Beinahe
noch aufschlussreicher für den Zustand unserer Psyche als die kaum
zu leugnende Tatsache, dass die anhaltende Popularität der beiden
eng miteinander verwandten Genres Fantasy und Horror in unserer
nahezu ausschließlich auf wissenschaftlicher Rationalität
gründenden heutigen Weltsicht offensichtlich einer großen
uneingestandenen und meistenteils unbefriedigt bleiben müssenden
Sehnsucht nach dem Unerklärlichen Rechnung zu tragen scheint, ist
die seltsam mechanische Art und Weise der versuchten Befriedigung
dieses Mangels: die mittels Lektüre einschlägiger Literatur oder
durch den Konsum von entsprechenden Filmen eher intuitiv
herbeigeführte Begegnung mit dem Numinosen bleibt in aller Regel
lediglich im oberflächlichen Schockerlebnis verhaftet und muss daher
in der direkt daraus resultierenden sofortigen Verdrängung münden,
wie sie in der menschlichen Psyche angelegt ist.
Trotz
des schon einigermaßen bewusst wahrgenommenen, möglicherweise
gesunden Impulses zur Vergegenwärtigung des zunächst nur intuitiv
erlebten Mangels wird hier also von vielen Menschen lediglich auf
spielerische, rezeptive Art und Weise gleichsam erneut der natürliche
Weg der Verdrängung simuliert (und auf diese Weise möglicherweise
auch unbewusst legitimiert), wie wir sie nach einem traumatischen
Erlebnis oder auch vom Erwachen aus einem nächtlichen Alptraum
kennen, anstatt aus dieser Begegnung heraus das Wünschenswerte
anzustreben, nämlich Beseitigung des Mangels durch Vergegenwärtigung
des Uneingestandenen und Angstmachenden sowie dessen lebendige
Integration in den Alltag, selbstverständlich auch mit den Mitteln
des menschlichen Verstandes.
Finn
lag auf dem Rücken, der beißende Atmen der Verseuchten Seite wich
aus seiner Lunge. Seine Mutter kauerte neben ihm und hustete, während
Emmie und Steve sie zu beruhigen versuchten. Finn streckte den Arm
aus und berührte die Hand seiner Mutter.
Das
Tor erlosch.
Es
scheint in diesem Zusammenhang durchaus interessant, dass nahezu alle
Filme des zweifellos nicht ohne Berechtigung vornehmlich dem
Horror-Genre zugerechneten erfolgreichen Hollywood-Regisseurs M.
Night Shyamalan (mit Ausnahme seines enigmatischen Durchbruchs „The
Sixth Sense), dessen Charaktere in der Auseinandersetzung mit dem
Unbewussten meistenteils vollkommen individuelle, in hohem Maße
eigenständige Wege heilsamer Integration durch liebende
(Selbst-)Annahme einschlagen, von der Filmkritik wie vom breiterem
Publikum in auffälligem Maße sehr viel weniger angenommen werden
als oberflächliche Schocker, die das Angstbesetzte vollkommen im
Bereich des Unbewussten und des zu verdrängenden Alptraums belassen,
aus dem man am Ende in der scheinbaren Gewissheit „erwacht“, es
sei ja alles wieder gut.
„Es
ist keine Karte. Es ist ein Satz. Nur ein Satz. Und nicht mal in Dads
Handschrift.“
„Wie
lautet er?“, fragte Emmie.
Finn
las ihn laut vor. „Erleuchte das Haus.“
Wer
aber offenen Auges und bewusst auf das unerklärlich Scheinende
zugeht, sollte sich diesem schon allein aus Eigeninteresse auch
stellen, wenn er nicht lediglich seinen vorherrschenden Zustand des
Unbewusst-Seins inszenieren will – das aber wäre ein fundamentales
Paradox, eine grenzenlose Absurdität. Dass weltoffene Konsequenz und
Nachhalt hier jedoch zu außergewöhnlich heilsamen Bildern führen
können, zeigt der spanische Regisseur Juan Antonio Bayona auf
eindrucksvolle Art und Weise in der ebenso großartigen wie
unvergesslichen Schlussszene seines international erfolgreichen
Erstlingsfilms „Das Waisenhaus“ (2007): seine vielfach gebrochene
Protagonistin erlebt im eigenen, selbst herbeigeführten Tod
schließlich eine so umfassende Vereinigung mit den eigenen, zuvor
nur unbewusst in ihr selbst angelegten Lebensthemen, dass der
Zuschauer allein durch die reinigende Kraft dieser Bilder intuitiv
begreift, wie psychische Heilung gelingen kann – ja geradezu selbst
davon geheilt wird und gefühls- wie verstandesmäßig jederzeit zu
diesen Bildern zurückkehren kann.
Vor
diesem komplizierten, aber angesichts des lang anhaltenden Erfolgs
des Fantasy-Genres hartnäckig aufzuzeigenden Hintergrund scheint es
mehr als angemessen zu behaupten, dass die im Februar mit großen
Erwartungen gestartete neue Jugendbuch-Reihe „Darkmouth“ des
irischen Schriftstellers und ehemaligen Standup-Comedians Shane Hegarty trotz ihrer selbstironischen, humoristischen Grundhaltung im
positiven Sinne sehr viel weiter geht als manch anderer „ernsthafter“
und vor allem ernst gemeinter Vertreter dieses Genres: Der geistig
aufgeweckte zwölfjährige Finn, der als zukünftiger letzter
professioneller Bezwinger und Vernichter des hier kurioserweise als
„Legenden“ bezeichneten pittoresken Wirrwarrs aus bekannten
bösartigen Monstern der Mythologien der Welt vom Wolpertinger bis
zum Minotaurus in die Fußstapfen seines berühmten Vaters treten
soll, schreckt vor der ihm zugedachten Aufgabe innerlich zurück.
Und
es ist ja auch eine ganze Weile niemand mehr von einem Monster
gefressen worden.
Im
Grunde sind es gar keine Monster. Sie sehen zwar wie Monster aus, und
die Einheimischen nennen sie oft auch so, aber genau genommen sind es
Legenden. Mythen. Fabeln. Vor langer, langer Zeit haben sie sich
einmal die Erde mit den Menschen geteilt.
Das
wichtigste Kunststück, an dem sich Finn in Hinblick auf seine
demnächst anstehende Prüfung als Legendenjäger seit Monaten
erfolglos abarbeitet, die Verwandlung von Eindringlingen aus der
durchlässigen Gegenwelt, der „Verseuchten Seite“, auf die die
Legenden in alter Zeit verbannt wurden, in kleine, immer noch
belebte, aber gänzlich ungefährliche Kugeln, und zwar mit Hilfe
einer „Exsikkator“ genannten, kompliziert zu handhabenden Waffe,
ist ihm schon diverse Male auf spektakuläre und lebensgefährliche
Art und Weise misslungen. Überhaupt scheint es ihm allzu grausam,
die wenigen Legenden ganz zu vernichten, welche es von Zeit zu Zeit
schaffen, in die reale Welt einzudringen, und er träumt insgeheim
davon, den Ungeheuern auf unbestimmte Art und Weise zu helfen, so wie
seine Mutter in ihrem bürgerlichen Beruf als Tierärztin kranken und
verletzten Tieren hilft wieder gesund zu werden.
„Hör
mal, Finn, sei nicht so hart zu dir. Du hast deine Sache gut gemacht.
Vielleicht warst du hier und da noch nicht ganz so treffsicher, aber
schließlich hast du kein entlaufenes Huhn gejagt. Und eingeschnappt
musst du auch nicht sein. Die meistern Zwölfjährigen würden dafür
sterben, einer Legende nachjagen zu dürfen.“
„Sterben?“,
wiederholte Finn.
„Du
weißt, was ich meine.“
Finns
Vater sah ihm noch einen Moment fest in die Augen, ehe er ihm sanft
gegen den Arm boxte und anschließend die geschrumpften Überreste
des Minotaurus aufhob.
Während
auf der Verseuchten Seite, wie wir als gut unterhaltene Leser
parallel zur Haupthandlung erfahren, der grausame Riese Gantrua als
größenwahnsinniger, selbsternannter Anführer aller Legenden einen
heimtückischen Plan zur konzertierten Invasion der realen Welt
ausheckt, bemerkt Finn, dass seine neue Schulfreundin Emmie ein
verdächtiges Interesse für die umfangreiche, im elterlichen Haus
verborgene, hunderttausende Exemplare zählende Sammlung von
exsikkierte Monster in sich bergenden Kugeln entwickelt. Und was ist
eigentlich mit seinem verschollenen Großvater geschehen, einem
Legendenjäger wie alle seine Vorfahren, dessen Ehrfurcht
gebietendes, irritierendes Porträt in der umfangreichen familiären
Ahnengalerie hängt, und der, wie Finns Vater immer wieder abfällig
betont, „alles im Stich gelassen“ habe, was er eigentlich
schützen sollte.
Aber
Finn rannte nicht. Er hatte für diese Situation trainiert. Er war
für sie geboren. Er wusste, was von ihm erwartet wurde und was er zu
tun hatte. Außerdem würde sein Vater enttäuscht sein, wenn er
jetzt wegrannte. Schon wieder.
Ich
werde da sein, wenn du mich brauchst, hatte Finns Vater heute Morgen
zu ihm gesagt.
Doch
als Finn auf den Knopf seines Funkgeräts seitlich am Helm drückte
und flüsterte: „Dad? Bist du da?“, war die einzige Antwort ein
gleichgültiges statisches Knistern.
Mit
Hilfe der rätselhaften Emmie gelingt es dem Jungen eines
Nachmittags, einen kleinen, in die reale Welt eingedrungenen und von
seinem Vater exsikkierten Hogboon wieder zurückzuverwandeln, ein
gnomartiges, verschrobenes Wesen mit „spindeligen Gliedern“, das
„alles, was ihm an körperlicher Kraft fehlt, durch die Länge
seiner Ohren, die schiefen Zähne, die grüne Haut und seine üblen
Scherze wieder ausglich“. Von diesem im Grunde harmlosen und nicht
wenig originellen Geschöpf erfährt er zu seiner maßlosen
Überraschung, dass ausgerechnet er selbst auf der Verseuchten Seite
als größter, gefährlichster und mächtigster zukünftiger Gegner
gilt, derlaut einer Prophezeiung nur dann bezwungen werden kann, wenn
es den Legenden mit vereinter Kraft gelingt, ihn in die Gegenwelt zu
locken. Obwohl ihm dieses vom kleinen Hogboon lebhaft ausgemalte
Szenario vollkommen unwahrscheinlich erscheint, sieht sich Finn schon
bald hilflos einer Kette von Ereignissen ausgeliefert, die ihn bis an
die Grenze zur Verseuchten Seite führen und ihm am Ende des Buches
eine Entscheidung von kaum absehbarer Tragweite abverlangen.
![]() |
Shane Hegarty |
Mit
dem auch buchkünstlerisch ausgesprochen liebevoll gestalteten
Auftaktband zu seiner auf sechs Bände angelegten Darkmouth-Reihe ist dem Autor ein wunderbar
humorvoller, ausgesprochen unterhaltsamer bunter Reigen aus
wunderbaren Charakteren und spannenden Handlungsfäden gelungen, der
ohne Zweifel viel dankbaren Stoff für den weiteren Verlauf der Serie
zu bieten hat und es dabei ohne weiteres mit herausragenden
Jugendbuch-Klassikern des Fantasy-Genres wie „Artemis Fowl“ von
Eoin Colfer oder Herbie Brennans wunderbarer „Elfenportal-Reihe“
aufnehmen kann. Die spannendste Frage wird sein, ob es Shane Hegarty
auf irgendeine Weise gelingen wird, die Gegenwelt der Legenden in die
reale Welt zu integrieren. „Der Legendenjäger“ als Auftaktband
bietet allerdings genug Anhaltspunkte für die berechtigte Hoffnung,
dass die Darkmouth-Serie letztlich ebenso viel halten könnte, wie
sie schon jetzt zu versprechen scheint.
„Darkmouth– Der Legendenjäger“, aus dem Englischen von Bettina Münch,
erschienen bei Oetinger, 368 Seiten, € 16,99
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