliath besieht, und ähnlich wie ich über Goliath triumphierte,
werde unser Volk Kraft seines Verstandes die Feinde besiegen, die uns
umzingelten und auf unser Blut lauerten. Bei diesen Worten begann
Monsieur Liberman zu weinen, weinend trank er noch mehr Wein und
schrie : „Vivat!“
Mit
dem Eintritt ins Gymnasium beginnt eine kurze Zeit hoffnungsvollen
Glücks für die Familie des mit dem Autor weitgehend identischen
Icherzählers. Erst nach einem Vierteljahr erinnert sich dieser an
seinen Vorsatz, endlich die ersehnten Tauben zu kaufen. Die Stadt ist
nach Verkündigung des berüchtigten Oktobermanifests von 1905 seit
Tagen in revolutionärem Aufruhr. Gegen den ausdrücklichen Willen
seiner Eltern stiehlt sich der Junge heimlich davon und erwirbt auf
dem Vogelmarkt drei prächtige Taubenpärchen, auf dem Heimweg gerät
er jedoch in ein ebenso wahlloses wie spontanes Pogrom, dem sein
Onkel Schojl zum Opfer fällt, der ihm kurze Zeit zuvor einen
prächtigen Taubenschlag zurechtgezimmert hatte. Der Erzähler selbst
entgeht dem Tod, während die frisch erworbenen Tauben, die er unter
seiner Jacke versteckt hat, als wehrlose Symbole der Unschuld und des
Friedens von einem verkrüppelten Bettler mit brutaler Gewalt
totgeschlagen werden.
Ich
lag auf der Erde, und die Innereien des zerquetschten Vogels liefen
mir die Schläfe hinab. Sie wanden sich meine Wangen entlang,
besudelten mich und machten mich blind. Zartes Taubengedärm kroch
über meine Stirn, und ich schloss das letzte unverklebte Auge, um
die Welt nicht zu sehen, die sich vor mir ausbreitete. […] Eng und
schrecklich war meine Welt. Ich schloss die Augen […] und presste
mich an die Erde, die beruhigend stumm vor mir lag. Diese zerstampfte
Erde glich in nichts unserem Leben und der Erwartung von Prüfungen
in unserem Leben. Irgendwo, fern, ritt das Unheil auf einem großen
Pferd über sie hinweg, doch der Lärm der Hufe wurde schwächer,
verhallte, und Stille, jene bittere Stille, wie sie Kinder im Unglück
bisweilen beschleicht, löschte plötzlich die Grenze zwischen meinem
Körper und der nirgends hinstrebenden Erde. Die Erde roch nach
feuchten Tiefen, nach Grab, nach Blumen. Ich spürte ihren Geruch und
begann zu weinen, ohne jede Angst.
Nicht
nur in Babels meisterhafter Kurzgeschichte vom Taubenschlag, sondern
auch in den meisten anderen seiner hier vollständig auf Deutsch
versammelten Erzählungen (darunter der berühmte Zyklus „Die
Reiterarmee“ über den russischen Bürgerkrieg und die gescheiterte
Usurpation bestimmter Teile Polens), deren prägnante, einprägsame
Bilder noch lange in der Imagination des Lesers nachhallen, wird
deutlich, dass eine Gesellschaft nur dann fähig ist, sich
vollständig in den Dienst des Menschen zu stellen, wenn es ihr
gelingt, nachhaltig wirksame Methoden hervorzubringen, mit deren
Hilfe sie ihre gegensätzlichen Erscheinungsformen auf solche Art und
Weise zu integrieren vermag, dass die Liebe zum Schönen oder ein
hoher Bildungsstand nicht nur zwei beliebige Extreme neben
ungebremster Gewalt, Diskriminierung und sozialer Gleichgültigkeit
bleiben. Die höchste Forderung an ein Gemeinwesen muss somit die
Schaffung eines allgemeinen sozialen Klimas sein, welches es seinen
Bürgern ermöglicht, auf mögliche unbewusste Herausforderungen
nicht mit spontaner Gewalt zu reagieren, sondern positive Antworten
zu entwickeln.
Isaak Babel (1894-1940) |
Isaak
Babel erweist sich in seinen gesammelten Erzählungen nicht nur als
einzigartiger literarischer Chronist einer ganzen Region und einer
politischen Epoche, sondern auch als unverkennbar eigenständige,
unbestechliche moralische Instanz eines universellen Humanismus
jenseits aller Ideologien, womit sein Werk weit über seine eng
umrissene Entstehungszeit und seinen scheinbar begrenzten Themenkreis
hinausweist und als Beispiel allgemein gültiger geistiger und
politischer Unabhängigkeit im Angesicht institutioneller Repression
weder heute noch in Zukunft jemals an Aktualität verlieren kann.
Einer seiner Mörder, der NKWD-Beamte Boris Rodos, antwortete in
seinem eigenen Prozess sechzehn Jahre später auf die Frage, ob er je
eine Zeile aus dem Werk seines Opfers gelesen habe:
„Wozu
auch?“
Doch
als Babels zweite Frau Antonina Pirozhkova weitere dreißig Jahre
später angesichts des offeneren politischen Klimas der Perestroika
eine erneute Anfrage nach den verschollenen Aufzeichnungen ihres
ermordeten Mannes stellte, erhielt sie persönlichen Besuch von zwei
KGB-Agenten. Nicht jedoch, wie sie zunächst argwöhnte, zur
Vermeidung einer dokumentierbaren schriftlichen Antwort, sondern zu
ihrer äußersten Überraschung als Beileids- und Ehrenbezeugung
sowie als offizielle Geste des Bedauerns über den beklagenswerten,
unwiederbringlichen Verlust der mittlerweile allerseits als wertvoll
angesehenen Manuskripte.
„Mein Taubenschlag“, aus dem Russischen von Peter Urban („Die
Reiterarmee“) und Bettina Kaibach (sämtliche andere Erzählungen),
erschienen bei Hanser, 863 Seiten, € 39,90
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