Jerusalem

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Samstag, 28. März 2015

„Das kunterbunte Monsterbuch“ von Alice Hoogstad

Obwohl selbst Erwachsene an einem schönen Tag in den wechselnden Wolkenkonstellationen am sommerlichen Himmel mit Hilfe ihres bildlichen Vorstellungsvermögens noch die erstaunlichsten gegenständlichen Bildfolgen zu erkennen vermögen, gilt die spontane kindliche Fantasie doch zu Recht als ungleich größere, geradezu göttliche Gabe, da sie auf ganz unmittelbare, geradezu schöpferische Art und Weise jederzeit danach zu streben scheint, selbst noch in den allerprofansten irdischen Alltagsgegenständen mit aller Macht immer das Wunderbare (wieder-)zuerkennen und sich deshalb niemals in ihrem natürlichen Bemühen selbst zu erschöpfen scheint, das nur-für-sie-Sichtbare zum lebendigen Objekt spielerischer Welterkundung zu machen.

Dieser außerordentlichen, allein durch die menschliche Erziehung sowie die damit einhergehende fortschreitende Persönlichkeitsentwicklung begrenzten wunderbaren Fähigkeit hat die für ihr abwechslungsreiches bisheriges zeichnerisches Werk bereits vielfach ausgezeichnete niederländische Kinderbuchautorin und Illustratorin Alice Hoogstad (geboren 1957) in ihrem neuen Bilderbuch nun ganz ohne Worte ein eindrucksvolles künstlerisches Denkmal gesetzt. Der Schweizer Aracari-Verlag, in dem „Das kunterbunte Monsterbuch“ soeben erschienen ist, hat sich nicht zuletzt durch die poetischen Bilderbücher von Mies van Hout („Heute bin ich“) einen Namen für hochwertig gestaltete Bilderbücher gemacht, die neben ihrer offensichtlichen kindlichen Zielgruppe besonders Erwachsene zu erfreuen vermögen und deren Inhalt man mit einiger Berechtigung durchaus „therapeutisch“ nennen darf.


Wenn wir „Das kunterbunte Monsterbuch“ aufschlagen, befinden wir uns mitten in einer überaus liebevoll und detailreich gestalteten, von geschäftigem Leben geradezu überquellend berstenden kleinen Stadt, deren kaum zu erahnende Ausmaße allein vom Format der zeichnerisch komplett ausgefüllten Doppelseiten begrenzt werden. Das emsig belebte Stadtpanorama ist vollständig in Schwarzweiß gehalten, so dass ein kleines Mädchen, das im selbstvergessenen Spiel mit roter Kreide zuerst einen mehrere Meter langen Strich auf die Straße und dann in dessen Verlängerung ein leuchtendes Herz an eine blässliche Hauswand malt, als Auslöserin dieses intensiven Farbkontrasts besonders heraussticht.

Doch das Mädchen hat anscheinend nicht nur rote Malkreide dabei, sondern zaubert aus den Tiefen ihrer Rocktasche mühelos zahllose weitere bunte Kreidestücke in allen Regenbogenfarben hervor – auf der zweiten Doppelseite sehen wir sie bereits einen gutmütig dreinblickenden, mehrfarbigen Dinosaurier auf die Straße malen, während ein kleiner Hund, der ihren gestalterischen Antrieb als Symbol des Unbewussten intuitiv verstanden zu haben scheint, der zauberhaften kleinen Protagonistin mit dem roten Herz im Maul vertrauensselig und freudig hinterher rennt. Die in ihren zahlreichen unterschiedlichen alltäglichen Beschäftigungen abgelenkten Bewohner der Stadt haben unterdessen noch nichts von den unerhörten Dingen bemerkt, die sich direkt vor ihren Augen abspielen.

Es ist bemerkenswert, dass Alice Hoogstad nicht dem naheliegenden Impuls nachgibt, die farblose Stadt und ihre Bewohner in einen noch stärkeren Kontrast zur farbigen Fantasiewelt des Mädchens zu setzen, etwa indem sie sie als schroffe, auf Ordnung bedachte Miesepeter inszeniert, die sofort Zeter und Mordio schreien und die Polizei herbeirufen – so wirkt das Szenario umso realistischer, ehrlicher und überzeugender, als auf der nächsten Doppelseite der fröhliche bunte Dinosaurier bereits ein unverkennbares Eigenleben entwickelt hat und quicklebendig durch die Straßen torkelt, während das Mädchen an der nächste Hauswand ein weiteres sympathisches Monster zeichnerisch zum Leben erweckt und erste aufmerksame Stadtbewohner mit neugierigem Interesse die denkwürdigen Ereignisse zu betrachten beginnen.

Alice Hoogstad

Erst als die Stadt schließlich vollends in allen Farben des Regenbogens erstrahlt und von zahlreichen wundersamen Zauberwesen bewohnt wird, werden das Auge des Gesetzes und der Brandschutz doch noch auf die außerordentlichen Vorkommnisse aufmerksam und verlangen dem kleinen Mädchen und ihren zahlreichen gleichaltrigen Freunden, die inzwischen gemeinsam mit ihr die Stadt verschönern und beleben, eine konzertierte Reinigungsaktion ab. Da beginnt es plötzlich zu regnen, und schon bald scheint die anfängliche Ordnung wieder hergestellt – aber nur fast, denn wer einmal seinen natürlichen Gestaltungswillen und die Schönheit der Farben entdeckt hat, kann mit diesem aufregenden neuen Spiel nicht mehr aufhören: so sehen wir die Kinder auf der letzten Doppelseite ihr Werk unbehelligt voll Freude erneut beginnen. Und das kleine rote Herz, mit dem alles begann, hat den reinigenden Regen auch vollkommen unversehrt überstanden...

„Das kunterbunte Monsterbuch“ erzählt ganz ohne Worte und mit überwältigender Poesie und tiefgründiger Universalität eine wunderbare kleine Geschichte von den unzähligen Möglichkeiten des selbständigen Gestaltens seiner eigenen Realität, die für Kinder wie für Erwachsene gleichermaßen attraktiv scheint und intuitiv unmittelbar begreifbar ist. Alice Hoogstads kunstvolle, präzise und ausgereifte Bildsprache ist dabei so voller liebevoller Nuancen, dass man trotz oder vielleicht gerade wegen des Fehlens einer eindeutig verbalisierten Handlung immer wieder gerne zu ihrem entzückenden Bilderbuch zurückkehrt, sich dankbar darin verliert und dabei stets neue liebevolle Details entdecken kann.

„Das kunterbunte Monsterbuch“, erschienen bei Aracari, 32 Seiten, € 14,90

Donnerstag, 26. März 2015

„Chronik einer fröhlichen Verschwörung“ von Richard Schuberth

Der Mitbegründer beider Dada-Bewegungen und spätere Psychoanalytiker Richard Huelsenbeck behauptete einmal: „Manche Bücher kann man nicht lesen, weil man spürt, dass sie gedruckt worden sind.“ – Sehr viel schlimmer jedoch scheinen jene Bücher, denen man deutlich anmerkt, dass sie gedacht und im Verlauf des Schreibprozesses so vollständig von jeder noch so weitläufigen Ahnung von Lebendigkeit oder sonstigem Bezug zum realen Leben befreit wurden, dass von einer Lektüre von vornherein gründlich abzuraten ist. So hat es tatsächlich nur selten jemals einen Roman über das Literaturgeschäft oder den akademischen Betrieb gegeben, der für einen Außenstehenden im buchstäblichen Sinne überhaupt ansatzweise lesbar war. Eine umso größere Überraschung stellt der glänzend aufgelegte Debütroman „Chronik einer fröhlichen Verschwörung“ des österreichischen Schriftstellers, Kabarettisten und Musikorganisators Richard Schuberth dar, der darin nicht nur mit seiner tiefschürfenden präzisen Kenntnis nahezu der gesamten Ideengeschichte des Zwanzigsten Jahrhunderts verblüfft, sondern Dank seines umfangreichen satirischen Detailwissens über das Literaturgeschäft in Deutschland und Österreich und mit Hilfe seines in höchstem Maße originellen, liebevoll konstruierten Personals den Leser über den bemerkenswerten Umfang von fast 500 Seiten glänzend zu unterhalten versteht.


Der emeritierte misanthropische jüdische Philosophieprofessor Ernst „Ernö“ Katz sitzt im Zug nach Wien und ärgert sich maßlos über eine kleine Randnotiz, die er soeben im Feuilleton-Teil einer Tageszeitung entdeckt hat: ausgrechnet René Mackensen, der inhaltsleer-aufstrebende Jungstar der österreichischen Literaturszene hat soeben öffentlich verkündet, dass er gerade an einem biografischen Roman über die nahezu vergessene jüdische Philosophin und Soziologin Klare Sonnenschein arbeite, einer Überlebende des berüchtigten Konzentrationslagers Mauthausen. Diese aber war bis kurz vor ihrem tragischen Selbstmord vor gut vierzig Jahren Ernst Katz' unvergessene Geliebte gewesen, welcher es aus der erhabenen Perspektive seiner tief pessimistischen Weltsicht nun als doppeltes Sakrileg empfindet, dass ausgerechnet der unbedarfte Schaumschläger und Provokateur Mackensen sich anmaßt, über eine unerreichte Geistesgröße zu schreiben, die der Autor als intellektuelle und menschliche Lichtgestalt zwischen Hannah Arendt, Simone de Beauvoir und Emma Goldman angelegt hat, um am Beginn jedes einzelnen Kapitels auf ausgesprochen geistreiche und überzeugende Art und Weise virtuos aus ihren fiktiven Werken und Briefen zitieren zu können – kleinen literarischen Miniaturen, die objektiv zum Stärksten gehören, was Schuberths Roman zu bieten hat.

Nein, ich nehme nicht zurück, daß du eine Flasche bist, sonst müßte ich auch zurücknehmen, daß du mir als Infusionsflasche vermutlich das Leben gerettet hast. Und dafür sei gedankt – du Flasche.
Klara Sonnenschein an Ernö Katz, 4. April 1967

Während der Fahrt lernt Katz die siebzehnjährige Schulabbrecherin Biggy kennen, deren rotzfreche, unangepasste Art ihn von Anfang an auf durchaus mehrdeutige Weise anzuziehen scheint, da er gerade in ihr wesentliche Charaktereigenschaften sowie die unbestechliche Intelligenz von Klara wiederzuerkennen meint. Gemeinsam verbünden sich die beiden gegen die von Biggys zahlreichen lärmenden Provokationen aufgebrachten Mitreisenden und leeren im Verlauf der weiteren Fahrt unzählige Dosen Bier miteinander. Nur wenige Wochen später zieht das junge Mädchen zu seiner großen Überraschung und nachhaltigen Freude dauerhaft bei ihm ein. Obwohl sich der lebenslange Liebhaber jüngerer Frauen von Anfang an keine erotischen Hoffnungen macht – zumal Biggy einen großen sexuellen Appetit auf arabischstämmige Liebhaber besitzt, die sie gern und oft in die gemeinsame Wohnung mitbringt – , nimmt er die selbst gestellte Aufgabe, aus der jungen Frau eine postfeministische Intellektuelle nach Klaras unerreichtem, im Buch stets präsentem Vorbild zu formen, dankbar an. Ganz nebenbei beginnen die beiden ungleichen Partner einen heimtückischen Plan auszuhecken, um René Mackensen die Arbeit an seinem unstatthaften Roman dauerhaft zu verleiden.

René fand es höchste Zeit zu gehen. Höflichkeitshalber sagte er dem alten Mann, dass er ihm zumindest beim Verständnis der Diss [Klara Sonnenscheins] helfen könne. Katz lachte spöttisch.
Nein, nein, so einfach geht das nicht, mein Lieber. Da müssen Sie zuerst durch Hegels Phänomenologie durch. Sonst verstehen Sie rein gar nichts. Das wäre wie in den ersten Stock einziehen, bevor das Fundament des Hauses gelegt ist. Aber ich schlage Ihnen was vor. Ich gebe Ihnen Hegel-Unterricht. Einmal pro Woche wäre gut. Nur wir beide. Einen Hegel-Lesekreis hab ich mir schon immer gewünscht. Die wenigen, mit denen ich mich über Hegel austauschen konnte, sind leider gestorben.“



Obwohl René sich schließlich als ebenso harmloses wie gutmütiges und im Grunde gar nicht unsympathisches, wenn auch in höchstem Maße selbstverliebtes, unerfahrenes Bürschchen mit gleichfalls nebulösen jüdischen Wurzeln entpuppt, dem der ferngesteuerte Plan zu einem Roman über Klara Sonnenschein lediglich von seinem trickreichen Hamburger Agenten sowie seiner älteren Dauer-Liebhaberin, einer einflussreichen Literaturkritikerin, mehr oder weniger gegen seinen Willen eingeflüstert wurde, beginnen Ernst und Biggy mit diabolischem Genuss und zum großen satirischen Vergnügen des Lesers, ein perfides Spiel mit René Mackensen zu treiben, das den arglosen Jungschriftsteller im Verlauf zahlreicher aberwitziger und zum Teil slapstickreifer Situationen unter anderem in die prekärsten Viertel von Belgrad und Tel-Aviv führt, wo er es mit Tschuschen jeglicher Art, Vergewaltigern, Dealern, Strichern und Dragqueens zu tun bekommt, aber auch immer wieder mit der wandlungsreichen Biggy in den unterschiedlichsten, verwirrendsten Rollen, die schließlich unweigerlich bewirken, dass sich der arme René rettungslos in sie verliebt.

Erst jetzt bemerkte Ernst, dass sie den Wikipedia-Eintrag von Klara Sonnenschein geöffnet hatte. Was sie da mache, fragte er. Er solle herkommen, sagte sie und deutete auf den letzten Absatz, wo geschrieben stand: „Die letzten fünf Monate verbrachte sie bei ihrer Cousine Carine Müller im belgischen Kepis, wo sie sich am 26. Dezember 1967 das Leben nahm.“
Wie kommt das da hin? Ich habe Carine Müller nicht erwähnt.“
Sie habe es reingeschrieben, sagte Biggy. Dann öffnete sie ein belgisches Online-Telefonbuch und gab den Namen Carine Müller und Kepis als Suchbegriffe ein. Im Nu tauchte eine Carine Müller samt Telefonnummer und Wohnadresse (Rue Bruyère 114) auf.
Aber sie ist seit mehr als zehn Jahren tot.“
Ich hab sie aber zum Leben erweckt. Mackensen hat schon zweimal auf ihre Sprachbox gesprochen. Sie hat sich aber noch nicht zurückgemeldet.“

Während es Biggy zunehmend auch selbständig gelingt, ihr libertäres Lebensgefühl mit einem differenzierten intellektuellen Überbau zu überhöhen, was sie dem untröstlichen Ernst mit der Zeit immer mehr entfremdet, sieht es zwischenzeitlich sogar so aus, als würde auch sie ein ernsthaftes emotionales Interesse für René entwickeln und trifft sich mehrmals ohne Wissen ihres Mentors mit dem in seiner Persönlichkeit immer noch unentschiedenen, aber grundsätzlich sympathisch unverschlossenen Jungschriftsteller. Mit der sich auf durchaus überzeugende Weise anbahnenden Beziehung zwischen den beiden wäre für jeden Leser, der die erstarrte akademische Philosophie eher als Selbstzweck, denn als Hilfsmittel zur persönlichen Vervollkommnung begreift, nun bereits eine wunderbare Pointe erreicht, mit der er den Roman nicht ungern beschlossen sähe. Dies allerdings verwehrt uns der Autor mit sarkastischer Freude und jagt uns im turbulenten Finale noch einmal atemlos durch zahlreiche überraschende Handlungsbögen und Theoriemodelle jeglicher Art, die uns am Ende gut unterhalten, aber nicht wenig ratlos zurücklassen.


Richard Schuberth

Die unausgesprochene, angesichts zahlreicher oberflächlicher Phänomene unserer Gegenwart jedoch keinesfalls unberechtigte Frage, ob es für den Menschen wirklich wünschenswert sei, sich in den Besitz einer scheinbar objektiven Wahrheit zu bringen, warum man aus sachlichen Gründen mit einem bestimmten Menschen schlafen sollte, mit einem anderen aber auf gar keinen Fall, oder aber, ob das verstandesmäßige (Ab-)Urteilen im ethischen Sinne nicht möglicherweise eine der größten Krankheiten unserer Zeit ist, die es zu überwinden gilt, bleibt dabei – allerdings nicht zum Schaden des Romans – vollkommen offen. Richard Schuberth ist das große Kunststück gelungen, einen ebenso gehaltvollen wie unterhaltsamen Roman über zwei originelle Außenseiter im Brennpunkt zwischen Literatur, Philosophie und Gesellschaft zu schreiben, dessen beste Pointen beim Leser (zur Irritation seiner Umwelt) zu einem lauten, reinigenden Lachen führen können.

„Chronik einer fröhlichen Verschwörung“, erschienen bei Zsolnay, 479 Seiten, € 22,90

Donnerstag, 19. März 2015

„Darkmouth – Der Legendenjäger“ von Shane Hegarty

Beinahe noch aufschlussreicher für den Zustand unserer Psyche als die kaum zu leugnende Tatsache, dass die anhaltende Popularität der beiden eng miteinander verwandten Genres Fantasy und Horror in unserer nahezu ausschließlich auf wissenschaftlicher Rationalität gründenden heutigen Weltsicht offensichtlich einer großen uneingestandenen und meistenteils unbefriedigt bleiben müssenden Sehnsucht nach dem Unerklärlichen Rechnung zu tragen scheint, ist die seltsam mechanische Art und Weise der versuchten Befriedigung dieses Mangels: die mittels Lektüre einschlägiger Literatur oder durch den Konsum von entsprechenden Filmen eher intuitiv herbeigeführte Begegnung mit dem Numinosen bleibt in aller Regel lediglich im oberflächlichen Schockerlebnis verhaftet und muss daher in der direkt daraus resultierenden sofortigen Verdrängung münden, wie sie in der menschlichen Psyche angelegt ist.




Trotz des schon einigermaßen bewusst wahrgenommenen, möglicherweise gesunden Impulses zur Vergegenwärtigung des zunächst nur intuitiv erlebten Mangels wird hier also von vielen Menschen lediglich auf spielerische, rezeptive Art und Weise gleichsam erneut der natürliche Weg der Verdrängung simuliert (und auf diese Weise möglicherweise auch unbewusst legitimiert), wie wir sie nach einem traumatischen Erlebnis oder auch vom Erwachen aus einem nächtlichen Alptraum kennen, anstatt aus dieser Begegnung heraus das Wünschenswerte anzustreben, nämlich Beseitigung des Mangels durch Vergegenwärtigung des Uneingestandenen und Angstmachenden sowie dessen lebendige Integration in den Alltag, selbstverständlich auch mit den Mitteln des menschlichen Verstandes.

Finn lag auf dem Rücken, der beißende Atmen der Verseuchten Seite wich aus seiner Lunge. Seine Mutter kauerte neben ihm und hustete, während Emmie und Steve sie zu beruhigen versuchten. Finn streckte den Arm aus und berührte die Hand seiner Mutter.
Das Tor erlosch.

Es scheint in diesem Zusammenhang durchaus interessant, dass nahezu alle Filme des zweifellos nicht ohne Berechtigung vornehmlich dem Horror-Genre zugerechneten erfolgreichen Hollywood-Regisseurs M. Night Shyamalan (mit Ausnahme seines enigmatischen Durchbruchs „The Sixth Sense), dessen Charaktere in der Auseinandersetzung mit dem Unbewussten meistenteils vollkommen individuelle, in hohem Maße eigenständige Wege heilsamer Integration durch liebende (Selbst-)Annahme einschlagen, von der Filmkritik wie vom breiterem Publikum in auffälligem Maße sehr viel weniger angenommen werden als oberflächliche Schocker, die das Angstbesetzte vollkommen im Bereich des Unbewussten und des zu verdrängenden Alptraums belassen, aus dem man am Ende in der scheinbaren Gewissheit „erwacht“, es sei ja alles wieder gut.

Es ist keine Karte. Es ist ein Satz. Nur ein Satz. Und nicht mal in Dads Handschrift.“
Wie lautet er?“, fragte Emmie.
Finn las ihn laut vor. „Erleuchte das Haus.“

Wer aber offenen Auges und bewusst auf das unerklärlich Scheinende zugeht, sollte sich diesem schon allein aus Eigeninteresse auch stellen, wenn er nicht lediglich seinen vorherrschenden Zustand des Unbewusst-Seins inszenieren will – das aber wäre ein fundamentales Paradox, eine grenzenlose Absurdität. Dass weltoffene Konsequenz und Nachhalt hier jedoch zu außergewöhnlich heilsamen Bildern führen können, zeigt der spanische Regisseur Juan Antonio Bayona auf eindrucksvolle Art und Weise in der ebenso großartigen wie unvergesslichen Schlussszene seines international erfolgreichen Erstlingsfilms „Das Waisenhaus“ (2007): seine vielfach gebrochene Protagonistin erlebt im eigenen, selbst herbeigeführten Tod schließlich eine so umfassende Vereinigung mit den eigenen, zuvor nur unbewusst in ihr selbst angelegten Lebensthemen, dass der Zuschauer allein durch die reinigende Kraft dieser Bilder intuitiv begreift, wie psychische Heilung gelingen kann – ja geradezu selbst davon geheilt wird und gefühls- wie verstandesmäßig jederzeit zu diesen Bildern zurückkehren kann.



Vor diesem komplizierten, aber angesichts des lang anhaltenden Erfolgs des Fantasy-Genres hartnäckig aufzuzeigenden Hintergrund scheint es mehr als angemessen zu behaupten, dass die im Februar mit großen Erwartungen gestartete neue Jugendbuch-Reihe „Darkmouth“ des irischen Schriftstellers und ehemaligen Standup-Comedians Shane Hegarty trotz ihrer selbstironischen, humoristischen Grundhaltung im positiven Sinne sehr viel weiter geht als manch anderer „ernsthafter“ und vor allem ernst gemeinter Vertreter dieses Genres: Der geistig aufgeweckte zwölfjährige Finn, der als zukünftiger letzter professioneller Bezwinger und Vernichter des hier kurioserweise als „Legenden“ bezeichneten pittoresken Wirrwarrs aus bekannten bösartigen Monstern der Mythologien der Welt vom Wolpertinger bis zum Minotaurus in die Fußstapfen seines berühmten Vaters treten soll, schreckt vor der ihm zugedachten Aufgabe innerlich zurück.

Und es ist ja auch eine ganze Weile niemand mehr von einem Monster gefressen worden.
Im Grunde sind es gar keine Monster. Sie sehen zwar wie Monster aus, und die Einheimischen nennen sie oft auch so, aber genau genommen sind es Legenden. Mythen. Fabeln. Vor langer, langer Zeit haben sie sich einmal die Erde mit den Menschen geteilt.

Das wichtigste Kunststück, an dem sich Finn in Hinblick auf seine demnächst anstehende Prüfung als Legendenjäger seit Monaten erfolglos abarbeitet, die Verwandlung von Eindringlingen aus der durchlässigen Gegenwelt, der „Verseuchten Seite“, auf die die Legenden in alter Zeit verbannt wurden, in kleine, immer noch belebte, aber gänzlich ungefährliche Kugeln, und zwar mit Hilfe einer „Exsikkator“ genannten, kompliziert zu handhabenden Waffe, ist ihm schon diverse Male auf spektakuläre und lebensgefährliche Art und Weise misslungen. Überhaupt scheint es ihm allzu grausam, die wenigen Legenden ganz zu vernichten, welche es von Zeit zu Zeit schaffen, in die reale Welt einzudringen, und er träumt insgeheim davon, den Ungeheuern auf unbestimmte Art und Weise zu helfen, so wie seine Mutter in ihrem bürgerlichen Beruf als Tierärztin kranken und verletzten Tieren hilft wieder gesund zu werden.

Hör mal, Finn, sei nicht so hart zu dir. Du hast deine Sache gut gemacht. Vielleicht warst du hier und da noch nicht ganz so treffsicher, aber schließlich hast du kein entlaufenes Huhn gejagt. Und eingeschnappt musst du auch nicht sein. Die meistern Zwölfjährigen würden dafür sterben, einer Legende nachjagen zu dürfen.“
Sterben?“, wiederholte Finn.
Du weißt, was ich meine.“
Finns Vater sah ihm noch einen Moment fest in die Augen, ehe er ihm sanft gegen den Arm boxte und anschließend die geschrumpften Überreste des Minotaurus aufhob.



Während auf der Verseuchten Seite, wie wir als gut unterhaltene Leser parallel zur Haupthandlung erfahren, der grausame Riese Gantrua als größenwahnsinniger, selbsternannter Anführer aller Legenden einen heimtückischen Plan zur konzertierten Invasion der realen Welt ausheckt, bemerkt Finn, dass seine neue Schulfreundin Emmie ein verdächtiges Interesse für die umfangreiche, im elterlichen Haus verborgene, hunderttausende Exemplare zählende Sammlung von exsikkierte Monster in sich bergenden Kugeln entwickelt. Und was ist eigentlich mit seinem verschollenen Großvater geschehen, einem Legendenjäger wie alle seine Vorfahren, dessen Ehrfurcht gebietendes, irritierendes Porträt in der umfangreichen familiären Ahnengalerie hängt, und der, wie Finns Vater immer wieder abfällig betont, „alles im Stich gelassen“ habe, was er eigentlich schützen sollte.

Aber Finn rannte nicht. Er hatte für diese Situation trainiert. Er war für sie geboren. Er wusste, was von ihm erwartet wurde und was er zu tun hatte. Außerdem würde sein Vater enttäuscht sein, wenn er jetzt wegrannte. Schon wieder.
Ich werde da sein, wenn du mich brauchst, hatte Finns Vater heute Morgen zu ihm gesagt.
Doch als Finn auf den Knopf seines Funkgeräts seitlich am Helm drückte und flüsterte: „Dad? Bist du da?“, war die einzige Antwort ein gleichgültiges statisches Knistern.

Mit Hilfe der rätselhaften Emmie gelingt es dem Jungen eines Nachmittags, einen kleinen, in die reale Welt eingedrungenen und von seinem Vater exsikkierten Hogboon wieder zurückzuverwandeln, ein gnomartiges, verschrobenes Wesen mit „spindeligen Gliedern“, das „alles, was ihm an körperlicher Kraft fehlt, durch die Länge seiner Ohren, die schiefen Zähne, die grüne Haut und seine üblen Scherze wieder ausglich“. Von diesem im Grunde harmlosen und nicht wenig originellen Geschöpf erfährt er zu seiner maßlosen Überraschung, dass ausgerechnet er selbst auf der Verseuchten Seite als größter, gefährlichster und mächtigster zukünftiger Gegner gilt, derlaut einer Prophezeiung nur dann bezwungen werden kann, wenn es den Legenden mit vereinter Kraft gelingt, ihn in die Gegenwelt zu locken. Obwohl ihm dieses vom kleinen Hogboon lebhaft ausgemalte Szenario vollkommen unwahrscheinlich erscheint, sieht sich Finn schon bald hilflos einer Kette von Ereignissen ausgeliefert, die ihn bis an die Grenze zur Verseuchten Seite führen und ihm am Ende des Buches eine Entscheidung von kaum absehbarer Tragweite abverlangen.

Shane Hegarty

Mit dem auch buchkünstlerisch ausgesprochen liebevoll gestalteten Auftaktband zu seiner auf sechs Bände angelegten Darkmouth-Reihe ist dem Autor ein wunderbar humorvoller, ausgesprochen unterhaltsamer bunter Reigen aus wunderbaren Charakteren und spannenden Handlungsfäden gelungen, der ohne Zweifel viel dankbaren Stoff für den weiteren Verlauf der Serie zu bieten hat und es dabei ohne weiteres mit herausragenden Jugendbuch-Klassikern des Fantasy-Genres wie „Artemis Fowl“ von Eoin Colfer oder Herbie Brennans wunderbarer „Elfenportal-Reihe“ aufnehmen kann. Die spannendste Frage wird sein, ob es Shane Hegarty auf irgendeine Weise gelingen wird, die Gegenwelt der Legenden in die reale Welt zu integrieren. „Der Legendenjäger“ als Auftaktband bietet allerdings genug Anhaltspunkte für die berechtigte Hoffnung, dass die Darkmouth-Serie letztlich ebenso viel halten könnte, wie sie schon jetzt zu versprechen scheint.

„Darkmouth– Der Legendenjäger“, aus dem Englischen von Bettina Münch, erschienen bei Oetinger, 368 Seiten, € 16,99

Montag, 16. März 2015

„Mein Taubenschlag“: Sämtliche Erzählungen von Isaak Babel

Es ist immer problematisch, wenn man allen Ernstes glaubt, auf Grundlage allgemeiner oder auch spezieller oder gar systematischer Beobachtungen über die konkreten Lebensäußerungen und Verhaltensmuster der Bürger eines bestimmten Staates anhand möglicherweise grundlegend scheinender Ähnlichkeiten in ihrem jeweiligen Handeln gleich auf eine Art von „Nationalcharakter“ als bestimmende Geistesverfassung schließen zu können. Was bei einem naiven Blick von Außen auf den anhaltenden Konflikt zwischen der Ukraine und Russland als ehemalige Mitgliedstaaten der Sowjetunion allerdings ohne Zweifel irritieren muss, sind die nationalistisch-faschistoiden, kaum oder nur wenig verschleierten aggressiven Drohgebärden des im öffentlichen Bild mittlerweile unstrittigen Aggressors, die unwillkürlich schlimmste Erinnerungen an die Zeit des europäischen Imperialismus als Basis der Katastrophe des Ersten Weltkrieges wach werden lassen.


Wenn man die kleine Übersichtskarte im Buchumschlag zur erst kürzlich erschienenen, äußerst verdienstvollen Dünndruck-Gesamtausgabe sämtlicher (erhalten gebliebener) Erzählungen des 1940 vom NKWD aufgrund haarsträubender Spionagevorwürfe im Rahmen antijüdischer stalinistischer Säuberungen heimlich ermordeten Schriftstellers und Journalisten Isaak Babel (geboren 1894 in Odessa) aufmerksam betrachtet, bemerkt man auf Anhieb, dass die gesammelten Schauplätze aus dessen bis zu seinem Tod bereits veröffentlichtem umfangreichen erzählerischen Werk im Wesentlichen ein nur wenig erweitertes Gebiet der aktuellen Konfliktzone sowie der Staatsgebiete der beiden derzeitigen Konfliktparteien beschreiben. Auch wenn man bedenkt, dass der NKWD alle bei Babel selbst aufgefundenen unveröffentlichten Aufzeichnungen direkt nach dessen Hinrichtung verbrannte, macht dieses überaus nützliche Zusammentreffen die vorliegende, von Bettina Kaibach und Peter Urban klangvoll und ausdrucksstark übersetzte Ausgabe aus gegenwärtiger Sicht besonders informativ und wertvoll.

Ivan Nikodimyĉ“, sagte er, als er an dem Jäger vorbeikam, „packen Sie das Gerät zusammen, in der Stadt kriegen die Jerusalemer Adelsherren eine Verfassung verpasst. Auf der Rybnaja haben sie den Babelschen Onkel traktiert, bis er hin war.“

Schon die kaum mehr als zehn Seiten lange Titelerzählung „Die Geschichte meines Taubenschlags“, eine erschütternde, aus Sicht des kindlichen Protagonisten erzählte autobiografische Chronologie eines blutigen Pogroms in dessen Heimatstadt Nikolajew im Bezirk Odessa im Jahr 1905, setzt zwei für die beschriebene Geschichtsepoche ausgesprochen bedeutsam scheinende Gegenpole in schrecklichen Kontrast zueinander, die auch den heutigen Betrachter erneut und besonders aufschrecken müssen, weil er hohe Bildung und reiches geistiges Innenleben auf der einen Seite und absolute selbstbezogene Triebhaftigkeit und brutalste Mordlust auf der anderen auch in den Ereignissen der Gegenwart wiederzuerkennen glaubt, einen der schrecklichsten und nachhaltigsten Widersprüche des Zwanzigsten Jahrhunderts, der wenig später auch in den Ereignissen der Schoah immer wieder auf entsetzliche Art Weise zu Tage treten sollte.

Meine Mutter war blass, sie befragte das Schicksal in meinen Augen und sah mich an, wie man ein Krüppelchen ansieht, voll bitterem Bedauern, denn sie allein wusste, wie glücklos unsere Familie war. […] Der unvorschriftsmäßig gekleidete Schutzmann erschreckte meine Mutter mehr als alles andere, seinetwegen ließ sie mich nicht gehen, aber ich stahl mich durch die Höfe auf die Straße und lief zum Vogelmarkt, der sich bei uns hinter dem Bahnhof befand.

Der sehnlichste Herzenswunsch des neunjährigen Erzählers ist schon seit langem ein eigener kleiner Taubenschlag mit drei Taubenpärchen. Da er kurz vor vor der Aufnahmeprüfung zum Gymnasium seiner beschaulichen Heimatstadt steht, verspricht ihm sein Vater für den Fall, dass er in den beiden wesentlichen zu prüfenden Fächern zwei Einsen mit Stern mit nach Hause bringe, einen Rubel und fünfzig Kopeken zur Erfüllung seines Wunsches. Andere Zensuren als Einsen scheinen ohnehin kaum denkbar, da von vierzig neu zu vergebenden Plätzen lediglich zwei für Juden reserviert sind und diesen der ordentliche Zugang zur höheren Bildung auch sonst auf jede erdenkliche Art und Weise systematisch erschwert wird. Die Aussicht aber, dass ihr einziger Sohn das Gymnasium besuchen könnte, stellt für die zu bescheidenem Wohlstand gelangte, assimilierte Familie nicht nur ein wichtiges Sehnsuchtsziel als Zeichen ihres fragilen bürgerlichen Aufstiegs dar, sondern scheint auch das Versprechen zu beinhalten, in Zukunft unauflösbar Teil eines kulturell hoch entwickelten Gemeinwesens zu sein.

Nikolajew/Zeitgenössische Postkarte

Nachdem die Prüfung trotz tadelloser Leistung wegen der beträchtlichen Schmiergeldzahlung eines anderen Vaters an die Prüfungskommission misslungen ist, wird im folgenden Jahr ein zweiter Versuch unternommen, wofür der Vater des jugendlichen Protagonisten keinerlei Kosten scheut und einen Privatlehrer engagiert, der den Jungen nicht nur auf die Prüfung vorbereitet, sondern sogar den gesamten Stoff der ersten Gymnasialklasse mit ihm durchnimmt – letztlich mit Erfolg. Der unbedachte, begeisterte Vater veranstaltet ein großes Fest zu Ehren seines Sohnes.

Außer den Handlungsreisenden kam der alte Liberman zu uns, der mich in der Thora und in Hebräisch unterrichtet hatte. Bei uns nannte man ihn Monsieur Liberman. Er trank mehr bessarabischen Wein als ihm gut tat, die traditionellen Seidenschnürchen krochen ihm unter der roten Weste hervor, und er brachte auf Hebräisch einen Toast auf mich aus. In diesem Toast gratulierte der Alte meinen Eltern und sagte, ich hätte bei der Prüfung alle meine Feinde besiegt, besiegt hätte ich die russischen Jungen mit den dicken Backen und die Söhne unserer groben Geldsäcke. So habe in alter Zeit David, der König von Juda, den Goliath besieht, und ähnlich wie ich über Goliath triumphierte, werde unser Volk Kraft seines Verstandes die Feinde besiegen, die uns umzingelten und auf unser Blut lauerten. Bei diesen Worten begann Monsieur Liberman zu weinen, weinend trank er noch mehr Wein und schrie : „Vivat!“

Mit dem Eintritt ins Gymnasium beginnt eine kurze Zeit hoffnungsvollen Glücks für die Familie des mit dem Autor weitgehend identischen Icherzählers. Erst nach einem Vierteljahr erinnert sich dieser an seinen Vorsatz, endlich die ersehnten Tauben zu kaufen. Die Stadt ist nach Verkündigung des berüchtigten Oktobermanifests von 1905 seit Tagen in revolutionärem Aufruhr. Gegen den ausdrücklichen Willen seiner Eltern stiehlt sich der Junge heimlich davon und erwirbt auf dem Vogelmarkt drei prächtige Taubenpärchen, auf dem Heimweg gerät er jedoch in ein ebenso wahlloses wie spontanes Pogrom, dem sein Onkel Schojl zum Opfer fällt, der ihm kurze Zeit zuvor einen prächtigen Taubenschlag zurechtgezimmert hatte. Der Erzähler selbst entgeht dem Tod, während die frisch erworbenen Tauben, die er unter seiner Jacke versteckt hat, als wehrlose Symbole der Unschuld und des Friedens von einem verkrüppelten Bettler mit brutaler Gewalt totgeschlagen werden.

Ich lag auf der Erde, und die Innereien des zerquetschten Vogels liefen mir die Schläfe hinab. Sie wanden sich meine Wangen entlang, besudelten mich und machten mich blind. Zartes Taubengedärm kroch über meine Stirn, und ich schloss das letzte unverklebte Auge, um die Welt nicht zu sehen, die sich vor mir ausbreitete. […] Eng und schrecklich war meine Welt. Ich schloss die Augen […] und presste mich an die Erde, die beruhigend stumm vor mir lag. Diese zerstampfte Erde glich in nichts unserem Leben und der Erwartung von Prüfungen in unserem Leben. Irgendwo, fern, ritt das Unheil auf einem großen Pferd über sie hinweg, doch der Lärm der Hufe wurde schwächer, verhallte, und Stille, jene bittere Stille, wie sie Kinder im Unglück bisweilen beschleicht, löschte plötzlich die Grenze zwischen meinem Körper und der nirgends hinstrebenden Erde. Die Erde roch nach feuchten Tiefen, nach Grab, nach Blumen. Ich spürte ihren Geruch und begann zu weinen, ohne jede Angst.

Nicht nur in Babels meisterhafter Kurzgeschichte vom Taubenschlag, sondern auch in den meisten anderen seiner hier vollständig auf Deutsch versammelten Erzählungen (darunter der berühmte Zyklus „Die Reiterarmee“ über den russischen Bürgerkrieg und die gescheiterte Usurpation bestimmter Teile Polens), deren prägnante, einprägsame Bilder noch lange in der Imagination des Lesers nachhallen, wird deutlich, dass eine Gesellschaft nur dann fähig ist, sich vollständig in den Dienst des Menschen zu stellen, wenn es ihr gelingt, nachhaltig wirksame Methoden hervorzubringen, mit deren Hilfe sie ihre gegensätzlichen Erscheinungsformen auf solche Art und Weise zu integrieren vermag, dass die Liebe zum Schönen oder ein hoher Bildungsstand nicht nur zwei beliebige Extreme neben ungebremster Gewalt, Diskriminierung und sozialer Gleichgültigkeit bleiben. Die höchste Forderung an ein Gemeinwesen muss somit die Schaffung eines allgemeinen sozialen Klimas sein, welches es seinen Bürgern ermöglicht, auf mögliche unbewusste Herausforderungen nicht mit spontaner Gewalt zu reagieren, sondern positive Antworten zu entwickeln.

Isaak Babel (1894-1940)

Isaak Babel erweist sich in seinen gesammelten Erzählungen nicht nur als einzigartiger literarischer Chronist einer ganzen Region und einer politischen Epoche, sondern auch als unverkennbar eigenständige, unbestechliche moralische Instanz eines universellen Humanismus jenseits aller Ideologien, womit sein Werk weit über seine eng umrissene Entstehungszeit und seinen scheinbar begrenzten Themenkreis hinausweist und als Beispiel allgemein gültiger geistiger und politischer Unabhängigkeit im Angesicht institutioneller Repression weder heute noch in Zukunft jemals an Aktualität verlieren kann. Einer seiner Mörder, der NKWD-Beamte Boris Rodos, antwortete in seinem eigenen Prozess sechzehn Jahre später auf die Frage, ob er je eine Zeile aus dem Werk seines Opfers gelesen habe:

Wozu auch?“

Doch als Babels zweite Frau Antonina Pirozhkova weitere dreißig Jahre später angesichts des offeneren politischen Klimas der Perestroika eine erneute Anfrage nach den verschollenen Aufzeichnungen ihres ermordeten Mannes stellte, erhielt sie persönlichen Besuch von zwei KGB-Agenten. Nicht jedoch, wie sie zunächst argwöhnte, zur Vermeidung einer dokumentierbaren schriftlichen Antwort, sondern zu ihrer äußersten Überraschung als Beileids- und Ehrenbezeugung sowie als offizielle Geste des Bedauerns über den beklagenswerten, unwiederbringlichen Verlust der mittlerweile allerseits als wertvoll angesehenen Manuskripte.

„Mein Taubenschlag“, aus dem Russischen von Peter Urban („Die Reiterarmee“) und Bettina Kaibach (sämtliche andere Erzählungen), erschienen bei Hanser, 863 Seiten, € 39,90

Mittwoch, 4. März 2015

Preis der LiteraTour Nord 2015 - Ein Gespräch mit Michael Köhlmeier



Preis der LiteraTour Nord 2015

 

Der renommierte Preis der LiteraTour Nord, einer alljährlich von der VGH-Stiftung mit einem Preisgeld von 15.000 Euro dotierten Auszeichnung, geht in diesem Jahr zum ersten Mal an den Österreicher Michael Köhlmeier, der seit über dreißig Jahren zu den produktivsten, originellsten und vielseitigsten Schriftstellern deutscher Sprache zählt. 

Er erhält diesen Preis verdientermaßen  für seinen vieldiskutierten Roman „Zwei Männer am Strand“ über die ungewöhnliche Freundschaft zwischen Winston Churchill und Charlie Chaplin sowie für die mit seiner Nominierung als einer der sechs diesjährigen Anwärter verbundene Lesereise durch fünf Städte in Norddeutschland. 

Michael Köhlmeier/Foto: Franziska Kafka

Neben seinen zahlreichen Erzählungen und großen Romanen veröffentlichte der 1949 in Hard am Bodensee geborene Michael Köhlmeier auch zahlreiche Radio-Hörspiele und trat als Lyriker, Liedtexter und Sänger hervor. Einem großen Publikum wurde er auch im Rahmen einer Sendereihe des Österreichischen Rundfunks als Nacherzähler griechischer Mythen sowie der Geschichten der Bibel bekannt. Nach der Veröffentlichung seines Romans „Kalypso“ (1997), einer freien Neugestaltung wesentlicher Motive aus Homers „Odyssee“, wurde er im Rahmen des Literarischen Quartetts Ziel einer bösartigen Kampagne, die seine Rezeption in Deutschland lange Zeit belastete. 

Im Rahmen eines langen Gesprächs hatte ich am Rande einer Lesung in Hannover die wunderbare Gelegenheit, Michael Köhlmeier zu wichtigen Stationen seiner literarischen Karriere, bedeutenden Themenkreisen innerhalb seines bisherigen Werkes sowie zu aktuellen Entwicklungen in Politik und Gesellschaft zu befragen. Der Preis der LiteraTour Nord 2015 wird am 27. April im Rahmen einer öffentlichen Lesung in den Räumen der VGH-Versicherungsgruppe in Hannover verliehen.


Ein Gespräch mit dem Autor


FH: Herr Köhlmeier, nachdem die öffentliche Wahrnehmung ihres Werks in Deutschland infolge eines von der Literaturkritik im Fernsehen mit böswilliger Häme ausgetragenen Eklats um ihren Roman „Kalypso“ (1997) lange Zeit getrübt geblieben ist, sind sie im Verlauf der letzten zehn Jahre mit ihren beiden epochalen Romanen „Abendland“ und „Die Abenteuer des Joel Spazierer“ auch in Deutschland endlich zu einem der am meisten respektierten und bewunderten zeitgenössischen Schriftsteller deutscher Sprache geworden. Fühlen Sie angesichts dieser für Sie positiven Entwicklung eine gewisse Art von persönlicher Genugtuung oder genießen Sie einfach nur die verdiente Aufmerksamkeit?

MK: Also ich hab, was ich geschrieben habe, nie mit dem im Zusammenhang gesehen. Man kriegt gute Kritiken, man kriegt schlechte Kritiken.  Ob das die Folge davon war, weiß ich nicht. Das damals war natürlich ein besonders großer Verriss im Literarischen Quartet. Sowas gibt’s halt. Aber was solls? Damit muss man rechnen: shit happens! Ich mein, es hat mich natürlich verletzt und geärgert, maßlos. Ich hab die Hölle auf all die bösen Menschen heruntergeflucht, aber so ist das halt. Das ist ja auch schon so lang her, ich kann mich gar nicht mehr richtig daran erinnern. Ob ich es mit Genugtuung sehe – ich meine ich freu mich natürlich darüber, wenn mein Werk wahrgenommen wird, aber in Bezug auf den damaligen Auftritt im Literarischen Quartett hab ich das nie gesehen. Dass es jetzt besser läuft oder gut läuft, das hab ich nie mit dem im Zusammenhang gesehen.



FH: Welche Rolle spielte bei dieser erfreulichen Entwicklung der langjährige Verleger des Hanser-Verlags, Michael Krüger, dem Sie ihren aktuellen Roman ausdrücklich und namentlich gewidmet haben?

MK: Eine große Rolle. Irgendwann hab ich den Michael kennengelernt und er hat mich gefragt, ob ich gerade an was arbeite. Und ich hab gesagt: „Ja an was großem.“ Ich war damals beim Piper-Verlag. Und der Piper Verlag ist ja dann verkauft worden an die schwedische Bonnier-Gruppe. Und ich fand, dass er von dort weg eine Entwicklung genommen hat, die mir nicht so gefallen hat. Ich hab das Gefühl gehabt, ob die jetzt Bücher verkaufen oder Autoreifen ist nicht so der große Unterschied. Und der Michael Krüger ist einer der ganz großen Verleger, eine Lichtgestalt im Verlagswesen. Erstens einmal – was ja auch gut ist – er schreibt ja selber, und da muss man vieles nicht erklären. Und er hat ein ungeheures Wissen über Literatur. Er hat ein Gespür für die Qualität und gleichzeitig auch ein Gespür für das, was sich verkauft, ohne Abstriche bei der Qualität machen zu müssen – er hat immer eine gute Balance gefunden. Für mich waren die beiden Messlatten an einen Verlag immer die zwei Fragen „Wie hältst du‘s mit der Lyrik?“ und „Wie hältst du‘s mit dem Essay?“. Beim Piper Verlag wusste ich, die hätten wahrscheinlich schon einen Lyrikband gemacht. Vielleicht mit Stirnfalten, aber sicher keinen zweiten. Und Michael Krüger hat sich für Lyrik immer stark gemacht: Als Tomas Tranströmer 2011 den Nobelpreis gekriegt hat, da haben die meisten gar nicht gewusst, wer das ist! Da musste Michael Krüger erst sagen: „So wir drucken ihn wieder, der ist erhältlich, der ist lieferbar!“ Also der Michael ist ein ganz, ganz, ganz, ganz großer, und das war nicht nur ein Geschenk zum Abschied aus dem Verlag, dass ich ihm meinen Roman gewidmet habe, sondern ich wollte ihm einfach mal auf diese Art und Weise dafür danken, was er für mich getan hat! Er hat mich damals gefragt: „Hast du was?“ Und ich hab gesagt: „Ja, was ganz großes. Einen großen, sehr umfangreichen Roman.“ -  „Wenn du möchtest, dann gib ihn mir, ich würd das gern machen!“ Und so war das dann…

FH: Also ein regelrechter Glücksfall?

MK: Ja, für mich ganz sicher!

FH: Ihr aktueller Roman „Zwei Herren am Strand“ thematisiert die unwahrscheinliche Freundschaft zweier ungleicher Männer, die durch ihre außerordentliche Prominenz jeder Leser zu kennen glaubt: Charlie Chaplin und Winston Churchill. Allgemein weniger bekannt ist die Tatsache, dass beide Zeit ihres Lebens unter schweren Depressionen litten und in Adolf Hitler und seinen infamen apokalyptischen Allmachtsphantasien mit allen ihnen zur Verfügung stehenden Mitteln ein- und denselben Feind bekämpften. Wie sind Sie auf die in Biographien kaum thematisierte Freundschaft dieser beiden Ikonen gestoßen und in welchem Verhältnis haben Sie verifizierbare Fakten um Fiktion ergänzt?

MK: Churchill hat in seinen Kolumnen manchmal über Chaplin geschrieben, und in seinen Memoiren kommt er natürlich auch vor, ähnlich wie Churchill in der Autobiografie von Chaplin. Aber sie kommen in diesen Selbstzeugnissen viel weniger vor, als sie sich tatsächlich getroffen haben. Es hat eine Zeit gegeben als Churchill, wie man sagt, „in der Wüste war“: zehn Jahre, in denen er kein politisches Amt innehatte, aber immerhin Parlamentarier war. Da hat er sich vorübergehend sogar überlegt, dass er nach Hollywood zieht und Drehbuchautor wird. Und während dieser Zeit hat er gemeinsam mit Chaplin einen Plot entwickelt, für einen Film über Napoleon. Und diesen Plot, den sie da gemeinsam konzipiert haben, kann man bereits als Vorarbeit zum „Großen Diktator“ sehen, denn auch hier war schon das Doppelgängermotiv vorhanden. Was mich vor allem interessiert hat: dass die beiden an Depressionen gelitten haben, wenn auch an Depressionen ganz unterschiedlicher Art.  Natürlich ist die Fiktion auch so, dass diese beiden Männer, die nun wirklich in gar nichts  übereinstimmen – Churchill oberste Oberschicht, Chaplin unterste Unterschicht, Chaplin ein Linker, Churchill ein Kommunistenfresser – dass die sich auf der persönlichen Ebene so gut verstanden haben. Natürlich war es meine Fiktion herauszuarbeiten, wo ist der Punkt, wo sie sich treffen und wo sie möglicherweise etwas teilen, das mehr als nur oberflächlich ist. Und ich habe dann für meinen Roman diese Depression in den Fokus genommen. Churchill war ja wirklich im Laufe seines ganzen Lebens ständig suizidgefährdet, und die Depression, die bei Chaplin nur nach Abschluss eines Werkes gekommen ist, war bei Churchill vollkommen unberechenbar. Nun stellen Sie sich vor, er hätte sich zum Beispiel zur Zeit des Hitler-Stalin-Pakts das Leben genommen, als er der einzige auf der Welt war, der Hitler Paroli geboten hat! Es braucht nicht viel Fantasie, um sich vorzustellen, was ein Propagandist wie Goebbels daraus gemacht hätte, dass „die Vorsehung wieder einmal“ und so weiter. Also die Vorstellung, dass in diesen beiden – ich sag das jetzt einmal ganz mythisch – „das Böse“ in Form von Adolf Hitler seine größten Gegner gefunden hat… Ich glaube, dass Hitler der Gedanke ausgelacht zu werden, etwas völlig Unerträgliches war. Und ihn zu bekämpfen mit dem Lachen auf der einen Seite, noch dazu in einer Zeit wo es nichts zu lachen gab, und ihn auf der anderen Seite militärisch und politisch zu bekämpfen, das hat etwas regelrecht Funkensprühendes für mich gehabt – diese beiden so unterschiedlichen Figuren, bei denen ich trotzdem immer eine innere Verwandtschaft empfunden habe. Und dann man kann es natürlich auch so sehen, dass der dritte Depressive natürlich Hitler war. Der aber nicht, wie in Schillers „Bürgschaft“ gefordert hat: „Lasst mich in eurem Bund der Dritte sein!“, sondern dem die beiden Freunde ihren Beistand natürlich nicht gewährt haben. Churchill ist über Neunzig geworden, hat also diesem Dämon des Suizids widerstehen können. Chaplin ist ebenfalls weit über Achtzig geworden. Hitler nicht. Also eine Konstellation insgesamt, die mir von einer mythischen Sehweise her als ein unglaublicher Glücksfall erschienen ist.

Churchill und Chaplin in dessen Atelier (1930)


FH: In Ihrem vor beinahe zwanzig Jahren erschienenen Roman „Kalypso“, einer künstlerisch in höchstem Maße eigenständigen Bearbeitung des homerischen Mythos, ist Ihnen anhand des Schicksals des irrefahrenden Odysseus möglicherweise die beste und gelungenste Vergegenwärtigung männlicher Sexualität der gesamten Literaturgeschichte gelungen: der auf der abgelegenen Insel der Nymphe Kalypso gestrandete und in einem Netz sexuellen Begehrens gefangene „herrliche Dulder“ erinnert sich des schönsten sowie des schrecklichsten Moments seines Lebens. Während der schönste Moment sich ganz klar als Erinnerung an die brüchige famiiäre Idylle definieren lässt, muss der schrecklichste Moment als Anhäufung von persönlichen Fehlentscheidungen betrachtet werden, die ihn in die Katastrophe des Trojanischen Krieges und in die zehnjährige Irre führen. Odysseus bewegt sich zwischen den Impulsen der Lust, der Schönheit und der Zerstörung. Ist dieses Männerbild auch heute noch aktuell?

MK: Ich glaube schon, ja. Wenn ich jetzt erstmal absehe von meinem Roman, unterscheidet sich die „Odyssee“ ganz gewaltig von der „Ilias“. Die „Ilias“ ist ja im neunzehnten Jahrhundert bis noch in die erste Hälfte des zwanzigsten Jahrhunderts hinein als DAS große Werk gesehen worden. Damals hat man gesagt, die Odyssee ist zusammengeschustert, die ist zweitklassig. Das sieht man heute nicht mehr so, uns ist sie heute viel näher, und ich glaube, dass Homer in der Odysse durch die Figur des Odysseus eine Männergestalt geschaffen hat, an der man sich immer noch misst. Eine Männergestalt, die natürlich auch aus Illusionen konstruiert ist: der Illusion des Kämpfers oder der des Helden. Und in allen seinen Illusionen ist Odysseus ein Gebrochener. Er hat unglaubliche Sehnsucht nach seiner Frau, und trotzdem ist er gleichzeitig von Obsessionen gegenüber anderen Frauen gepackt: die Irrfarten dauern zehn Jahre – sieben davon ist er bei Kalypso, zwei Jahre bei Kirke, die eigentliche Irrfahrt dauert also nicht mehr als ein Jahr! Gleichzeitig ist Odysseus aber auch – und das ist eines der wunderbarsten Zeichen seiner Zerrissenheit – der treueste Ehemann, den man sich vorstellen kann. Ich will jetzt nicht weiter ausholen, Sie müssen mich dann gleich bremsen. Ich sag ihnen nur einen Satz dazu – oder schweife ich zu weit ab?

FH: Nein, ganz im Gegenteil: Sie kommen zum Kern!

Odysseus-Mosaik/Nationalmuseum von Bardo, Tunesien


MK: Dann also eine Überlegung nur, denn ein Satz ist sicher zu wenig. Also eine Überlegung: Wir alle wissen nicht was nach dem Tod ist – das wissen wir effektiv nicht. Odysseus aber weiß es. Als er bei Kalypso ist, weiß er es! Kalypso ist die Endstation seiner Irrfahrt. Er war ja in der Unterwelt und ist dort dem Geist des Achill begegnet. Achill sagt ihm: „Ich wär lieber der ärmste Knecht des ärmsten Bauern und würde das steinigste Feld pflügen als hier unten der König der Schatten zu sein.“ Also es ist furchtbar dort! Es ist furchtbar langweilig, und es gibt nichts, worauf man sich freuen kann, so wie sich die Christen aufs Jenseits freuen, sondern es ist schrecklich! Und nun macht die Kalypso dem Odysseus, der im Gegensatz zu uns weiß, wie es nach dem Tod ist, den Vorschlag: „Ich mach dich unsterblich, bei ewiger Jugend und ewiger Manneskraft, wenn du bei mir bleibst.“ Und das ist immer vergessen worden in der Beurteilung der Odyssee, ich finde, das ist das Zentrale: die Odyssee ist meines Erachtens ist erster Linie ein Eheroman. Odysseus hat seine Frau am Ende seiner Irrfahrten seit zwanzig Jahren nicht mehr gesehen. Er weiß erstens einmal gar nicht, ob sie noch lebt. Er weiß natürlich nicht, ob sie ihn überhaupt noch liebt oder ob sie nicht längst einen Anderen genommen hat. Wir allein wissen, dass hundert Freier da sind. Er weiß nicht, ob sie ihm noch gefällt, ob er sie überhaupt noch haben will, und er weiß vor allen Dingen nicht, wenn er sich jetzt wieder aufs Meer begibt, ob er dort jemals ankommt. Aber für den winzig kleinen, eingeschränktesten Hoffnungsschimmer, er könnte sie a) überhaupt noch wiedertreffen, b) sie lebt noch, c) sie liebt ihn und d) er liebt sie – für  diesen winzigen Hoffnungsschimmer gibt er dieses ewige Leben bei ewiger Manneskraft auf. Wissend, wie es nach dem Tod sein wird! Also da soll mir einer erzählen, was auch immer diese Odyssee ist – diese Odyssee ist ein ganz großer Liebesroman zwischen zwei Eheleuten! Natürlich kein unproblematischer Liebesroman, in keiner Hinsicht ein unproblematischer Liebesroman. Und es ist auch ein Vaterroman – das ist also ein Stoff, für den ich Homer nie aufhören könnte zu preisen, für diese unglaubliche und für uns so aktuelle Männerfigur, bei der man sich denkt, er ist einfach nicht geschaffen für die Ehe, aber welcher Mann ist das schon? Ein Mann, den es regelrecht zerreisst: Wir können auch annehmen, wenn er dann zu Hause ist, wird er wahrscheinlich wieder nicht treu sein – er kann es einfach nicht!  Und trotzdem ist er der Treueste der Treuen, den man sich vorstellen kann – etwas Wunderbareres ist über ein Ehepaar nie geschrieben und in die Seele eines Mannes ist nie tiefer geblickt worden als in diesem Roman. Auch andere Dinge – und das ist das letzte, was ich darüber sagen will, denn es ist etwas, wo meine Begeisterung einfach mit mir durchgeht, und ich muss unbedingt loswerden, wie schön das ist. Die Ilias ist ein Epos. Aber die Odysse ist auch ein Roman und vor allem ein so unglaublich raffiniert gebauter Roman! Also zum Beispiel, dass Homer die ganzen Irrfahrten von Odysseus in Ichform erzählen lässt. Homer bedeutet dem Leser also gewissermaßen: „Hallo! Hat man sowas schon gehört? Ein einäugiger Riese? Hier übernehm ich für den Wahrheitsgehalt keine Verantwortung!“ Allein also diese Binnengeschichten. Und in den ersten vier Gesängen ist Osysseus nur ganz am Anfang kurz bei Kalypso, und dann am Schluss noch ganz kurz, als der Hermes schließlich kommt und sagt: „Lass ihn gehen!“ Ansonsten ist er gar nicht präsent, sondern es spielt in Ithaka, am Hof. Die Penelope ist da mit den hundert Freiern und natürlich der Sohn Telemach. Telemach  hat seinen Vater nie gesehen, aber Odysseus ist in seiner Abwesenheit anwesender als er jemals sein könnte, wenn er wirklich da wäre. Das ist etwas, was jedes Nachkriegskind nachvollziehen kann. Und Telemach hat so ein unglaubliches Bild von seinem Vater, das der reale Vater nie einlösen könnte. Umgekehrt hat auch Odysseus in seiner Sehnsucht nach Telemach ein unglaubliches Bild von seinem Sohn – denn er hat ihn verlassen, als er noch ein Säugling war –, das auch der Sohn nie einlösen kann. Und dann kommt es schließlich zum Treffen zwischen Odysseus und Telemach. Eumaios sagt: „Das ist dein Sohn!“ Ein schlechterer Autor als Homer hätte jetzt die großen Hollywoodgeigen ausgepackt: Jetzt endlich ist der Showdown, die beiden kommen zusammen, Vater und Sohn! Nicht aber der kluge, menschenkennende Homer – dieses Zusammentreffen ist etwas vom Nüchternsten, das man sich vorstellen kann. Und es ist ganz klar: jetzt, in wenigen Augenblicken, kracht dem Telemach sein ganzes Gebäude der Sehweise des Vaters zusammen, das nur aus Illusionen bestanden hat, und er ist seinem realen Vater gegenüber fremd und umgekehrt genauso. Und in welcher Kargheit und Nürchternheit Homer das beschreibt, das ist so vorbildlich! Nur um ihnen meine Begeisterung, die nie erschöpft sein wird, mitzuteilen… Natürlich hat mich das gereizt, in meinem eigenen Roman Odysseus‘ Zerrissenheit zu zeigen! Denn er ist ja alles andere als unproplematisch: erstens einmal, wenn sie sich umarmen, Penelope und er, steht er knöcheltief im Blut der Freier! Also dieses Zusammentreffen der beiden Eheleute kommt erst aufgrund eines Massenmords zustande – er ist so gebrochen, man kann es sich nicht schönreden, indem man sagt: „Jetzt bist du endlich ein guter geworden!“ Das ist es nicht, es ist unglaublich toll, es ist vorbildlich!

Angelica Kauffmann (1741-1807): Kalypso u. Odysseus

FH: Ihr Roman hat mich über viele Jahre begleitet…

MK: Wie schön, das hier von Ihnen zu hören! Denn es hat mich natürlich verletzt damals, als er so niedergemacht wurde, aber ich bin nicht zerbrochen daran. Ich dachte schon, dass er groß ist, aber ich muss natürlich schon dazusagen, ich hab einen dritten geplant, über Penelope. Den hab ich nicht weitergeschrieben, bis jetzt nicht…

FH: Das hat mich regelrecht enttäuscht damals, dass er nicht kam..

MK: Das war sicher die Folge davon, aber ich hab‘s noch nicht aufgegeben, und wenn Sie mir das so sagen, so freundlich, dann animiert mich das! Ich hatte damals schon fast an die zweihundert Seiten geschrieben. Also vielleicht mach ich den dritten Roman, dann kommen die beiden anderen wieder zum Vorschein!

FH: Saftige sexuelle Darstellungen sind heute, kaum zwanzig Jahre später, keinen Skandal mehr wert, selbst ausgefallenste sexuelle Praktiken werden allenfalls noch als wild-bunte, wohlkalkulierte Tabubrüche ohne jede literarische Bedeutungsebene wahrgenommen und bleiben somit lediglich Ausdruck einer sich weltläufig gebenden Normalität aus Indifferenz und distanzierter Langeweile. Die antiquierte Literaturkritik des Zwanzigsten Jahrhunderts, die sich als ästhetisches Weltgericht inszeniert, gibt es ebenfalls nicht mehr. Ist das aus Ihrer Perspektive eine Chance für die Literatur oder das Gegenteil davon?

MK: Ich finde, es ist eine Chance für die Literatur! Das schlimmste war, dass Autoren damals aufgrund des Literarischen Quartetts begonnen haben, sich selber eine Schere im Kopf einzurichten. Aber man kann sich doch nicht beim Schreiben eines Romans schon vorwegnehmend einer Gerichtsbarkeit aussetzen – das  ist unmöglich! Aber man konnte fast gar nichts dagegen tun, es war schwierig, das mit anzusehen. Und ich weiß, damals im Quartett, um wieder darauf zurückzukommen, hat sich Marcel Reich-Ranicki ja hauptsächlich auf das Kapitel „Ficken“ bezogen. Dabei fand ich es eigentlich vollkommen offensichtlich: Dieser Mann, Odysseus, geht körperlich unversehrt durch den Krieg, aber natürlich nicht seelisch unversehrt. Und wenn Odysseus so etwas wie eine organische Verbindung zwischen Sexualität, Sehnsucht, Erotik und Liebe abreissen lassen muss, dann ist das ja wie ein Seelentod – und darauf wollte ich eingehen. Es ist ja nicht so, dass man sich daran aufgeilt, wenn man ein Kapitel so nennt, in dem dieses eine Wort dann auch noch meines Erachtens schon fast zu demonstrativ immer wieder vorkommt. Wenn man Sexualität ohne Liebe betreibt, dann ist das wie in einer Mühle. Dann ist es immer das ewig Gleiche, das immer gleich wiederkehrt, das immer gleich wiederkehrt, das immer gleich wiederkehrt. Und die Variationen der Sexualität und damit das Weite, das Schöne, das Glänzende kommen erst zustande durch die Liebe! Wenn ich aber die Liebe davon abstrahiere, dann bin ich im Hamsterrad des ewig Gleichen, und das allein wollte ich zeigen! Ich hab nicht gedacht, dass das so schwierig ist zu begreifen – ich habe sogar zeitweise geglaubt, es sei zu offensichtlich! Und ich hab niemals gedacht, dass man das so verfälscht sehen könnte – ich war regelrecht außer mir, dass er das so hinstellt! Aber mir ist dann auch im Nachhinein berichtet worden, dass Marcel Reich-Ranicki die Bücher anscheinend gar nicht mehr gelesen hat. Er hat ausschließlich dieses Kapitel gelesen, und daraus hat er geschlossen, im ganzen Roman gehe es auch auf der sprachlichen Ebene nur ums Ficken. So ein Quatsch! Aber das sind Dinge, da wollen wir nicht allzu sehr drüber reden – es ist jedenfalls gut, dass diese Art von Richterstuhlkritik weg ist, das ist wirklich gut. Es gibt tolle Kritiken, und es ist ja auch wichtig, dass es die Literaturkritik gibt, aber so ein geballter Gerichtshof, das hat immer irgendwie auch etwas Gespenstisches. Das ist gespenstisch und grauslig…

FH: Sie meinen, es wird im Grunde keinem Werk wirklich gerecht?

MK: Nein, es wird keinem Werk gerecht, weder im Positiven noch im Negativen. Es macht lediglich eine Show daraus, und es hat gleichzeitig etwas von der Willkür eines Gerichtshofes. Aber die Verlage waren damals ganz verrückt nach dieser Sendung. Sie haben gesagt: „Wir müssen schauen, dass wir ins Literarische Quartett kommen – unbedingt!“ – Und man hat alles nur noch auf die Frage ausgerichtet: „Ist es im Literarischen Quartett oder nicht?“ – Wenn nicht, dann kann man schon von vornherein sagen, na gut, in diesem Herbst oder in diesem Frühling gehört es unter ferner liefen! Aber so kann man doch Literatur nicht betrachten, das geht doch nicht!

Janice Biala (1903-2000): Porträt eines Kritikers
 
FH: Ihre früheren Werke erscheinen derzeit sukzessive bei dtv als Taschenbuchausgaben.Wird das bei „Kalypso“ und dem thematisch dazugehörigen Roman „Telemach“ mittelfristig auch der Fall sein? Ist dies von Ihnen gewünscht?

MK: Michael Krüger hat mir damals gesagt: „Du kannst alles im Taschenbuch machen, was du willst! Machen wir es doch langsam.“ Aber ich hab mir damals noch gedacht, wenn ich die beiden Romane nun als Taschenbücher herausgebe, dann wär es für mich so gewesen wie die wirkliche Kapitulation. Das klingt jetzt zwar widersinnig, ist es aber nicht, denn ich hab mir gedacht, dass ich mir diese Option auf jeden Fall aufrecht erhalten will: dass irgendwann doch noch der dritte Band kommt. Und Sie glauben gar nicht, wie sehr sie mich gerade dazu animieren! Das ist wirklich wahr, weil ich schon lange nicht mehr mit jemandem über diese Romane gesprochen habe! Und ich hab mir damals gedacht, wenn der dritte Band kommt, dann wär es schön, wenn sie alle drei nochmal da sind, in welcher Form auch immer. Wenn überhaupt, dann sollten sie gemeinsam erscheinen, sie gehören ja schließlich engstens zusammen. Es muss ja nicht alles in einem Band sein, aber wie auch immer, also aufgegeben hab ich das nicht…

FH: Sie haben in allen ihren Werken sowie auch in ihren Nacherzählungen mythischer Stoffe das Erzählen immer als unabhängigen Wert an sich betrachtet. Gleichzeitig beziehen Sie in vielen ihrer Texte unmissverständlich Stellung, etwa in ihrem neuesten Band „Drei Depeschen gegen den Krieg“, der in exemplarischer Kürze brandmarkt, wie nachhaltig und unwiderruflich institutionelle kollektive Gewalt die Lebensentwürfe des Einzelnen zerstört. Ist es für Sie vorstellbar, dass eine „gute Geschichte“ aus psychologischen, politischen oder weltanschaulichen Gründen unerzählt bleiben muss, oder ist dies durch die variable künstlerische Gestaltungskraft und individuelle Formbarkeit des jeweiligen Stoffes gänzlich undenkbar?

MK: Also dass eine Geschichte aus ideologischen Gründen nicht erzählt werden kann? Ich glaubs nicht. Auch bei diesen drei ganz kurzen Texten handelt es sich letztlich um Erzählungen, und ich kann vielleicht auch nichts anderes. Ich habe auch immer ein etwas schales Gefühl, wenn ich mich etwa mit einem Zeitungsartikel hier und da in Österreich in die Politik einmische. Aber da sehe ich mich auch gar nicht so sehr als Schriftsteller, sondern vor allem als Bürger. Also wenn beispielsweise jemand von der FPÖ öffentlich behauptet: „Die  EU hat viel mehr Vorschriften als das Dritte Reich, und die EU läuft Gefahr, ein Neger-Konglomerat zu werden!“ – In Deutschland wär so einer doch weg, bevor er ausgeatmet hätte! In Österreich ist das nicht so, und da find ich, das kann man nicht dulden, und da muss man was sagen, und in so einem Fall tu ich das auch. Ich hab ja das Privileg, dass ich an eine Zeitung herantreten kann, ich möchte einen Artikel schreiben, und die werden das auf jeden Fall drucken. Aber in diesen drei Erzählungen zum Beispiel ist natürlich eine unverkennbare Tendenz gegen den Krieg deutlich vorhanden. Da kann man natürlich sagen, das ist ideologisch. Aber in Wirklichkeit sind es drei Erzählungen. Ich finde, das Erzählen ist ein Wert für sich, und es kann auch andere Werte mitnehmen. Aber das muss es meiner Ansicht nach nicht zwangsläufig, und es soll vor allem nicht spürbar darauf angelegt sein. Aber von vornherein zu sagen, jede Moral muss ausgehalten werden – das find ich nicht richtig. Umgekehrt zu behaupten, allein die Moral der Geschichte sei wichtig, widerstrebt mir genauso. Friedrich Nietzsche hat, glaube ich, gesagt, dass wir Gott gleich werden, wenn wir erzählen, weil wir in der Möglichkeitsform eine Welt erschaffen. Und ich habe gestern nach der Lesung in Lüneburg mit dem Publikum sehr lange und angeregt über den Konjunktiv diskutiert – also wenn ich es ganz darwinistisch sehe: Was für ein Lebensvorteil ist es doch, dass wir in der Möglichkeitsform denken können! Es ist ja eigentlich vollkommen irre, dass wir das überhaupt können: sich etwas anderes vorzustellen als das, was ist! Und das kann man nicht nur als L‘arte pour l‘arte sehen – ich glaube, wir könnten gar nicht als denkende Wesen existieren, wenn wir diese besondere Fähigkeit nicht hätten, dass wir in irgendeiner Weise antizipieren. Um aber auf Ihre Frage zurückzukommen: Zur Zeit der literarischen Avantgarde, die ja in Österreich viel stärker ausgeprägt war als in Deutschland und in den siebziger Jahren bis in die Achtziger hinein dort auch viel rigider gehandhabt wurde, da kusierte das ungeschriebene Gesetz „Man kann nicht mehr erzählen“. Das war völlig klar, und als ich anfing zu schreiben und dann nach Wien kam und dort mit vielen maßgeblichen Literaten zu tun hatte, da dachte ich mir, um Gottes willen! Ich will nichts anderes, und ich kann nichts anderes! Und zur gleichen Zeit in Amerika oder in England hätte man ja gar nicht gewusst, was das überhaupt soll: nicht mehr erzählen? Und eigentlich eigenartig: gerade nach dem Krieg, wo so viel verdrängt worden ist, wo man eigentlich gerade hätte erzählen müssen, und wo in Deutschland ja auch erzählt worden ist, hat man in Österreich gesagt: „Nein Erzählen – das hat was Autoritäres!“ – Das ist etwas ganz Merkwürdiges, denn heute würde sich kein Mensch mehr Sorgen machen, ob das Erzählen erlaubt ist oder nicht. Ich finde sogar, es ist eine der vornehmsten menschlichen Tätigkeiten!

FH: Ich hab vor ein paar Jahren mit Arik Brauer über dieses Thema gesprochen. Der hat etwas ganz Ähnliches über die bildende Kunst gesagt. Wie schwer es die jungen Künstler lange Zeit hatten, die gegenständlich malen wollten.

MK: Ja, unser Sohn ist Maler! Und er ist ein gegenständlicher Maler. Zwar waren die Leute, mit denen er studiert hat, alle gegenständlich, aber ich weiß, was in Wien lange Zeit für ein regelrechter Terror von den Abstrakten ausgeübt worden ist: in ihren Augen warst du ein heillos Konservativer, wenn du gegenständlich gemalt hast. Und Arik Brauer war natürlich immer gegenständlich. Nichts gegen abstrakte Kunst, gar nichts! Aber daraus eine Doktrin abzuleiten, das tun immer kunstferne Leute, also die Kritiker sagen, das Erzählen ist am Ende. Aber man darf sich solchen Gerichtshöfen nicht ausliefern – das ist unmöglich, das ist das Ende der Kunst, das wird das Ende der Kunst!


FH: „Zwei Herren am Strand“ ist auch, wie „Abendland“ oder „Die Abenteuer des Joel Spazierer“, ein Versuch, anhand der individuellen Wege und Irrwege der einzelnen Protagonisten eine exemplarische Geschichte der kollektiven Umwälzungen des Zwanzigsten Jahrhunderts zu erzählen, in dem das persönliche Lebensglück des Einzelnen immer wieder von den Auswirkungen machtpolitischer Entscheidungen und gesellschaftspolitischer Ideen beeinflusst, wenn nicht sogar unmöglich gemacht wird. Die Erfahrungen des Zwanzigsten Jahrhunderts, die eine scheinbare Befreiung von den herrschenden Ideologien zur Folge hatten, drohen den Einzelnen im materiellen und geistigen Luxus des westlichen Kulturkreises nun in eine neue Abhängigkeit zu treiben, in Unbewussheit und Abgrenzung sowie in sich gegeneinander absolut feindlich gesinnte Subkulturen. Die Pegida-Bewegung in Deutschland kann als Ausdruck einer kollektive Ausmaße annehmeden krankhaften individuellen Verweigerung gegenüber der Realität und gegenüber den globalen Auswirkungen eigenen Handelns interpretiert werden. Wie könnte ein literarischer Ausweg aus dieser großen geistigen Krise aussehen?

MK: Ich weiß nicht, ob da die Literatur nicht überfordert ist. Überfordert ist vielleicht der falsche Ausdruck, weil das würde ja implizieren, dass man so etwas von ihr überhaupt fordern kann. Es ist vielleicht die falsche Fragestellung, oder die Frage ist an die falsche Adresse gerichtet, weil die Literatur kann das natürlich beschreiben, aber ich weiß gar nicht, was ich darauf antworten soll. Wir sind alle sehr überrascht, wie schnell Sachen eintreten, mit denen man nicht gerechnet hat, und man ist ja schon fast nach dem Zwanzigsten Jahrhundert darauf gefasst, alles mit dem man rechnet, beiseite zu schieben und zu sagen: „Es kommt ja sowieso anders!“ – Es ist gut, was Sie da gesagt haben, diese Individualisierung, die gleichzeitig zu so einer Orientierungslosigkeit wird. Wie andererseits aber auch eine Ideologie nichts mehr anbieten kann, aber vielleicht will man das auch nicht mehr. Ich schwanke da selber manchmal hin und her und denke mir, vielleicht wär es gut, eine über mein persönliches Gewissen hinausreichende „Richtlinie“ als wertneutrale Umschreibung für Ideologie oder Religion zu haben. Vielleicht wär das gut! Oder vielleicht wär das gar nicht möglich heute, weil wir ja zur Zeit so tun – vor allen Dingen der Westen tut so –, als ob der Mensch nur ein Individuum wäre und kein Kollektiv. Was natürlich gefährlich ist, weil die Lust einem Kollektiv anzugehören ist von Natur aus sehr groß, und die ist nicht von vornherein was Schlechtes, und wenn man das alles wegräumt oder sogar verbietet – nicht verbietet im Sinne eines ausgesprochenen Verbotes, sondern mit einem inneren Hinweis darauf, wohin Kollektivierung im Verlaufe des Zwanzigsten Jahrhunderts geführt hat, also zum Faschismus oder zum Kommunismus –, dann unterdrückt man einen natürlichen Impuls, denn irgendwie haben wir einen inneren Drang zu etwas Überindividuellem. Vielleicht ist das Wort überindividuell schon falsch, weil es heisst, es ist übergeordnet. Vielleicht ist das der Irrtum! Ich denk jetzt einfach mal laut, vielleicht ist das der wesentliche Irrtum, der uns zu Recht Angst macht: dass wir sagen, es gibt etwas, das über dem Individuum anzusiedeln ist. Die Trennung zwischen Individuum und Kollektiv ist doch eine rein analytische, in Wirklichkeit sind wir in einem beides und es gibt nicht Übergeordnetes! Aber ich glaube, auf die Dauer halten wir es nicht aus, uns nur als Individuen zu fühlen. Und dann sucht man nach einer Zugehörigkeit, und wenn einem keine geboten wird, versucht man halt die Zugehörigkeit dadurch zu behaupten, indem man erstmal definiert, wozu man nicht gehört. Also wenn ich nicht positiv zu äußern vermag, wozu ich gehöre, dann grenze ich mein Terrain halt ein, indem ich sage: „Dazu gehör ich nicht!“ – Und die Pegida-Bewegung tut nichts anderes! Auch diese Verwunderung, dass dieses Phänomen ausgerechnet in Dresden so ausgeprägt ist, wo ja meines Wissens nur zwei Prozent der Bevölkerung Muslime sind, ist meiner Ansicht nach falsch: Die reagieren ja nicht – es ist ja nicht ihre Reaktion auf soundsoviel, sondern in Wirklichkeit ist es eine Art Identitätssuche: „Wer bin ich?“ – Oder wenn ich das nicht beantworten kann, stell ich die Frage anders: „Wer bin ich nicht?“ – Dann ist es ja vollkommen egal, ob das zwei Prozent oder zwanzig Prozent sind: „Ich bin auf jeden Fall kein Moslem!“ – Dann hab ich das schon mal geklärt und bin vermeintlicherweise schon einen Schritt weiter und so verfahre ich Stück für Stück weiter mit dieser negativen Selbstdefinition durch Abgrenzung. Was mir in diesem Zusammenhang auch überhaupt nicht gefällt, ist dieses neue unausgesprochene Paradigma, man müsse auf die Ängste der Leute eingehen. Das halte ich für vollkommen falsch, denn ich glaube nicht, dass die Angst haben – das glaub ich einfach nicht! Aber wir sind zu so einer Kultur geworden, dass wir sagen, die Angst ist gleichzusetzen mit einer Art menschlicher Würde, und es ist ganz, ganz verwerflich, sich über jemanden lustig zu machen, der Angst hat. Das ist wie sich über jemanden lustig zu machen, der religiös ist. Man kann sich zwar über einen Atheisten lustig machen – denn der Atheist kann nie sagen, er ist verletzt in seinen Gefühlen, nicht einmal wenn jemand sagt, die ganze Erde, das ganze Universum sei nur sechtausend Jahre alt, wie es die Evangelikalen sagen. Da könnte ich doch als Naturwissenschaftler auch sagen, ich bin tief beleidigt! Doch das kann ich effektiv nicht einklagen, aber wenn einer sagt: „Der liebe Gott!“, dann kann man es jederzeit einklagen. Diese angebliche Angst ist eine Ersatzreligion geworden – ich darf mich unter gar keinen Umständen lustig machen über jemanden, der Angst hat! Den muss ich zutiefst ernst nehmen! Wenn ich also ernst genommen werden will oder Aufmerksamkeit erzeugen will, dann sage ich einfach, ich habe Angst, und dann kommt ein Politiker und sagt: „Jawohl, wir müssen die Ängste der Leute ernst nehmen!“ – Ich glaube nicht, dass von diesen Pegida-Leuten irgendjemand wirklich vor Moslems Angst hat. Sogar jetzt, nach diesen furchtbaren Ereignissen in Paris glaub ich‘s eigentlich nicht.

"Pegida"-Demo in Dresden/Foto: Kalispera Dell

FH: Vielleicht ist es auch so ein Impuls „Ich möchte, dass es so bleibt wie es immer war, dass meine Welt so bleibt, wie sie immer war.

MK: Ja, klar. Aber da kommt jetzt noch etwas dazu: „Ich möchte, dass meine Welt so bleibt, wie sie immer war, aber ich weiß im Kern nicht, was meine Welt ist!“ – Und dieses „Ich möchte, dass die Welt so bleibt, wie sie immer war!“ wird zu einer leeren Hülle, die ich nicht mehr auffüllen kann. Denn wenn ich sie auffüllen könnte, dann könnte man ja entgegnen: „Na gut, dann leb halt so, wie du immer gelebt hast! Das stört hier niemanden, wenn du so lebst!“ – Wenn ich so wie immer leben möchte, aber vergessen habe, wie ich immer war dann, muss ich zuerst einmal definieren, wer ich bin und wenn ich das nicht kann, definier ich zuerst einmal wer ich nicht bin, und diese Phase der negativen Identitätsdefinition ist genau das, was gerade dort abläuft. Es ist natürlich immer super, einen Sündenbock zu haben, aber darum geht es den Leuten nicht. Sie wissen einfach nicht, wo sie sind! Und dass das hauptsächlich in den neuen Bundesländern geschieht  ist auch kein großes Wunder, weil die sind von einer Staatsideologie weggesprengt worden. Die haben zwar vielleicht überhaupt nie ein biligendes Verhältnis zu dieser Staatsideologie gehabt und waren keine Kommunisten, aber das ist egal, denn es war ein Haus! Ein hässliches zwar, Plattenbau, auch im übertragenen Sinn, aber es war ein Haus. Und jetzt muss ich plötzlich rausfinden, wer ich eigentlich bin – das ist nicht ungefährlich! So eine Situation ist nicht ungefährlich! Weil so eine seelische Heimatlosigkeit und Obdachlosigkeit sind ein ganz schreckliches Vakuum. Man könnte natürlich sagen, dieses seelische Vakuum bestand wahrscheinlich schon während des Nationalsozialismus oder sogar davor. Es gibt ein Buch, das direkt nach dem Krieg erschienen ist, ein Bestseller damals. Es hieß „Hitler in uns selbst“, und der Autor Max Picard beschreibt darin genau dieses Vakuum an Bewußtsein, wer man eigentlich ist, das die Menschen damals in den Nationalsozialismus geführt hat, also was wir da gerade beobachten, ist wirklich keine ungefährlich Situation! Und es ärgert mich direkt, wenn ich dann jemanden in Interviews sehe, eine alte Dame oder einen Herrn, die sagen: „Ja, man muss unsere Ängste ernstnehmen!“, und ich seh ihm an, dass er keine hat: er hat keine Angst! Und gerade in Dresden – die haben keine Angst, auf die Straße zu gehen und von einem Moslem niedergegangen zu werden! Aber die wenigen Moslems, die dort leben, haben Angst – die haben wirklich Angst! Es ist so absurd! Aber die Angst ist ja zu einer heiligen Kuh geworden für uns! Wollen Sie etwas erreichen, sagen Sie als erstes: „Oh, ich hab solche Angst!“- „Ach Gott, Entschuldigung!“, kommen wir dann alle, und der Gabriel lässt gleich alles fallen und kommt gleich an und redet mit denen! Ist ja auch gut, dass er das tut, aber wenn wir diese angeblichen Ängste der Leute zu ernst nehmen, sitzten wir meiner Ansicht nach einem Popanz auf.

Plakate und Kerzen für Tuğçe Albayrak/Foto: Bernd Schwabe

FH: Ein Gedanke dazu, den ich gerade noch habe: es gab ja vor kurzem hier in Deutschland diese beiden spektakulären Fälle von tragisch missglückter Zivilcourage – eine junge Türkin, die in einem Schnellimbiss einer anderen Frau zu Hilfe kommen wollte und dabei zu Tode geprügelt wurde, und nur wenig später ein junger Mann, der bei einem Supermarktüberfall erschossen wurde, weil er dem Täter in den Weg getreten war. Da war es sehr interessant zu beobachten, dass in einer Situation, wo keine Kirche mehr da ist, um die berechtigte allgemeine Trauer zu kanalisieren, dass das öffentliche Trauern schwierig ist ohne eine solche gemeinsame Form, dieses kollektive Bedürfnis zu äußern.

MK: Das ist eine gute Überlegung! Ich glaube, so eine ganz individuelle Trauer ist etwas Merkwürdiges. Die Trauer ist ja auch ein Ruf nach außen, und ein Ruf hat nur einen Sinn, wenn ein Ohr da ist, das den Ruf hört. Und somit haben wir schon eine überindividuelle oder vielleicht besser eine nebenindividuelle Instanz des Kollektiven. Wenn wir dann wieder auf diese angebliche Angst zurückkommen: Wie viele Islamistenmorde an Deutschen hat es gegeben und wie viele deutsche Morde an Türken? Gerade wenn man die NSU-Morde im Hinterkopf behält, dann hätten vermutlich die Türken oder die Moslems mehr Grund zur Angst als die Deutschen. Aber ich weiß nicht, wenn mich jemand fragen würde, was man tun müsste, um den Menschen Möglichkeiten zu geben um dieses Identitätsvakuum zu füllen, da wüßte ich auch nicht, was ich sagen soll. Na klar, als Erzähler hat man immer die Geschichte anzubieten, das heißt wenn ich wissen will, wer ich bin und wer wir sind – weil das Ich und das Wir gehören immer zusammen –, dann muss ich es eben erzählen! Ich muss mir erzählen wer ich bin, und ich muss erzählen, wer wir sind. Und was ich bin, ist ja irgendwie geworden. Doch wie kann ich Gewordenes anders transportieren als durch irgendeine Form von Erzählung? Es muss ja nicht der Roman oder die Erzählung sein, aber es muss ein Narrativ da sein, um das neue Wort zu verwenden, denn aus dem kann ich nachher eine eigene Identität schöpfen. Aber wenn man, wie in den neuen Bundesländern, zu einem gewissen Narrativ nicht stehen will, dann ist es halt schwierig. Und die Aussage „Das war nie meines!“ stimmt ja höchstens von der Kraft innerer Überzeugung her. Denn man war ja dennoch ein Teil des Ganzen, auch ohne die innere Überzeugung. Man müsste mal untersuchen, wie das bei den verschiedenen Ländern ist. Zum Beispiel wie ist das eigentlich in Russland? Da hat man das Gefühl, die sind irgendwie hinübergeschwebt ans Ende des Zarenreiches, aber kann man es auch verstehen: dass dieser Terror, der dazwischen war, dass man den nicht anzuschauen vermag. In der griechischen Mythologie gibt es die schöne Geschichte von Perseus, der der Medusa das Haupt abschlagen soll, und wenn man ihr ins Gesicht schaut, wird man zu Stein…

Michael Köhlmeier/Foto: Rita Newman

FH: Ihr erster Roman „Der Peverl-Toni und seine abenteuerliche Reise durch meinen Kopf erschien im Jahr 1982. Was würde der Michael Köhlmeier von damals dem heutigen Erfolgsschriftsteller ins Stammbuch schreiben? Und gibt es aus ihrer heutigen Perspektive einen weisen Rat an den jungen Nachwuchsschriftsteller?

MK: Beim „Peverl-Toni“ hab ich mir damals gedacht, man darf, wenn man einen Roman schreibt, nichts übrig lassen – ich muss meinen gesamten gegenwärtigen Kopf ausräumen und in den Roman packen! Ich kann nicht sagen: „Oh, das ist eine tolle Geschichte, die hebe ich mir erstmal auf, da mache ich später vielleicht mal eine Novelle draus!“ – Da hätte ich mir damals gesagt: „Wenn du das tust, dann hast du schon nachgegeben! Du musst ein Buch schreiben, als ob es das einzige wäre!“ – Beim „Peverl Toni“ habe ich gedacht, ich schreibe ein Buch nicht nur als ob es das einzige wäre, sondern sogar als ob es die einzige Chance wäre, eines zu schreiben, und dort sei es dann schade, irgendetwas nicht reinzuschreiben, was ich als schreibenswert empfinde. Dieser Meinung bin ich heute nicht mehr. Ihm würde ich heute sagen: „Pack nicht soviel rein!“ – Aber wahrscheinlich hätte er mir mehr zu sagen als ich ihm. Ich würde nicht sagen, dass er so viel falsch gemacht hat, er hat halt so gedacht! Ich habe ja damals zum ersten Mal einen Roman geschrieben, ich wusste nicht was für ein Werk das wird, er war noch völlig  im Nebel, als ich begann. Und als ich dann fertig war – ich weiß nicht wie lang ich daran gearbeitet habe, vielleicht fünf Jahre – als ich dann fertig war, merkte ich, dass das Ende überhaupt nicht mehr zum Anfang passte, denn mittlerweile war ich ein anderer Mensch, da musste ich nochmal anfangen, um ihn so von Anfang an auf das Ende hin umzuschreiben, hab in derselben Zeit mich wieder so verändert, dass ich das Ende wieder nicht mehr zum Anfang passend fand und bin so drei oder viermal erneut in die Schlange gegangen. Ich hab einfach lernen müssen – obwohl man das nie lernen kann, weil es immer was anderes ist, einen neuen Roman zu schreiben. Überhaupt erstmal Vertrauen zu haben und nicht in Panik zu geraten! Routine ist vielleicht das falsches Wort weil es so negativ klingt, aber eine gewisse Erfahrung zu haben, dass auch ein Roman enden kann! Und wie auch immer – ich wusste nichts! Ich wusste nur, dass es wunderbar ist, so zu schreiben…

FH: Herr Köhlmeier, ich danke Ihnen für dieses Gespräch!

MK: Ja vielen Dank! Es ist sehr schön, dass sie mich wieder auf die „Kalypso“ aufmerksam gemacht haben!

"Zwei Herren am Strand", erschienen bei Hanser, 254 Seiten, € 17,90 
"Drei Depeschen gegen den Krieg", erschienen bei Haymon, 28 Seiten, € 16,90