Der
Mitbegründer beider Dada-Bewegungen und spätere Psychoanalytiker
Richard Huelsenbeck behauptete einmal: „Manche Bücher kann man
nicht lesen, weil man spürt, dass sie gedruckt worden sind.“ –
Sehr viel schlimmer jedoch scheinen jene Bücher, denen man deutlich
anmerkt, dass sie gedacht und im Verlauf des Schreibprozesses so
vollständig von jeder noch so weitläufigen Ahnung von Lebendigkeit
oder sonstigem Bezug zum realen Leben befreit wurden, dass von einer
Lektüre von vornherein gründlich abzuraten ist. So hat es
tatsächlich nur selten jemals einen Roman über das
Literaturgeschäft oder den akademischen Betrieb gegeben, der für
einen Außenstehenden im buchstäblichen Sinne überhaupt ansatzweise
lesbar war. Eine umso größere Überraschung stellt der glänzend
aufgelegte Debütroman „Chronik einer fröhlichen Verschwörung“
des österreichischen Schriftstellers, Kabarettisten und
Musikorganisators Richard Schuberth dar, der darin nicht nur mit
seiner tiefschürfenden präzisen Kenntnis nahezu der gesamten
Ideengeschichte des Zwanzigsten Jahrhunderts verblüfft, sondern Dank
seines umfangreichen satirischen Detailwissens über das
Literaturgeschäft in Deutschland und Österreich und mit Hilfe
seines in höchstem Maße originellen, liebevoll konstruierten
Personals den Leser über den bemerkenswerten Umfang von fast 500
Seiten glänzend zu unterhalten versteht.
Der
emeritierte misanthropische jüdische Philosophieprofessor Ernst
„Ernö“ Katz sitzt im Zug nach Wien und ärgert sich maßlos über
eine kleine Randnotiz, die er soeben im Feuilleton-Teil einer
Tageszeitung entdeckt hat: ausgrechnet René Mackensen, der
inhaltsleer-aufstrebende Jungstar der österreichischen
Literaturszene hat soeben öffentlich verkündet, dass er gerade an
einem biografischen Roman über die nahezu vergessene jüdische
Philosophin und Soziologin Klare Sonnenschein arbeite, einer
Überlebende des berüchtigten Konzentrationslagers Mauthausen. Diese
aber war bis kurz vor ihrem tragischen Selbstmord vor gut vierzig
Jahren Ernst Katz' unvergessene Geliebte gewesen, welcher es aus der
erhabenen Perspektive seiner tief pessimistischen Weltsicht nun als
doppeltes Sakrileg empfindet, dass ausgerechnet der unbedarfte
Schaumschläger und Provokateur Mackensen sich anmaßt, über eine
unerreichte Geistesgröße zu schreiben, die der Autor als
intellektuelle und menschliche Lichtgestalt zwischen Hannah Arendt,
Simone de Beauvoir und Emma Goldman angelegt hat, um am Beginn jedes
einzelnen Kapitels auf ausgesprochen geistreiche und überzeugende
Art und Weise virtuos aus ihren fiktiven Werken und Briefen zitieren
zu können – kleinen literarischen Miniaturen, die objektiv zum
Stärksten gehören, was Schuberths Roman zu bieten hat.
Nein,
ich nehme nicht zurück, daß du eine Flasche bist, sonst müßte ich
auch zurücknehmen, daß du mir als Infusionsflasche vermutlich das
Leben gerettet hast. Und dafür sei gedankt – du Flasche.
Klara
Sonnenschein an Ernö Katz, 4. April 1967
Während
der Fahrt lernt Katz die siebzehnjährige Schulabbrecherin Biggy
kennen, deren rotzfreche, unangepasste Art ihn von Anfang an auf
durchaus mehrdeutige Weise anzuziehen scheint, da er gerade in ihr
wesentliche Charaktereigenschaften sowie die unbestechliche
Intelligenz von Klara wiederzuerkennen meint. Gemeinsam verbünden
sich die beiden gegen die von Biggys zahlreichen lärmenden
Provokationen aufgebrachten Mitreisenden und leeren im Verlauf der
weiteren Fahrt unzählige Dosen Bier miteinander. Nur wenige Wochen
später zieht das junge Mädchen zu seiner großen Überraschung und
nachhaltigen Freude dauerhaft bei ihm ein. Obwohl sich der
lebenslange Liebhaber jüngerer Frauen von Anfang an keine erotischen
Hoffnungen macht – zumal Biggy einen großen sexuellen Appetit auf
arabischstämmige Liebhaber besitzt, die sie gern und oft in die
gemeinsame Wohnung mitbringt – , nimmt er die selbst gestellte
Aufgabe, aus der jungen Frau eine postfeministische Intellektuelle
nach Klaras unerreichtem, im Buch stets präsentem Vorbild zu formen,
dankbar an. Ganz nebenbei beginnen die beiden ungleichen Partner
einen heimtückischen Plan auszuhecken, um René Mackensen die Arbeit
an seinem unstatthaften Roman dauerhaft zu verleiden.
René
fand es höchste Zeit zu gehen. Höflichkeitshalber sagte er dem
alten Mann, dass er ihm zumindest beim Verständnis der Diss [Klara
Sonnenscheins] helfen könne. Katz lachte spöttisch.
„Nein,
nein, so einfach geht das nicht, mein Lieber. Da müssen Sie zuerst
durch Hegels Phänomenologie durch. Sonst verstehen Sie rein gar
nichts. Das wäre wie in den ersten Stock einziehen, bevor das
Fundament des Hauses gelegt ist. Aber ich schlage Ihnen was vor. Ich
gebe Ihnen Hegel-Unterricht. Einmal pro Woche wäre gut. Nur wir
beide. Einen Hegel-Lesekreis hab ich mir schon immer gewünscht. Die
wenigen, mit denen ich mich über Hegel austauschen konnte, sind
leider gestorben.“
Obwohl
René sich schließlich als ebenso harmloses wie gutmütiges und im
Grunde gar nicht unsympathisches, wenn auch in höchstem Maße
selbstverliebtes, unerfahrenes Bürschchen mit gleichfalls nebulösen
jüdischen Wurzeln entpuppt, dem der ferngesteuerte Plan zu einem
Roman über Klara Sonnenschein lediglich von seinem trickreichen
Hamburger Agenten sowie seiner älteren Dauer-Liebhaberin, einer
einflussreichen Literaturkritikerin, mehr oder weniger gegen seinen
Willen eingeflüstert wurde, beginnen Ernst und Biggy mit
diabolischem Genuss und zum großen satirischen Vergnügen des
Lesers, ein perfides Spiel mit René Mackensen zu treiben, das den
arglosen Jungschriftsteller im Verlauf zahlreicher aberwitziger und
zum Teil slapstickreifer Situationen unter anderem in die prekärsten
Viertel von Belgrad und Tel-Aviv führt, wo er es mit Tschuschen
jeglicher Art, Vergewaltigern, Dealern, Strichern und Dragqueens zu
tun bekommt, aber auch immer wieder mit der wandlungsreichen Biggy in
den unterschiedlichsten, verwirrendsten Rollen, die schließlich
unweigerlich bewirken, dass sich der arme René rettungslos in sie
verliebt.
Erst
jetzt bemerkte Ernst, dass sie den Wikipedia-Eintrag von Klara
Sonnenschein geöffnet hatte. Was sie da mache, fragte er. Er solle
herkommen, sagte sie und deutete auf den letzten Absatz, wo
geschrieben stand: „Die letzten fünf Monate verbrachte sie bei
ihrer Cousine Carine Müller im belgischen Kepis, wo sie sich am 26.
Dezember 1967 das Leben nahm.“
„Wie
kommt das da hin? Ich habe Carine Müller nicht erwähnt.“
Sie
habe es reingeschrieben, sagte Biggy. Dann öffnete sie ein
belgisches Online-Telefonbuch und gab den Namen Carine Müller und
Kepis als Suchbegriffe ein. Im Nu tauchte eine Carine Müller samt
Telefonnummer und Wohnadresse (Rue Bruyère 114) auf.
„Aber
sie ist seit mehr als zehn Jahren tot.“
„Ich
hab sie aber zum Leben erweckt. Mackensen hat schon zweimal auf ihre
Sprachbox gesprochen. Sie hat sich aber noch nicht zurückgemeldet.“
Während
es Biggy zunehmend auch selbständig gelingt, ihr libertäres
Lebensgefühl mit einem differenzierten intellektuellen Überbau zu
überhöhen, was sie dem untröstlichen Ernst mit der Zeit immer mehr
entfremdet, sieht es zwischenzeitlich sogar so aus, als würde auch
sie ein ernsthaftes emotionales Interesse für René entwickeln und
trifft sich mehrmals ohne Wissen ihres Mentors mit dem in seiner
Persönlichkeit immer noch unentschiedenen, aber grundsätzlich
sympathisch unverschlossenen Jungschriftsteller. Mit der sich auf
durchaus überzeugende Weise anbahnenden Beziehung zwischen den
beiden wäre für jeden Leser, der die erstarrte akademische
Philosophie eher als Selbstzweck, denn als Hilfsmittel zur
persönlichen Vervollkommnung begreift, nun bereits eine wunderbare
Pointe erreicht, mit der er den Roman nicht ungern beschlossen sähe.
Dies allerdings verwehrt uns der Autor mit sarkastischer Freude und
jagt uns im turbulenten Finale noch einmal atemlos durch zahlreiche
überraschende Handlungsbögen und Theoriemodelle jeglicher Art, die
uns am Ende gut unterhalten, aber nicht wenig ratlos zurücklassen.
Richard Schuberth |
Die
unausgesprochene, angesichts zahlreicher oberflächlicher Phänomene
unserer Gegenwart jedoch keinesfalls unberechtigte Frage, ob es für
den Menschen wirklich wünschenswert sei, sich in den Besitz einer
scheinbar objektiven Wahrheit zu bringen, warum man aus sachlichen
Gründen mit einem bestimmten Menschen schlafen sollte, mit einem
anderen aber auf gar keinen Fall, oder aber, ob das verstandesmäßige
(Ab-)Urteilen im ethischen Sinne nicht möglicherweise eine der
größten Krankheiten unserer Zeit ist, die es zu überwinden gilt,
bleibt dabei – allerdings nicht zum Schaden des Romans –
vollkommen offen. Richard Schuberth ist das große Kunststück
gelungen, einen ebenso gehaltvollen wie unterhaltsamen Roman über
zwei originelle Außenseiter im Brennpunkt zwischen Literatur,
Philosophie und Gesellschaft zu schreiben, dessen beste Pointen beim
Leser (zur Irritation seiner Umwelt) zu einem lauten, reinigenden
Lachen führen können.
„Chronik einer fröhlichen Verschwörung“, erschienen bei Zsolnay, 479
Seiten, € 22,90
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