Preis der LiteraTour Nord 2015
Der renommierte Preis der
LiteraTour Nord, einer alljährlich von der VGH-Stiftung mit einem Preisgeld von
15.000 Euro dotierten Auszeichnung, geht in diesem Jahr zum ersten Mal an den Österreicher
Michael Köhlmeier, der seit über dreißig Jahren zu den produktivsten, originellsten
und vielseitigsten Schriftstellern deutscher Sprache zählt.
Er erhält diesen
Preis verdientermaßen für seinen vieldiskutierten
Roman „Zwei Männer am Strand“ über die ungewöhnliche Freundschaft zwischen
Winston Churchill und Charlie Chaplin sowie für die mit seiner Nominierung als
einer der sechs diesjährigen Anwärter verbundene Lesereise durch fünf Städte in
Norddeutschland.
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Michael Köhlmeier/Foto: Franziska Kafka |
Neben seinen zahlreichen Erzählungen und großen Romanen
veröffentlichte der 1949 in Hard am Bodensee geborene Michael Köhlmeier auch zahlreiche
Radio-Hörspiele und trat als Lyriker, Liedtexter und Sänger hervor. Einem großen
Publikum wurde er auch im Rahmen einer Sendereihe des Österreichischen
Rundfunks als Nacherzähler griechischer Mythen sowie der Geschichten der Bibel
bekannt. Nach der Veröffentlichung seines Romans „Kalypso“ (1997), einer freien
Neugestaltung wesentlicher Motive aus Homers „Odyssee“, wurde er im Rahmen des Literarischen Quartetts Ziel einer
bösartigen Kampagne, die seine Rezeption in Deutschland lange Zeit belastete.
Im Rahmen eines langen Gesprächs hatte ich am Rande einer Lesung in Hannover die
wunderbare Gelegenheit, Michael Köhlmeier zu wichtigen Stationen seiner literarischen
Karriere, bedeutenden Themenkreisen innerhalb seines bisherigen Werkes sowie zu
aktuellen Entwicklungen in Politik und Gesellschaft zu befragen. Der Preis der
LiteraTour Nord 2015 wird am 27. April im Rahmen einer öffentlichen Lesung in
den Räumen der VGH-Versicherungsgruppe in Hannover verliehen.
Ein Gespräch mit dem Autor
FH: Herr Köhlmeier, nachdem die
öffentliche Wahrnehmung ihres Werks in Deutschland infolge eines von der
Literaturkritik im Fernsehen mit böswilliger Häme ausgetragenen Eklats um ihren
Roman „Kalypso“ (1997) lange Zeit getrübt geblieben ist, sind sie im Verlauf
der letzten zehn Jahre mit ihren beiden epochalen Romanen „Abendland“ und „Die
Abenteuer des Joel Spazierer“ auch in Deutschland endlich zu einem der am
meisten respektierten und bewunderten zeitgenössischen Schriftsteller deutscher
Sprache geworden. Fühlen Sie angesichts dieser für Sie positiven Entwicklung
eine gewisse Art von persönlicher Genugtuung oder genießen Sie einfach nur die
verdiente Aufmerksamkeit?
MK:
Also ich hab, was ich geschrieben habe, nie mit dem im Zusammenhang gesehen.
Man kriegt gute Kritiken, man kriegt schlechte Kritiken. Ob das die Folge davon war, weiß ich nicht.
Das damals war natürlich ein besonders großer Verriss im Literarischen Quartet.
Sowas gibt’s halt. Aber was solls? Damit muss man rechnen: shit happens! Ich
mein, es hat mich natürlich verletzt und geärgert, maßlos. Ich hab die Hölle
auf all die bösen Menschen heruntergeflucht, aber so ist das halt. Das ist ja
auch schon so lang her, ich kann mich gar nicht mehr richtig daran erinnern. Ob
ich es mit Genugtuung sehe – ich meine ich freu mich natürlich darüber, wenn
mein Werk wahrgenommen wird, aber in Bezug auf den damaligen Auftritt im
Literarischen Quartett hab ich das nie gesehen. Dass es jetzt besser läuft oder
gut läuft, das hab ich nie mit dem im Zusammenhang gesehen.
FH: Welche Rolle spielte bei
dieser erfreulichen Entwicklung der langjährige Verleger des Hanser-Verlags,
Michael Krüger, dem Sie ihren aktuellen Roman ausdrücklich und namentlich
gewidmet haben?
MK:
Eine große Rolle. Irgendwann hab ich den Michael kennengelernt und er hat mich
gefragt, ob ich gerade an was arbeite. Und ich hab gesagt: „Ja an was großem.“
Ich war damals beim Piper-Verlag. Und der Piper Verlag ist ja dann verkauft
worden an die schwedische Bonnier-Gruppe. Und ich fand, dass er von dort weg
eine Entwicklung genommen hat, die mir nicht so gefallen hat. Ich hab das
Gefühl gehabt, ob die jetzt Bücher verkaufen oder Autoreifen ist nicht so der
große Unterschied. Und der Michael Krüger ist einer der ganz großen Verleger, eine
Lichtgestalt im Verlagswesen. Erstens einmal – was ja auch gut ist – er
schreibt ja selber, und da muss man vieles nicht erklären. Und er hat ein
ungeheures Wissen über Literatur. Er hat ein Gespür für die Qualität und gleichzeitig
auch ein Gespür für das, was sich verkauft, ohne Abstriche bei der Qualität
machen zu müssen – er hat immer eine gute Balance gefunden. Für mich waren die beiden
Messlatten an einen Verlag immer die zwei Fragen „Wie hältst du‘s mit der
Lyrik?“ und „Wie hältst du‘s mit dem Essay?“. Beim Piper Verlag wusste ich, die
hätten wahrscheinlich schon einen Lyrikband gemacht. Vielleicht mit
Stirnfalten, aber sicher keinen zweiten. Und Michael Krüger hat sich für Lyrik
immer stark gemacht: Als Tomas Tranströmer 2011 den Nobelpreis gekriegt hat, da
haben die meisten gar nicht gewusst, wer das ist! Da musste Michael Krüger erst
sagen: „So wir drucken ihn wieder, der ist erhältlich, der ist lieferbar!“ Also
der Michael ist ein ganz, ganz, ganz, ganz großer, und das war nicht nur ein
Geschenk zum Abschied aus dem Verlag, dass ich ihm meinen Roman gewidmet habe,
sondern ich wollte ihm einfach mal auf diese Art und Weise dafür danken, was er
für mich getan hat! Er hat mich damals gefragt: „Hast du was?“ Und ich hab
gesagt: „Ja, was ganz großes. Einen großen, sehr umfangreichen Roman.“ - „Wenn du möchtest, dann gib ihn mir, ich würd
das gern machen!“ Und so war das dann…
FH: Also ein regelrechter
Glücksfall?
MK:
Ja, für mich ganz sicher!
FH: Ihr aktueller Roman „Zwei
Herren am Strand“ thematisiert die unwahrscheinliche Freundschaft zweier
ungleicher Männer, die durch ihre außerordentliche Prominenz jeder Leser zu
kennen glaubt: Charlie Chaplin und Winston Churchill. Allgemein weniger bekannt
ist die Tatsache, dass beide Zeit ihres Lebens unter schweren Depressionen
litten und in Adolf Hitler und seinen infamen apokalyptischen
Allmachtsphantasien mit allen ihnen zur Verfügung stehenden Mitteln ein- und
denselben Feind bekämpften. Wie sind Sie auf die in Biographien kaum
thematisierte Freundschaft dieser beiden Ikonen gestoßen und in welchem
Verhältnis haben Sie verifizierbare Fakten um Fiktion ergänzt?
MK:
Churchill hat in seinen Kolumnen manchmal über Chaplin geschrieben, und in
seinen Memoiren kommt er natürlich auch vor, ähnlich wie Churchill in der
Autobiografie von Chaplin. Aber sie kommen in diesen Selbstzeugnissen viel
weniger vor, als sie sich tatsächlich getroffen haben. Es hat eine Zeit gegeben
als Churchill, wie man sagt, „in der Wüste war“: zehn Jahre, in denen er kein
politisches Amt innehatte, aber immerhin Parlamentarier war. Da hat er sich
vorübergehend sogar überlegt, dass er nach Hollywood zieht und Drehbuchautor
wird. Und während dieser Zeit hat er gemeinsam mit Chaplin einen Plot
entwickelt, für einen Film über Napoleon. Und diesen Plot, den sie da gemeinsam
konzipiert haben, kann man bereits als Vorarbeit zum „Großen Diktator“ sehen,
denn auch hier war schon das Doppelgängermotiv vorhanden. Was mich vor allem
interessiert hat: dass die beiden an Depressionen gelitten haben, wenn auch an
Depressionen ganz unterschiedlicher Art.
Natürlich ist die Fiktion auch so, dass diese beiden Männer, die nun
wirklich in gar nichts übereinstimmen –
Churchill oberste Oberschicht, Chaplin unterste Unterschicht, Chaplin ein
Linker, Churchill ein Kommunistenfresser – dass die sich auf der persönlichen
Ebene so gut verstanden haben. Natürlich war es meine Fiktion herauszuarbeiten,
wo ist der Punkt, wo sie sich treffen und wo sie möglicherweise etwas teilen,
das mehr als nur oberflächlich ist. Und ich habe dann für meinen Roman diese
Depression in den Fokus genommen. Churchill war ja wirklich im Laufe seines
ganzen Lebens ständig suizidgefährdet, und die Depression, die bei Chaplin nur
nach Abschluss eines Werkes gekommen ist, war bei Churchill vollkommen
unberechenbar. Nun stellen Sie sich vor, er hätte sich zum Beispiel zur Zeit
des Hitler-Stalin-Pakts das Leben genommen, als er der einzige auf der Welt
war, der Hitler Paroli geboten hat! Es braucht nicht viel Fantasie, um sich
vorzustellen, was ein Propagandist wie Goebbels daraus gemacht hätte, dass „die
Vorsehung wieder einmal“ und so weiter. Also die Vorstellung, dass in diesen
beiden – ich sag das jetzt einmal ganz mythisch – „das Böse“ in Form von Adolf
Hitler seine größten Gegner gefunden hat… Ich glaube, dass Hitler der Gedanke
ausgelacht zu werden, etwas völlig Unerträgliches war. Und ihn zu bekämpfen mit
dem Lachen auf der einen Seite, noch dazu in einer Zeit wo es nichts zu lachen
gab, und ihn auf der anderen Seite militärisch und politisch zu bekämpfen, das
hat etwas regelrecht Funkensprühendes für mich gehabt – diese beiden so
unterschiedlichen Figuren, bei denen ich trotzdem immer eine innere
Verwandtschaft empfunden habe. Und dann man kann es natürlich auch so sehen,
dass der dritte Depressive natürlich Hitler war. Der aber nicht, wie in
Schillers „Bürgschaft“ gefordert hat: „Lasst mich in eurem Bund der Dritte sein!“,
sondern dem die beiden Freunde ihren Beistand natürlich nicht gewährt haben.
Churchill ist über Neunzig geworden, hat also diesem Dämon des Suizids
widerstehen können. Chaplin ist ebenfalls weit über Achtzig geworden. Hitler
nicht. Also eine Konstellation insgesamt, die mir von einer mythischen Sehweise
her als ein unglaublicher Glücksfall erschienen ist.
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Churchill und Chaplin in dessen Atelier (1930) |
FH: In Ihrem vor beinahe zwanzig
Jahren erschienenen Roman „Kalypso“, einer künstlerisch in höchstem Maße
eigenständigen Bearbeitung des homerischen Mythos, ist Ihnen anhand des
Schicksals des irrefahrenden Odysseus möglicherweise die beste und gelungenste
Vergegenwärtigung männlicher Sexualität der gesamten Literaturgeschichte
gelungen: der auf der abgelegenen Insel der Nymphe Kalypso gestrandete und in
einem Netz sexuellen Begehrens gefangene „herrliche Dulder“ erinnert sich des
schönsten sowie des schrecklichsten Moments seines Lebens. Während der schönste
Moment sich ganz klar als Erinnerung an die brüchige famiiäre Idylle definieren
lässt, muss der schrecklichste Moment als Anhäufung von persönlichen
Fehlentscheidungen betrachtet werden, die ihn in die Katastrophe des Trojanischen
Krieges und in die zehnjährige Irre führen. Odysseus bewegt sich zwischen den
Impulsen der Lust, der Schönheit und der Zerstörung. Ist dieses Männerbild auch
heute noch aktuell?
MK:
Ich glaube schon, ja. Wenn ich jetzt erstmal absehe von meinem Roman,
unterscheidet sich die „Odyssee“ ganz gewaltig von der „Ilias“. Die „Ilias“ ist
ja im neunzehnten Jahrhundert bis noch in die erste Hälfte des zwanzigsten
Jahrhunderts hinein als DAS große Werk gesehen worden. Damals hat man gesagt,
die Odyssee ist zusammengeschustert, die ist zweitklassig. Das sieht man heute
nicht mehr so, uns ist sie heute viel näher, und ich glaube, dass Homer in der
Odysse durch die Figur des Odysseus eine Männergestalt geschaffen hat, an der
man sich immer noch misst. Eine Männergestalt, die natürlich auch aus
Illusionen konstruiert ist: der Illusion des Kämpfers oder der des Helden. Und
in allen seinen Illusionen ist Odysseus ein Gebrochener. Er hat unglaubliche
Sehnsucht nach seiner Frau, und trotzdem ist er gleichzeitig von Obsessionen
gegenüber anderen Frauen gepackt: die Irrfarten dauern zehn Jahre – sieben
davon ist er bei Kalypso, zwei Jahre bei Kirke, die eigentliche Irrfahrt dauert
also nicht mehr als ein Jahr! Gleichzeitig ist Odysseus aber auch – und das ist
eines der wunderbarsten Zeichen seiner Zerrissenheit – der treueste Ehemann,
den man sich vorstellen kann. Ich will jetzt nicht weiter ausholen, Sie müssen
mich dann gleich bremsen. Ich sag ihnen nur einen Satz dazu – oder schweife ich
zu weit ab?
FH: Nein, ganz im Gegenteil: Sie
kommen zum Kern!
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Odysseus-Mosaik/Nationalmuseum von Bardo, Tunesien |
MK:
Dann also eine Überlegung nur, denn ein Satz ist sicher zu wenig. Also eine
Überlegung: Wir alle wissen nicht was nach dem Tod ist – das wissen wir
effektiv nicht. Odysseus aber weiß es. Als er bei Kalypso ist, weiß er es!
Kalypso ist die Endstation seiner Irrfahrt. Er war ja in der Unterwelt und ist
dort dem Geist des Achill begegnet. Achill sagt ihm: „Ich wär lieber der ärmste
Knecht des ärmsten Bauern und würde das steinigste Feld pflügen als hier unten
der König der Schatten zu sein.“ Also es ist furchtbar dort! Es ist furchtbar
langweilig, und es gibt nichts, worauf man sich freuen kann, so wie sich die
Christen aufs Jenseits freuen, sondern es ist schrecklich! Und nun macht die
Kalypso dem Odysseus, der im Gegensatz zu uns weiß, wie es nach dem Tod ist,
den Vorschlag: „Ich mach dich unsterblich, bei ewiger Jugend und ewiger
Manneskraft, wenn du bei mir bleibst.“ Und das ist immer vergessen worden in
der Beurteilung der Odyssee, ich finde, das ist das Zentrale: die Odyssee ist
meines Erachtens ist erster Linie ein Eheroman. Odysseus hat seine Frau am Ende
seiner Irrfahrten seit zwanzig Jahren nicht mehr gesehen. Er weiß erstens
einmal gar nicht, ob sie noch lebt. Er weiß natürlich nicht, ob sie ihn
überhaupt noch liebt oder ob sie nicht längst einen Anderen genommen hat. Wir allein
wissen, dass hundert Freier da sind. Er weiß nicht, ob sie ihm noch gefällt, ob
er sie überhaupt noch haben will, und er weiß vor allen Dingen nicht, wenn er
sich jetzt wieder aufs Meer begibt, ob er dort jemals ankommt. Aber für den
winzig kleinen, eingeschränktesten Hoffnungsschimmer, er könnte sie a)
überhaupt noch wiedertreffen, b) sie lebt noch, c) sie liebt ihn und d) er
liebt sie – für diesen winzigen
Hoffnungsschimmer gibt er dieses ewige Leben bei ewiger Manneskraft auf.
Wissend, wie es nach dem Tod sein wird! Also da soll mir einer erzählen, was
auch immer diese Odyssee ist – diese Odyssee ist ein ganz großer Liebesroman
zwischen zwei Eheleuten! Natürlich kein unproblematischer Liebesroman, in
keiner Hinsicht ein unproblematischer Liebesroman. Und es ist auch ein
Vaterroman – das ist also ein Stoff, für den ich Homer nie aufhören könnte zu
preisen, für diese unglaubliche und für uns so aktuelle Männerfigur, bei der
man sich denkt, er ist einfach nicht geschaffen für die Ehe, aber welcher Mann
ist das schon? Ein Mann, den es regelrecht zerreisst: Wir können auch annehmen,
wenn er dann zu Hause ist, wird er wahrscheinlich wieder nicht treu sein – er
kann es einfach nicht! Und trotzdem ist
er der Treueste der Treuen, den man sich vorstellen kann – etwas Wunderbareres
ist über ein Ehepaar nie geschrieben und in die Seele eines Mannes ist nie
tiefer geblickt worden als in diesem Roman. Auch andere Dinge – und das ist das
letzte, was ich darüber sagen will, denn es ist etwas, wo meine Begeisterung
einfach mit mir durchgeht, und ich muss unbedingt loswerden, wie schön das ist.
Die Ilias ist ein Epos. Aber die Odysse ist auch ein Roman und vor allem ein so
unglaublich raffiniert gebauter Roman! Also zum Beispiel, dass Homer die ganzen
Irrfahrten von Odysseus in Ichform erzählen lässt. Homer bedeutet dem Leser
also gewissermaßen: „Hallo! Hat man sowas schon gehört? Ein einäugiger Riese? Hier
übernehm ich für den Wahrheitsgehalt keine Verantwortung!“ Allein also diese
Binnengeschichten. Und in den ersten vier Gesängen ist Osysseus nur ganz am
Anfang kurz bei Kalypso, und dann am Schluss noch ganz kurz, als der Hermes schließlich
kommt und sagt: „Lass ihn gehen!“ Ansonsten ist er gar nicht präsent, sondern
es spielt in Ithaka, am Hof. Die Penelope ist da mit den hundert Freiern und
natürlich der Sohn Telemach. Telemach hat seinen Vater nie gesehen, aber Odysseus
ist in seiner Abwesenheit anwesender als er jemals sein könnte, wenn er
wirklich da wäre. Das ist etwas, was jedes Nachkriegskind nachvollziehen kann.
Und Telemach hat so ein unglaubliches Bild von seinem Vater, das der reale
Vater nie einlösen könnte. Umgekehrt hat auch Odysseus in seiner Sehnsucht nach
Telemach ein unglaubliches Bild von seinem Sohn – denn er hat ihn verlassen,
als er noch ein Säugling war –, das auch der Sohn nie einlösen kann. Und dann
kommt es schließlich zum Treffen zwischen Odysseus und Telemach. Eumaios sagt:
„Das ist dein Sohn!“ Ein schlechterer Autor als Homer hätte jetzt die großen
Hollywoodgeigen ausgepackt: Jetzt endlich ist der Showdown, die beiden kommen
zusammen, Vater und Sohn! Nicht aber der kluge, menschenkennende Homer – dieses
Zusammentreffen ist etwas vom Nüchternsten, das man sich vorstellen kann. Und
es ist ganz klar: jetzt, in wenigen Augenblicken, kracht dem Telemach sein
ganzes Gebäude der Sehweise des Vaters zusammen, das nur aus Illusionen
bestanden hat, und er ist seinem realen Vater gegenüber fremd und umgekehrt
genauso. Und in welcher Kargheit und Nürchternheit Homer das beschreibt, das
ist so vorbildlich! Nur um ihnen meine Begeisterung, die nie erschöpft sein
wird, mitzuteilen… Natürlich hat mich das gereizt, in meinem eigenen Roman
Odysseus‘ Zerrissenheit zu zeigen! Denn er ist ja alles andere als
unproplematisch: erstens einmal, wenn sie sich umarmen, Penelope und er, steht
er knöcheltief im Blut der Freier! Also dieses Zusammentreffen der beiden
Eheleute kommt erst aufgrund eines Massenmords zustande – er ist so gebrochen,
man kann es sich nicht schönreden, indem man sagt: „Jetzt bist du endlich ein
guter geworden!“ Das ist es nicht, es ist unglaublich toll, es ist vorbildlich!
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Angelica Kauffmann (1741-1807): Kalypso u. Odysseus |
FH: Ihr Roman hat mich über viele
Jahre begleitet…
MK:
Wie schön, das hier von Ihnen zu hören! Denn es hat mich natürlich verletzt
damals, als er so niedergemacht wurde, aber ich bin nicht zerbrochen daran. Ich
dachte schon, dass er groß ist, aber ich muss natürlich schon dazusagen, ich
hab einen dritten geplant, über Penelope. Den hab ich nicht weitergeschrieben,
bis jetzt nicht…
FH: Das hat mich regelrecht
enttäuscht damals, dass er nicht kam..
MK:
Das war sicher die Folge davon, aber ich hab‘s noch nicht aufgegeben, und wenn
Sie mir das so sagen, so freundlich, dann animiert mich das! Ich hatte damals
schon fast an die zweihundert Seiten geschrieben. Also vielleicht mach ich den
dritten Roman, dann kommen die beiden anderen wieder zum Vorschein!
FH: Saftige sexuelle
Darstellungen sind heute, kaum zwanzig Jahre später, keinen Skandal mehr wert,
selbst ausgefallenste sexuelle Praktiken werden allenfalls noch als wild-bunte,
wohlkalkulierte Tabubrüche ohne jede literarische Bedeutungsebene wahrgenommen
und bleiben somit lediglich Ausdruck einer sich weltläufig gebenden Normalität
aus Indifferenz und distanzierter Langeweile. Die antiquierte Literaturkritik
des Zwanzigsten Jahrhunderts, die sich als ästhetisches Weltgericht inszeniert,
gibt es ebenfalls nicht mehr. Ist das aus Ihrer Perspektive eine Chance für die
Literatur oder das Gegenteil davon?
MK:
Ich finde, es ist eine Chance für die Literatur! Das schlimmste war, dass
Autoren damals aufgrund des Literarischen Quartetts begonnen haben, sich selber
eine Schere im Kopf einzurichten. Aber man kann sich doch nicht beim Schreiben
eines Romans schon vorwegnehmend einer Gerichtsbarkeit aussetzen – das ist unmöglich! Aber man konnte fast gar
nichts dagegen tun, es war schwierig, das mit anzusehen. Und ich weiß, damals
im Quartett, um wieder darauf zurückzukommen, hat sich Marcel Reich-Ranicki ja
hauptsächlich auf das Kapitel „Ficken“ bezogen. Dabei fand ich es eigentlich
vollkommen offensichtlich: Dieser Mann, Odysseus, geht körperlich unversehrt durch
den Krieg, aber natürlich nicht seelisch unversehrt. Und wenn Odysseus so etwas
wie eine organische Verbindung zwischen Sexualität, Sehnsucht, Erotik und Liebe
abreissen lassen muss, dann ist das ja wie ein Seelentod – und darauf wollte
ich eingehen. Es ist ja nicht so, dass man sich daran aufgeilt, wenn man ein
Kapitel so nennt, in dem dieses eine Wort dann auch noch meines Erachtens schon
fast zu demonstrativ immer wieder vorkommt. Wenn man Sexualität ohne Liebe
betreibt, dann ist das wie in einer Mühle. Dann ist es immer das ewig Gleiche,
das immer gleich wiederkehrt, das immer gleich wiederkehrt, das immer gleich
wiederkehrt. Und die Variationen der Sexualität und damit das Weite, das
Schöne, das Glänzende kommen erst zustande durch die Liebe! Wenn ich aber die
Liebe davon abstrahiere, dann bin ich im Hamsterrad des ewig Gleichen, und das allein
wollte ich zeigen! Ich hab nicht gedacht, dass das so schwierig ist zu
begreifen – ich habe sogar zeitweise geglaubt, es sei zu offensichtlich! Und
ich hab niemals gedacht, dass man das so verfälscht sehen könnte – ich war
regelrecht außer mir, dass er das so hinstellt! Aber mir ist dann auch im
Nachhinein berichtet worden, dass Marcel Reich-Ranicki die Bücher anscheinend gar
nicht mehr gelesen hat. Er hat ausschließlich dieses Kapitel gelesen, und
daraus hat er geschlossen, im ganzen Roman gehe es auch auf der sprachlichen
Ebene nur ums Ficken. So ein Quatsch! Aber das sind Dinge, da wollen wir nicht
allzu sehr drüber reden – es ist jedenfalls gut, dass diese Art von
Richterstuhlkritik weg ist, das ist wirklich gut. Es gibt tolle Kritiken, und
es ist ja auch wichtig, dass es die Literaturkritik gibt, aber so ein geballter
Gerichtshof, das hat immer irgendwie auch etwas Gespenstisches. Das ist
gespenstisch und grauslig…
FH: Sie meinen, es wird im Grunde
keinem Werk wirklich gerecht?
MK:
Nein, es wird keinem Werk gerecht, weder im Positiven noch im Negativen. Es
macht lediglich eine Show daraus, und es hat gleichzeitig etwas von der Willkür
eines Gerichtshofes. Aber die Verlage waren damals ganz verrückt nach dieser
Sendung. Sie haben gesagt: „Wir müssen schauen, dass wir ins Literarische
Quartett kommen – unbedingt!“ – Und man hat alles nur noch auf die Frage
ausgerichtet: „Ist es im Literarischen Quartett oder nicht?“ – Wenn nicht, dann
kann man schon von vornherein sagen, na gut, in diesem Herbst oder in diesem
Frühling gehört es unter ferner liefen! Aber so kann man doch Literatur nicht
betrachten, das geht doch nicht!
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Janice Biala (1903-2000): Porträt eines Kritikers |
FH: Ihre früheren Werke
erscheinen derzeit sukzessive bei dtv als Taschenbuchausgaben.Wird das bei
„Kalypso“ und dem thematisch dazugehörigen Roman „Telemach“ mittelfristig auch
der Fall sein? Ist dies von Ihnen gewünscht?
MK:
Michael Krüger hat mir damals gesagt: „Du kannst alles im Taschenbuch machen,
was du willst! Machen wir es doch langsam.“ Aber ich hab mir damals noch
gedacht, wenn ich die beiden Romane nun als Taschenbücher herausgebe, dann wär
es für mich so gewesen wie die wirkliche Kapitulation. Das klingt jetzt zwar
widersinnig, ist es aber nicht, denn ich hab mir gedacht, dass ich mir diese
Option auf jeden Fall aufrecht erhalten will: dass irgendwann doch noch der
dritte Band kommt. Und Sie glauben gar nicht, wie sehr sie mich gerade dazu
animieren! Das ist wirklich wahr, weil ich schon lange nicht mehr mit jemandem
über diese Romane gesprochen habe! Und ich hab mir damals gedacht, wenn der
dritte Band kommt, dann wär es schön, wenn sie alle drei nochmal da sind, in
welcher Form auch immer. Wenn überhaupt, dann sollten sie gemeinsam erscheinen,
sie gehören ja schließlich engstens zusammen. Es muss ja nicht alles in einem
Band sein, aber wie auch immer, also aufgegeben hab ich das nicht…
FH: Sie haben in allen ihren
Werken sowie auch in ihren Nacherzählungen mythischer Stoffe das Erzählen immer
als unabhängigen Wert an sich betrachtet. Gleichzeitig beziehen Sie in vielen
ihrer Texte unmissverständlich Stellung, etwa in ihrem neuesten Band „Drei
Depeschen gegen den Krieg“, der in exemplarischer Kürze brandmarkt, wie
nachhaltig und unwiderruflich institutionelle kollektive Gewalt die
Lebensentwürfe des Einzelnen zerstört. Ist es für Sie vorstellbar, dass eine
„gute Geschichte“ aus psychologischen, politischen oder weltanschaulichen
Gründen unerzählt bleiben muss, oder ist dies durch die variable künstlerische
Gestaltungskraft und individuelle Formbarkeit des jeweiligen Stoffes gänzlich
undenkbar?
MK:
Also dass eine Geschichte aus ideologischen Gründen nicht erzählt werden kann?
Ich glaubs nicht. Auch bei diesen drei ganz kurzen Texten handelt es sich
letztlich um Erzählungen, und ich kann vielleicht auch nichts anderes. Ich habe
auch immer ein etwas schales Gefühl, wenn ich mich etwa mit einem
Zeitungsartikel hier und da in Österreich in die Politik einmische. Aber da
sehe ich mich auch gar nicht so sehr als Schriftsteller, sondern vor allem als
Bürger. Also wenn beispielsweise jemand von der FPÖ öffentlich behauptet:
„Die EU hat viel mehr Vorschriften als
das Dritte Reich, und die EU läuft Gefahr, ein Neger-Konglomerat zu werden!“ –
In Deutschland wär so einer doch weg, bevor er ausgeatmet hätte! In Österreich
ist das nicht so, und da find ich, das kann man nicht dulden, und da muss man
was sagen, und in so einem Fall tu ich das auch. Ich hab ja das Privileg, dass
ich an eine Zeitung herantreten kann, ich möchte einen Artikel schreiben, und
die werden das auf jeden Fall drucken. Aber in diesen drei Erzählungen zum
Beispiel ist natürlich eine unverkennbare Tendenz gegen den Krieg deutlich
vorhanden. Da kann man natürlich sagen, das ist ideologisch. Aber in
Wirklichkeit sind es drei Erzählungen. Ich finde, das Erzählen ist ein Wert für
sich, und es kann auch andere Werte mitnehmen. Aber das muss es meiner Ansicht
nach nicht zwangsläufig, und es soll vor allem nicht spürbar darauf angelegt
sein. Aber von vornherein zu sagen, jede Moral muss ausgehalten werden – das
find ich nicht richtig. Umgekehrt zu behaupten, allein die Moral der Geschichte
sei wichtig, widerstrebt mir genauso. Friedrich Nietzsche hat, glaube ich,
gesagt, dass wir Gott gleich werden, wenn wir erzählen, weil wir in der
Möglichkeitsform eine Welt erschaffen. Und ich habe gestern nach der Lesung in
Lüneburg mit dem Publikum sehr lange und angeregt über den Konjunktiv
diskutiert – also wenn ich es ganz darwinistisch sehe: Was für ein
Lebensvorteil ist es doch, dass wir in der Möglichkeitsform denken können! Es
ist ja eigentlich vollkommen irre, dass wir das überhaupt können: sich etwas
anderes vorzustellen als das, was ist! Und das kann man nicht nur als L‘arte pour l‘arte sehen – ich glaube,
wir könnten gar nicht als denkende Wesen existieren, wenn wir diese besondere
Fähigkeit nicht hätten, dass wir in irgendeiner Weise antizipieren. Um aber auf
Ihre Frage zurückzukommen: Zur Zeit der literarischen Avantgarde, die ja in
Österreich viel stärker ausgeprägt war als in Deutschland und in den siebziger
Jahren bis in die Achtziger hinein dort auch viel rigider gehandhabt wurde, da
kusierte das ungeschriebene Gesetz „Man kann nicht mehr erzählen“. Das war völlig
klar, und als ich anfing zu schreiben und dann nach Wien kam und dort mit
vielen maßgeblichen Literaten zu tun hatte, da dachte ich mir, um Gottes
willen! Ich will nichts anderes, und ich kann nichts anderes! Und zur gleichen
Zeit in Amerika oder in England hätte man ja gar nicht gewusst, was das
überhaupt soll: nicht mehr erzählen? Und eigentlich eigenartig: gerade nach dem
Krieg, wo so viel verdrängt worden ist, wo man eigentlich gerade hätte erzählen
müssen, und wo in Deutschland ja auch erzählt worden ist, hat man in Österreich
gesagt: „Nein Erzählen – das hat was Autoritäres!“ – Das ist etwas ganz
Merkwürdiges, denn heute würde sich kein Mensch mehr Sorgen machen, ob das
Erzählen erlaubt ist oder nicht. Ich finde sogar, es ist eine der vornehmsten
menschlichen Tätigkeiten!
FH: Ich hab vor ein paar Jahren
mit Arik Brauer über dieses Thema gesprochen. Der hat etwas ganz Ähnliches über
die bildende Kunst gesagt. Wie schwer es die jungen Künstler lange Zeit hatten,
die gegenständlich malen wollten.
MK:
Ja, unser Sohn ist Maler! Und er ist ein gegenständlicher Maler. Zwar waren die
Leute, mit denen er studiert hat, alle gegenständlich, aber ich weiß, was in
Wien lange Zeit für ein regelrechter Terror von den Abstrakten ausgeübt worden
ist: in ihren Augen warst du ein heillos Konservativer, wenn du gegenständlich
gemalt hast. Und Arik Brauer war natürlich immer gegenständlich. Nichts gegen
abstrakte Kunst, gar nichts! Aber daraus eine Doktrin abzuleiten, das tun immer
kunstferne Leute, also die Kritiker sagen, das Erzählen ist am Ende. Aber man
darf sich solchen Gerichtshöfen nicht ausliefern – das ist unmöglich, das ist
das Ende der Kunst, das wird das Ende der Kunst!
FH: „Zwei Herren am Strand“ ist
auch, wie „Abendland“ oder „Die Abenteuer des Joel Spazierer“, ein Versuch,
anhand der individuellen Wege und Irrwege der einzelnen Protagonisten eine
exemplarische Geschichte der kollektiven Umwälzungen des Zwanzigsten
Jahrhunderts zu erzählen, in dem das persönliche Lebensglück des Einzelnen immer
wieder von den Auswirkungen machtpolitischer Entscheidungen und
gesellschaftspolitischer Ideen beeinflusst, wenn nicht sogar unmöglich gemacht
wird. Die Erfahrungen des Zwanzigsten Jahrhunderts, die eine scheinbare
Befreiung von den herrschenden Ideologien zur Folge hatten, drohen den
Einzelnen im materiellen und geistigen Luxus des westlichen Kulturkreises nun
in eine neue Abhängigkeit zu treiben, in Unbewussheit und Abgrenzung sowie in
sich gegeneinander absolut feindlich gesinnte Subkulturen. Die Pegida-Bewegung
in Deutschland kann als Ausdruck einer kollektive Ausmaße annehmeden
krankhaften individuellen Verweigerung gegenüber der Realität und gegenüber den
globalen Auswirkungen eigenen Handelns interpretiert werden. Wie könnte ein
literarischer Ausweg aus dieser großen geistigen Krise aussehen?
MK:
Ich weiß nicht, ob da die Literatur nicht überfordert ist. Überfordert ist
vielleicht der falsche Ausdruck, weil das würde ja implizieren, dass man so
etwas von ihr überhaupt fordern kann. Es ist vielleicht die falsche
Fragestellung, oder die Frage ist an die falsche Adresse gerichtet, weil die
Literatur kann das natürlich beschreiben, aber ich weiß gar nicht, was ich
darauf antworten soll. Wir sind alle sehr überrascht, wie schnell Sachen
eintreten, mit denen man nicht gerechnet hat, und man ist ja schon fast nach
dem Zwanzigsten Jahrhundert darauf gefasst, alles mit dem man rechnet, beiseite
zu schieben und zu sagen: „Es kommt ja sowieso anders!“ – Es ist gut, was Sie
da gesagt haben, diese Individualisierung, die gleichzeitig zu so einer
Orientierungslosigkeit wird. Wie andererseits aber auch eine Ideologie nichts
mehr anbieten kann, aber vielleicht will man das auch nicht mehr. Ich schwanke
da selber manchmal hin und her und denke mir, vielleicht wär es gut, eine über
mein persönliches Gewissen hinausreichende „Richtlinie“ als wertneutrale
Umschreibung für Ideologie oder Religion zu haben. Vielleicht wär das gut! Oder
vielleicht wär das gar nicht möglich heute, weil wir ja zur Zeit so tun – vor
allen Dingen der Westen tut so –, als ob der Mensch nur ein Individuum wäre und
kein Kollektiv. Was natürlich gefährlich ist, weil die Lust einem Kollektiv
anzugehören ist von Natur aus sehr groß, und die ist nicht von vornherein was
Schlechtes, und wenn man das alles wegräumt oder sogar verbietet – nicht
verbietet im Sinne eines ausgesprochenen Verbotes, sondern mit einem inneren
Hinweis darauf, wohin Kollektivierung im Verlaufe des Zwanzigsten Jahrhunderts
geführt hat, also zum Faschismus oder zum Kommunismus –, dann unterdrückt man
einen natürlichen Impuls, denn irgendwie haben wir einen inneren Drang zu etwas
Überindividuellem. Vielleicht ist das Wort überindividuell schon falsch, weil
es heisst, es ist übergeordnet. Vielleicht ist das der Irrtum! Ich denk jetzt
einfach mal laut, vielleicht ist das der wesentliche Irrtum, der uns zu Recht
Angst macht: dass wir sagen, es gibt etwas, das über dem Individuum anzusiedeln
ist. Die Trennung zwischen Individuum und Kollektiv ist doch eine rein
analytische, in Wirklichkeit sind wir in einem beides und es gibt nicht
Übergeordnetes! Aber ich glaube, auf die Dauer halten wir es nicht aus, uns nur
als Individuen zu fühlen. Und dann sucht man nach einer Zugehörigkeit, und wenn
einem keine geboten wird, versucht man halt die Zugehörigkeit dadurch zu
behaupten, indem man erstmal definiert, wozu man nicht gehört. Also wenn ich
nicht positiv zu äußern vermag, wozu ich gehöre, dann grenze ich mein Terrain halt
ein, indem ich sage: „Dazu gehör ich nicht!“ – Und die Pegida-Bewegung tut nichts
anderes! Auch diese Verwunderung, dass dieses Phänomen ausgerechnet in Dresden
so ausgeprägt ist, wo ja meines Wissens nur zwei Prozent der Bevölkerung
Muslime sind, ist meiner Ansicht nach falsch: Die reagieren ja nicht – es ist
ja nicht ihre Reaktion auf soundsoviel, sondern in Wirklichkeit ist es eine Art
Identitätssuche: „Wer bin ich?“ – Oder wenn ich das nicht beantworten kann,
stell ich die Frage anders: „Wer bin ich nicht?“ – Dann ist es ja vollkommen
egal, ob das zwei Prozent oder zwanzig Prozent sind: „Ich bin auf jeden Fall
kein Moslem!“ – Dann hab ich das schon mal geklärt und bin vermeintlicherweise
schon einen Schritt weiter und so verfahre ich Stück für Stück weiter mit
dieser negativen Selbstdefinition durch Abgrenzung. Was mir in diesem Zusammenhang
auch überhaupt nicht gefällt, ist dieses neue unausgesprochene Paradigma, man
müsse auf die Ängste der Leute eingehen. Das halte ich für vollkommen falsch,
denn ich glaube nicht, dass die Angst haben – das glaub ich einfach nicht! Aber
wir sind zu so einer Kultur geworden, dass wir sagen, die Angst ist
gleichzusetzen mit einer Art menschlicher Würde, und es ist ganz, ganz
verwerflich, sich über jemanden lustig zu machen, der Angst hat. Das ist wie
sich über jemanden lustig zu machen, der religiös ist. Man kann sich zwar über
einen Atheisten lustig machen – denn der Atheist kann nie sagen, er ist
verletzt in seinen Gefühlen, nicht einmal wenn jemand sagt, die ganze Erde, das
ganze Universum sei nur sechtausend Jahre alt, wie es die Evangelikalen sagen.
Da könnte ich doch als Naturwissenschaftler auch sagen, ich bin tief beleidigt!
Doch das kann ich effektiv nicht einklagen, aber wenn einer sagt: „Der liebe
Gott!“, dann kann man es jederzeit einklagen. Diese angebliche Angst ist eine
Ersatzreligion geworden – ich darf mich unter gar keinen Umständen lustig
machen über jemanden, der Angst hat! Den muss ich zutiefst ernst nehmen! Wenn
ich also ernst genommen werden will oder Aufmerksamkeit erzeugen will, dann
sage ich einfach, ich habe Angst, und dann kommt ein Politiker und sagt:
„Jawohl, wir müssen die Ängste der Leute ernst nehmen!“ – Ich glaube nicht,
dass von diesen Pegida-Leuten irgendjemand wirklich vor Moslems Angst hat.
Sogar jetzt, nach diesen furchtbaren Ereignissen in Paris glaub ich‘s eigentlich
nicht.
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"Pegida"-Demo in Dresden/Foto: Kalispera Dell |
FH: Vielleicht ist es auch so ein
Impuls „Ich möchte, dass es so bleibt wie es immer war, dass meine Welt so
bleibt, wie sie immer war.
MK:
Ja, klar. Aber da kommt jetzt noch etwas dazu: „Ich möchte, dass meine Welt so
bleibt, wie sie immer war, aber ich weiß im Kern nicht, was meine Welt ist!“ –
Und dieses „Ich möchte, dass die Welt so bleibt, wie sie immer war!“ wird zu
einer leeren Hülle, die ich nicht mehr auffüllen kann. Denn wenn ich sie
auffüllen könnte, dann könnte man ja entgegnen: „Na gut, dann leb halt so, wie
du immer gelebt hast! Das stört hier niemanden, wenn du so lebst!“ – Wenn ich
so wie immer leben möchte, aber vergessen habe, wie ich immer war dann, muss
ich zuerst einmal definieren, wer ich bin und wenn ich das nicht kann, definier
ich zuerst einmal wer ich nicht bin, und diese Phase der negativen
Identitätsdefinition ist genau das, was gerade dort abläuft. Es ist natürlich
immer super, einen Sündenbock zu haben, aber darum geht es den Leuten nicht.
Sie wissen einfach nicht, wo sie sind! Und dass das hauptsächlich in den neuen
Bundesländern geschieht ist auch kein
großes Wunder, weil die sind von einer Staatsideologie weggesprengt worden. Die
haben zwar vielleicht überhaupt nie ein biligendes Verhältnis zu dieser
Staatsideologie gehabt und waren keine Kommunisten, aber das ist egal, denn es
war ein Haus! Ein hässliches zwar, Plattenbau, auch im übertragenen Sinn, aber
es war ein Haus. Und jetzt muss ich plötzlich rausfinden, wer ich eigentlich
bin – das ist nicht ungefährlich! So eine Situation ist nicht ungefährlich!
Weil so eine seelische Heimatlosigkeit und Obdachlosigkeit sind ein ganz
schreckliches Vakuum. Man könnte natürlich sagen, dieses seelische Vakuum
bestand wahrscheinlich schon während des Nationalsozialismus oder sogar davor.
Es gibt ein Buch, das direkt nach dem Krieg erschienen ist, ein Bestseller
damals. Es hieß „Hitler in uns selbst“, und der Autor Max Picard beschreibt
darin genau dieses Vakuum an Bewußtsein, wer man eigentlich ist, das die
Menschen damals in den Nationalsozialismus geführt hat, also was wir da gerade
beobachten, ist wirklich keine ungefährlich Situation! Und es ärgert mich
direkt, wenn ich dann jemanden in Interviews sehe, eine alte Dame oder einen
Herrn, die sagen: „Ja, man muss unsere Ängste ernstnehmen!“, und ich seh ihm
an, dass er keine hat: er hat keine Angst! Und gerade in Dresden – die haben
keine Angst, auf die Straße zu gehen und von einem Moslem niedergegangen zu
werden! Aber die wenigen Moslems, die dort leben, haben Angst – die haben
wirklich Angst! Es ist so absurd! Aber die Angst ist ja zu einer heiligen Kuh
geworden für uns! Wollen Sie etwas erreichen, sagen Sie als erstes: „Oh, ich
hab solche Angst!“- „Ach Gott, Entschuldigung!“, kommen wir dann alle, und der
Gabriel lässt gleich alles fallen und kommt gleich an und redet mit denen! Ist
ja auch gut, dass er das tut, aber wenn wir diese angeblichen Ängste der Leute
zu ernst nehmen, sitzten wir meiner Ansicht nach einem Popanz auf.
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Plakate und Kerzen für Tuğçe Albayrak/Foto: Bernd Schwabe |
FH: Ein Gedanke dazu, den ich
gerade noch habe: es gab ja vor kurzem hier in Deutschland diese beiden
spektakulären Fälle von tragisch missglückter Zivilcourage – eine junge Türkin,
die in einem Schnellimbiss einer anderen Frau zu Hilfe kommen wollte und dabei
zu Tode geprügelt wurde, und nur wenig später ein junger Mann, der bei einem
Supermarktüberfall erschossen wurde, weil er dem Täter in den Weg getreten war.
Da war es sehr interessant zu beobachten, dass in einer Situation, wo keine
Kirche mehr da ist, um die berechtigte allgemeine Trauer zu kanalisieren, dass
das öffentliche Trauern schwierig ist ohne eine solche gemeinsame Form, dieses
kollektive Bedürfnis zu äußern.
MK:
Das ist eine gute Überlegung! Ich glaube, so eine ganz individuelle Trauer ist
etwas Merkwürdiges. Die Trauer ist ja auch ein Ruf nach außen, und ein Ruf hat
nur einen Sinn, wenn ein Ohr da ist, das den Ruf hört. Und somit haben wir
schon eine überindividuelle oder vielleicht besser eine nebenindividuelle
Instanz des Kollektiven. Wenn wir dann wieder auf diese angebliche Angst
zurückkommen: Wie viele Islamistenmorde an Deutschen hat es gegeben und wie
viele deutsche Morde an Türken? Gerade wenn man die NSU-Morde im Hinterkopf behält,
dann hätten vermutlich die Türken oder die Moslems mehr Grund zur Angst als die
Deutschen. Aber ich weiß nicht, wenn mich jemand fragen würde, was man tun
müsste, um den Menschen Möglichkeiten zu geben um dieses Identitätsvakuum zu
füllen, da wüßte ich auch nicht, was ich sagen soll. Na klar, als Erzähler hat
man immer die Geschichte anzubieten, das heißt wenn ich wissen will, wer ich
bin und wer wir sind – weil das Ich und das Wir gehören immer zusammen –, dann
muss ich es eben erzählen! Ich muss mir erzählen wer ich bin, und ich muss
erzählen, wer wir sind. Und was ich bin, ist ja irgendwie geworden. Doch wie
kann ich Gewordenes anders transportieren als durch irgendeine Form von
Erzählung? Es muss ja nicht der Roman oder die Erzählung sein, aber es muss ein
Narrativ da sein, um das neue Wort zu verwenden, denn aus dem kann ich nachher
eine eigene Identität schöpfen. Aber wenn man, wie in den neuen Bundesländern,
zu einem gewissen Narrativ nicht stehen will, dann ist es halt schwierig. Und
die Aussage „Das war nie meines!“ stimmt ja höchstens von der Kraft innerer
Überzeugung her. Denn man war ja dennoch ein Teil des Ganzen, auch ohne die
innere Überzeugung. Man müsste mal untersuchen, wie das bei den verschiedenen
Ländern ist. Zum Beispiel wie ist das eigentlich in Russland? Da hat man das
Gefühl, die sind irgendwie hinübergeschwebt ans Ende des Zarenreiches, aber
kann man es auch verstehen: dass dieser Terror, der dazwischen war, dass man
den nicht anzuschauen vermag. In der griechischen Mythologie gibt es die schöne
Geschichte von Perseus, der der Medusa das Haupt abschlagen soll, und wenn man
ihr ins Gesicht schaut, wird man zu Stein…
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Michael Köhlmeier/Foto: Rita Newman |
FH: Ihr erster Roman „Der
Peverl-Toni und seine abenteuerliche Reise durch meinen Kopf erschien im Jahr
1982. Was würde der Michael Köhlmeier von damals dem heutigen
Erfolgsschriftsteller ins Stammbuch schreiben? Und gibt es aus ihrer heutigen
Perspektive einen weisen Rat an den jungen Nachwuchsschriftsteller?
MK:
Beim „Peverl-Toni“ hab ich mir damals gedacht, man darf, wenn man einen Roman
schreibt, nichts übrig lassen – ich muss meinen gesamten gegenwärtigen Kopf
ausräumen und in den Roman packen! Ich kann nicht sagen: „Oh, das ist eine
tolle Geschichte, die hebe ich mir erstmal auf, da mache ich später vielleicht
mal eine Novelle draus!“ – Da hätte ich mir damals gesagt: „Wenn du das tust,
dann hast du schon nachgegeben! Du musst ein Buch schreiben, als ob es das
einzige wäre!“ – Beim „Peverl Toni“ habe ich gedacht, ich schreibe ein Buch nicht
nur als ob es das einzige wäre, sondern sogar als ob es die einzige Chance
wäre, eines zu schreiben, und dort sei es dann schade, irgendetwas nicht
reinzuschreiben, was ich als schreibenswert empfinde. Dieser Meinung bin ich
heute nicht mehr. Ihm würde ich heute sagen: „Pack nicht soviel rein!“ – Aber
wahrscheinlich hätte er mir mehr zu sagen als ich ihm. Ich würde nicht sagen,
dass er so viel falsch gemacht hat, er hat halt so gedacht! Ich habe ja damals
zum ersten Mal einen Roman geschrieben, ich wusste nicht was für ein Werk das wird,
er war noch völlig im Nebel, als ich
begann. Und als ich dann fertig war – ich weiß nicht wie lang ich daran
gearbeitet habe, vielleicht fünf Jahre – als ich dann fertig war, merkte ich,
dass das Ende überhaupt nicht mehr zum Anfang passte, denn mittlerweile war ich
ein anderer Mensch, da musste ich nochmal anfangen, um ihn so von Anfang an auf
das Ende hin umzuschreiben, hab in derselben Zeit mich wieder so verändert,
dass ich das Ende wieder nicht mehr zum Anfang passend fand und bin so drei
oder viermal erneut in die Schlange gegangen. Ich hab einfach lernen müssen –
obwohl man das nie lernen kann, weil es immer was anderes ist, einen neuen
Roman zu schreiben. Überhaupt erstmal Vertrauen zu haben und nicht in Panik zu
geraten! Routine ist vielleicht das falsches Wort weil es so negativ klingt,
aber eine gewisse Erfahrung zu haben, dass auch ein Roman enden kann! Und wie
auch immer – ich wusste nichts! Ich wusste nur, dass es wunderbar ist, so zu
schreiben…
FH: Herr Köhlmeier, ich danke
Ihnen für dieses Gespräch!
MK:
Ja vielen Dank! Es ist sehr schön, dass sie mich wieder auf die „Kalypso“
aufmerksam gemacht haben!