Jerusalem

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Montag, 16. März 2015

„Mein Taubenschlag“: Sämtliche Erzählungen von Isaak Babel

Es ist immer problematisch, wenn man allen Ernstes glaubt, auf Grundlage allgemeiner oder auch spezieller oder gar systematischer Beobachtungen über die konkreten Lebensäußerungen und Verhaltensmuster der Bürger eines bestimmten Staates anhand möglicherweise grundlegend scheinender Ähnlichkeiten in ihrem jeweiligen Handeln gleich auf eine Art von „Nationalcharakter“ als bestimmende Geistesverfassung schließen zu können. Was bei einem naiven Blick von Außen auf den anhaltenden Konflikt zwischen der Ukraine und Russland als ehemalige Mitgliedstaaten der Sowjetunion allerdings ohne Zweifel irritieren muss, sind die nationalistisch-faschistoiden, kaum oder nur wenig verschleierten aggressiven Drohgebärden des im öffentlichen Bild mittlerweile unstrittigen Aggressors, die unwillkürlich schlimmste Erinnerungen an die Zeit des europäischen Imperialismus als Basis der Katastrophe des Ersten Weltkrieges wach werden lassen.


Wenn man die kleine Übersichtskarte im Buchumschlag zur erst kürzlich erschienenen, äußerst verdienstvollen Dünndruck-Gesamtausgabe sämtlicher (erhalten gebliebener) Erzählungen des 1940 vom NKWD aufgrund haarsträubender Spionagevorwürfe im Rahmen antijüdischer stalinistischer Säuberungen heimlich ermordeten Schriftstellers und Journalisten Isaak Babel (geboren 1894 in Odessa) aufmerksam betrachtet, bemerkt man auf Anhieb, dass die gesammelten Schauplätze aus dessen bis zu seinem Tod bereits veröffentlichtem umfangreichen erzählerischen Werk im Wesentlichen ein nur wenig erweitertes Gebiet der aktuellen Konfliktzone sowie der Staatsgebiete der beiden derzeitigen Konfliktparteien beschreiben. Auch wenn man bedenkt, dass der NKWD alle bei Babel selbst aufgefundenen unveröffentlichten Aufzeichnungen direkt nach dessen Hinrichtung verbrannte, macht dieses überaus nützliche Zusammentreffen die vorliegende, von Bettina Kaibach und Peter Urban klangvoll und ausdrucksstark übersetzte Ausgabe aus gegenwärtiger Sicht besonders informativ und wertvoll.

Ivan Nikodimyĉ“, sagte er, als er an dem Jäger vorbeikam, „packen Sie das Gerät zusammen, in der Stadt kriegen die Jerusalemer Adelsherren eine Verfassung verpasst. Auf der Rybnaja haben sie den Babelschen Onkel traktiert, bis er hin war.“

Schon die kaum mehr als zehn Seiten lange Titelerzählung „Die Geschichte meines Taubenschlags“, eine erschütternde, aus Sicht des kindlichen Protagonisten erzählte autobiografische Chronologie eines blutigen Pogroms in dessen Heimatstadt Nikolajew im Bezirk Odessa im Jahr 1905, setzt zwei für die beschriebene Geschichtsepoche ausgesprochen bedeutsam scheinende Gegenpole in schrecklichen Kontrast zueinander, die auch den heutigen Betrachter erneut und besonders aufschrecken müssen, weil er hohe Bildung und reiches geistiges Innenleben auf der einen Seite und absolute selbstbezogene Triebhaftigkeit und brutalste Mordlust auf der anderen auch in den Ereignissen der Gegenwart wiederzuerkennen glaubt, einen der schrecklichsten und nachhaltigsten Widersprüche des Zwanzigsten Jahrhunderts, der wenig später auch in den Ereignissen der Schoah immer wieder auf entsetzliche Art Weise zu Tage treten sollte.

Meine Mutter war blass, sie befragte das Schicksal in meinen Augen und sah mich an, wie man ein Krüppelchen ansieht, voll bitterem Bedauern, denn sie allein wusste, wie glücklos unsere Familie war. […] Der unvorschriftsmäßig gekleidete Schutzmann erschreckte meine Mutter mehr als alles andere, seinetwegen ließ sie mich nicht gehen, aber ich stahl mich durch die Höfe auf die Straße und lief zum Vogelmarkt, der sich bei uns hinter dem Bahnhof befand.

Der sehnlichste Herzenswunsch des neunjährigen Erzählers ist schon seit langem ein eigener kleiner Taubenschlag mit drei Taubenpärchen. Da er kurz vor vor der Aufnahmeprüfung zum Gymnasium seiner beschaulichen Heimatstadt steht, verspricht ihm sein Vater für den Fall, dass er in den beiden wesentlichen zu prüfenden Fächern zwei Einsen mit Stern mit nach Hause bringe, einen Rubel und fünfzig Kopeken zur Erfüllung seines Wunsches. Andere Zensuren als Einsen scheinen ohnehin kaum denkbar, da von vierzig neu zu vergebenden Plätzen lediglich zwei für Juden reserviert sind und diesen der ordentliche Zugang zur höheren Bildung auch sonst auf jede erdenkliche Art und Weise systematisch erschwert wird. Die Aussicht aber, dass ihr einziger Sohn das Gymnasium besuchen könnte, stellt für die zu bescheidenem Wohlstand gelangte, assimilierte Familie nicht nur ein wichtiges Sehnsuchtsziel als Zeichen ihres fragilen bürgerlichen Aufstiegs dar, sondern scheint auch das Versprechen zu beinhalten, in Zukunft unauflösbar Teil eines kulturell hoch entwickelten Gemeinwesens zu sein.

Nikolajew/Zeitgenössische Postkarte

Nachdem die Prüfung trotz tadelloser Leistung wegen der beträchtlichen Schmiergeldzahlung eines anderen Vaters an die Prüfungskommission misslungen ist, wird im folgenden Jahr ein zweiter Versuch unternommen, wofür der Vater des jugendlichen Protagonisten keinerlei Kosten scheut und einen Privatlehrer engagiert, der den Jungen nicht nur auf die Prüfung vorbereitet, sondern sogar den gesamten Stoff der ersten Gymnasialklasse mit ihm durchnimmt – letztlich mit Erfolg. Der unbedachte, begeisterte Vater veranstaltet ein großes Fest zu Ehren seines Sohnes.

Außer den Handlungsreisenden kam der alte Liberman zu uns, der mich in der Thora und in Hebräisch unterrichtet hatte. Bei uns nannte man ihn Monsieur Liberman. Er trank mehr bessarabischen Wein als ihm gut tat, die traditionellen Seidenschnürchen krochen ihm unter der roten Weste hervor, und er brachte auf Hebräisch einen Toast auf mich aus. In diesem Toast gratulierte der Alte meinen Eltern und sagte, ich hätte bei der Prüfung alle meine Feinde besiegt, besiegt hätte ich die russischen Jungen mit den dicken Backen und die Söhne unserer groben Geldsäcke. So habe in alter Zeit David, der König von Juda, den Goliath besieht, und ähnlich wie ich über Goliath triumphierte, werde unser Volk Kraft seines Verstandes die Feinde besiegen, die uns umzingelten und auf unser Blut lauerten. Bei diesen Worten begann Monsieur Liberman zu weinen, weinend trank er noch mehr Wein und schrie : „Vivat!“

Mit dem Eintritt ins Gymnasium beginnt eine kurze Zeit hoffnungsvollen Glücks für die Familie des mit dem Autor weitgehend identischen Icherzählers. Erst nach einem Vierteljahr erinnert sich dieser an seinen Vorsatz, endlich die ersehnten Tauben zu kaufen. Die Stadt ist nach Verkündigung des berüchtigten Oktobermanifests von 1905 seit Tagen in revolutionärem Aufruhr. Gegen den ausdrücklichen Willen seiner Eltern stiehlt sich der Junge heimlich davon und erwirbt auf dem Vogelmarkt drei prächtige Taubenpärchen, auf dem Heimweg gerät er jedoch in ein ebenso wahlloses wie spontanes Pogrom, dem sein Onkel Schojl zum Opfer fällt, der ihm kurze Zeit zuvor einen prächtigen Taubenschlag zurechtgezimmert hatte. Der Erzähler selbst entgeht dem Tod, während die frisch erworbenen Tauben, die er unter seiner Jacke versteckt hat, als wehrlose Symbole der Unschuld und des Friedens von einem verkrüppelten Bettler mit brutaler Gewalt totgeschlagen werden.

Ich lag auf der Erde, und die Innereien des zerquetschten Vogels liefen mir die Schläfe hinab. Sie wanden sich meine Wangen entlang, besudelten mich und machten mich blind. Zartes Taubengedärm kroch über meine Stirn, und ich schloss das letzte unverklebte Auge, um die Welt nicht zu sehen, die sich vor mir ausbreitete. […] Eng und schrecklich war meine Welt. Ich schloss die Augen […] und presste mich an die Erde, die beruhigend stumm vor mir lag. Diese zerstampfte Erde glich in nichts unserem Leben und der Erwartung von Prüfungen in unserem Leben. Irgendwo, fern, ritt das Unheil auf einem großen Pferd über sie hinweg, doch der Lärm der Hufe wurde schwächer, verhallte, und Stille, jene bittere Stille, wie sie Kinder im Unglück bisweilen beschleicht, löschte plötzlich die Grenze zwischen meinem Körper und der nirgends hinstrebenden Erde. Die Erde roch nach feuchten Tiefen, nach Grab, nach Blumen. Ich spürte ihren Geruch und begann zu weinen, ohne jede Angst.

Nicht nur in Babels meisterhafter Kurzgeschichte vom Taubenschlag, sondern auch in den meisten anderen seiner hier vollständig auf Deutsch versammelten Erzählungen (darunter der berühmte Zyklus „Die Reiterarmee“ über den russischen Bürgerkrieg und die gescheiterte Usurpation bestimmter Teile Polens), deren prägnante, einprägsame Bilder noch lange in der Imagination des Lesers nachhallen, wird deutlich, dass eine Gesellschaft nur dann fähig ist, sich vollständig in den Dienst des Menschen zu stellen, wenn es ihr gelingt, nachhaltig wirksame Methoden hervorzubringen, mit deren Hilfe sie ihre gegensätzlichen Erscheinungsformen auf solche Art und Weise zu integrieren vermag, dass die Liebe zum Schönen oder ein hoher Bildungsstand nicht nur zwei beliebige Extreme neben ungebremster Gewalt, Diskriminierung und sozialer Gleichgültigkeit bleiben. Die höchste Forderung an ein Gemeinwesen muss somit die Schaffung eines allgemeinen sozialen Klimas sein, welches es seinen Bürgern ermöglicht, auf mögliche unbewusste Herausforderungen nicht mit spontaner Gewalt zu reagieren, sondern positive Antworten zu entwickeln.

Isaak Babel (1894-1940)

Isaak Babel erweist sich in seinen gesammelten Erzählungen nicht nur als einzigartiger literarischer Chronist einer ganzen Region und einer politischen Epoche, sondern auch als unverkennbar eigenständige, unbestechliche moralische Instanz eines universellen Humanismus jenseits aller Ideologien, womit sein Werk weit über seine eng umrissene Entstehungszeit und seinen scheinbar begrenzten Themenkreis hinausweist und als Beispiel allgemein gültiger geistiger und politischer Unabhängigkeit im Angesicht institutioneller Repression weder heute noch in Zukunft jemals an Aktualität verlieren kann. Einer seiner Mörder, der NKWD-Beamte Boris Rodos, antwortete in seinem eigenen Prozess sechzehn Jahre später auf die Frage, ob er je eine Zeile aus dem Werk seines Opfers gelesen habe:

Wozu auch?“

Doch als Babels zweite Frau Antonina Pirozhkova weitere dreißig Jahre später angesichts des offeneren politischen Klimas der Perestroika eine erneute Anfrage nach den verschollenen Aufzeichnungen ihres ermordeten Mannes stellte, erhielt sie persönlichen Besuch von zwei KGB-Agenten. Nicht jedoch, wie sie zunächst argwöhnte, zur Vermeidung einer dokumentierbaren schriftlichen Antwort, sondern zu ihrer äußersten Überraschung als Beileids- und Ehrenbezeugung sowie als offizielle Geste des Bedauerns über den beklagenswerten, unwiederbringlichen Verlust der mittlerweile allerseits als wertvoll angesehenen Manuskripte.

„Mein Taubenschlag“, aus dem Russischen von Peter Urban („Die Reiterarmee“) und Bettina Kaibach (sämtliche andere Erzählungen), erschienen bei Hanser, 863 Seiten, € 39,90

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