Jerusalem

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Donnerstag, 26. März 2015

„Chronik einer fröhlichen Verschwörung“ von Richard Schuberth

Der Mitbegründer beider Dada-Bewegungen und spätere Psychoanalytiker Richard Huelsenbeck behauptete einmal: „Manche Bücher kann man nicht lesen, weil man spürt, dass sie gedruckt worden sind.“ – Sehr viel schlimmer jedoch scheinen jene Bücher, denen man deutlich anmerkt, dass sie gedacht und im Verlauf des Schreibprozesses so vollständig von jeder noch so weitläufigen Ahnung von Lebendigkeit oder sonstigem Bezug zum realen Leben befreit wurden, dass von einer Lektüre von vornherein gründlich abzuraten ist. So hat es tatsächlich nur selten jemals einen Roman über das Literaturgeschäft oder den akademischen Betrieb gegeben, der für einen Außenstehenden im buchstäblichen Sinne überhaupt ansatzweise lesbar war. Eine umso größere Überraschung stellt der glänzend aufgelegte Debütroman „Chronik einer fröhlichen Verschwörung“ des österreichischen Schriftstellers, Kabarettisten und Musikorganisators Richard Schuberth dar, der darin nicht nur mit seiner tiefschürfenden präzisen Kenntnis nahezu der gesamten Ideengeschichte des Zwanzigsten Jahrhunderts verblüfft, sondern Dank seines umfangreichen satirischen Detailwissens über das Literaturgeschäft in Deutschland und Österreich und mit Hilfe seines in höchstem Maße originellen, liebevoll konstruierten Personals den Leser über den bemerkenswerten Umfang von fast 500 Seiten glänzend zu unterhalten versteht.


Der emeritierte misanthropische jüdische Philosophieprofessor Ernst „Ernö“ Katz sitzt im Zug nach Wien und ärgert sich maßlos über eine kleine Randnotiz, die er soeben im Feuilleton-Teil einer Tageszeitung entdeckt hat: ausgrechnet René Mackensen, der inhaltsleer-aufstrebende Jungstar der österreichischen Literaturszene hat soeben öffentlich verkündet, dass er gerade an einem biografischen Roman über die nahezu vergessene jüdische Philosophin und Soziologin Klare Sonnenschein arbeite, einer Überlebende des berüchtigten Konzentrationslagers Mauthausen. Diese aber war bis kurz vor ihrem tragischen Selbstmord vor gut vierzig Jahren Ernst Katz' unvergessene Geliebte gewesen, welcher es aus der erhabenen Perspektive seiner tief pessimistischen Weltsicht nun als doppeltes Sakrileg empfindet, dass ausgerechnet der unbedarfte Schaumschläger und Provokateur Mackensen sich anmaßt, über eine unerreichte Geistesgröße zu schreiben, die der Autor als intellektuelle und menschliche Lichtgestalt zwischen Hannah Arendt, Simone de Beauvoir und Emma Goldman angelegt hat, um am Beginn jedes einzelnen Kapitels auf ausgesprochen geistreiche und überzeugende Art und Weise virtuos aus ihren fiktiven Werken und Briefen zitieren zu können – kleinen literarischen Miniaturen, die objektiv zum Stärksten gehören, was Schuberths Roman zu bieten hat.

Nein, ich nehme nicht zurück, daß du eine Flasche bist, sonst müßte ich auch zurücknehmen, daß du mir als Infusionsflasche vermutlich das Leben gerettet hast. Und dafür sei gedankt – du Flasche.
Klara Sonnenschein an Ernö Katz, 4. April 1967

Während der Fahrt lernt Katz die siebzehnjährige Schulabbrecherin Biggy kennen, deren rotzfreche, unangepasste Art ihn von Anfang an auf durchaus mehrdeutige Weise anzuziehen scheint, da er gerade in ihr wesentliche Charaktereigenschaften sowie die unbestechliche Intelligenz von Klara wiederzuerkennen meint. Gemeinsam verbünden sich die beiden gegen die von Biggys zahlreichen lärmenden Provokationen aufgebrachten Mitreisenden und leeren im Verlauf der weiteren Fahrt unzählige Dosen Bier miteinander. Nur wenige Wochen später zieht das junge Mädchen zu seiner großen Überraschung und nachhaltigen Freude dauerhaft bei ihm ein. Obwohl sich der lebenslange Liebhaber jüngerer Frauen von Anfang an keine erotischen Hoffnungen macht – zumal Biggy einen großen sexuellen Appetit auf arabischstämmige Liebhaber besitzt, die sie gern und oft in die gemeinsame Wohnung mitbringt – , nimmt er die selbst gestellte Aufgabe, aus der jungen Frau eine postfeministische Intellektuelle nach Klaras unerreichtem, im Buch stets präsentem Vorbild zu formen, dankbar an. Ganz nebenbei beginnen die beiden ungleichen Partner einen heimtückischen Plan auszuhecken, um René Mackensen die Arbeit an seinem unstatthaften Roman dauerhaft zu verleiden.

René fand es höchste Zeit zu gehen. Höflichkeitshalber sagte er dem alten Mann, dass er ihm zumindest beim Verständnis der Diss [Klara Sonnenscheins] helfen könne. Katz lachte spöttisch.
Nein, nein, so einfach geht das nicht, mein Lieber. Da müssen Sie zuerst durch Hegels Phänomenologie durch. Sonst verstehen Sie rein gar nichts. Das wäre wie in den ersten Stock einziehen, bevor das Fundament des Hauses gelegt ist. Aber ich schlage Ihnen was vor. Ich gebe Ihnen Hegel-Unterricht. Einmal pro Woche wäre gut. Nur wir beide. Einen Hegel-Lesekreis hab ich mir schon immer gewünscht. Die wenigen, mit denen ich mich über Hegel austauschen konnte, sind leider gestorben.“



Obwohl René sich schließlich als ebenso harmloses wie gutmütiges und im Grunde gar nicht unsympathisches, wenn auch in höchstem Maße selbstverliebtes, unerfahrenes Bürschchen mit gleichfalls nebulösen jüdischen Wurzeln entpuppt, dem der ferngesteuerte Plan zu einem Roman über Klara Sonnenschein lediglich von seinem trickreichen Hamburger Agenten sowie seiner älteren Dauer-Liebhaberin, einer einflussreichen Literaturkritikerin, mehr oder weniger gegen seinen Willen eingeflüstert wurde, beginnen Ernst und Biggy mit diabolischem Genuss und zum großen satirischen Vergnügen des Lesers, ein perfides Spiel mit René Mackensen zu treiben, das den arglosen Jungschriftsteller im Verlauf zahlreicher aberwitziger und zum Teil slapstickreifer Situationen unter anderem in die prekärsten Viertel von Belgrad und Tel-Aviv führt, wo er es mit Tschuschen jeglicher Art, Vergewaltigern, Dealern, Strichern und Dragqueens zu tun bekommt, aber auch immer wieder mit der wandlungsreichen Biggy in den unterschiedlichsten, verwirrendsten Rollen, die schließlich unweigerlich bewirken, dass sich der arme René rettungslos in sie verliebt.

Erst jetzt bemerkte Ernst, dass sie den Wikipedia-Eintrag von Klara Sonnenschein geöffnet hatte. Was sie da mache, fragte er. Er solle herkommen, sagte sie und deutete auf den letzten Absatz, wo geschrieben stand: „Die letzten fünf Monate verbrachte sie bei ihrer Cousine Carine Müller im belgischen Kepis, wo sie sich am 26. Dezember 1967 das Leben nahm.“
Wie kommt das da hin? Ich habe Carine Müller nicht erwähnt.“
Sie habe es reingeschrieben, sagte Biggy. Dann öffnete sie ein belgisches Online-Telefonbuch und gab den Namen Carine Müller und Kepis als Suchbegriffe ein. Im Nu tauchte eine Carine Müller samt Telefonnummer und Wohnadresse (Rue Bruyère 114) auf.
Aber sie ist seit mehr als zehn Jahren tot.“
Ich hab sie aber zum Leben erweckt. Mackensen hat schon zweimal auf ihre Sprachbox gesprochen. Sie hat sich aber noch nicht zurückgemeldet.“

Während es Biggy zunehmend auch selbständig gelingt, ihr libertäres Lebensgefühl mit einem differenzierten intellektuellen Überbau zu überhöhen, was sie dem untröstlichen Ernst mit der Zeit immer mehr entfremdet, sieht es zwischenzeitlich sogar so aus, als würde auch sie ein ernsthaftes emotionales Interesse für René entwickeln und trifft sich mehrmals ohne Wissen ihres Mentors mit dem in seiner Persönlichkeit immer noch unentschiedenen, aber grundsätzlich sympathisch unverschlossenen Jungschriftsteller. Mit der sich auf durchaus überzeugende Weise anbahnenden Beziehung zwischen den beiden wäre für jeden Leser, der die erstarrte akademische Philosophie eher als Selbstzweck, denn als Hilfsmittel zur persönlichen Vervollkommnung begreift, nun bereits eine wunderbare Pointe erreicht, mit der er den Roman nicht ungern beschlossen sähe. Dies allerdings verwehrt uns der Autor mit sarkastischer Freude und jagt uns im turbulenten Finale noch einmal atemlos durch zahlreiche überraschende Handlungsbögen und Theoriemodelle jeglicher Art, die uns am Ende gut unterhalten, aber nicht wenig ratlos zurücklassen.


Richard Schuberth

Die unausgesprochene, angesichts zahlreicher oberflächlicher Phänomene unserer Gegenwart jedoch keinesfalls unberechtigte Frage, ob es für den Menschen wirklich wünschenswert sei, sich in den Besitz einer scheinbar objektiven Wahrheit zu bringen, warum man aus sachlichen Gründen mit einem bestimmten Menschen schlafen sollte, mit einem anderen aber auf gar keinen Fall, oder aber, ob das verstandesmäßige (Ab-)Urteilen im ethischen Sinne nicht möglicherweise eine der größten Krankheiten unserer Zeit ist, die es zu überwinden gilt, bleibt dabei – allerdings nicht zum Schaden des Romans – vollkommen offen. Richard Schuberth ist das große Kunststück gelungen, einen ebenso gehaltvollen wie unterhaltsamen Roman über zwei originelle Außenseiter im Brennpunkt zwischen Literatur, Philosophie und Gesellschaft zu schreiben, dessen beste Pointen beim Leser (zur Irritation seiner Umwelt) zu einem lauten, reinigenden Lachen führen können.

„Chronik einer fröhlichen Verschwörung“, erschienen bei Zsolnay, 479 Seiten, € 22,90

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