Jerusalem

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Montag, 23. Februar 2015

„Blätterrauschen“ von Holly-Jane Rahlens

Holly-Jane Rahlens spannender neuer Jugendroman beginnt sehr stimmungsvoll in einer geradezu archetypischen, altmodisch-verstaubten, kleinen Berliner Stadtteilbuchhandlung, mit hohen Regalen bis zur Decke und dem für alle, die sich von Büchern gern in fiktive Welten und literarische Gedankengebäude entführen lassen, so verheißungsvollen Duft nach bedrucktem Papier und verstaubten Buchrücken. Im Hinterzimmer des kleinen Buchladens haben sich eines düster-stürmischen Herbstnachmittags die drei Vierzehnjährigen Oliver, Iris und Rosa versammelt, um im Rahmen ihres Buchclubs unter der Anleitung der sympathisch-resoluten Buchhändlerin Cornelia Eichfeld über Literatur zu diskutieren.


Während sie noch auf Cornelia warten, die gerade eben von der Ladenglocke in die Verkaufsräume gerufen worden ist, werden sie plötzlich von einem vollkommen unvermittelt auftretenden hellen Lichtblitz und einem markerschütternden Donnern aufgeschreckt. In der direkt darauf folgenden umso intensiveren Stille, hat seltsamerweise jeder einzelne von ihnen das irritierende Gefühl, diese Situation schon einmal erlebt zu haben, möglicherweise sogar schon mehrmals. Und nur wenige Minuten später steht ein etwa gleichaltriger, merkwürdig futuristisch gekleideter Junge namens Colin vor ihnen, der sie zu ihrem großen Erstaunen in englischer Sprache eindringlich darum bittet, ihm behilflich zu sein, das „nächste Level“ zu erreichen.

Colin beugte sich vor. „Ich kann alles in der imaginären Umgebung sehen, hören, schmecken, spüren und riechen. In diesem speziellen Spiel ist die künstlich erzeugte Welt das frühe 21. Jahrhundert in Berlin, der zweitgrößten Stadt der Europäischen Union, wenige Jahre vor Beginn des Dark –„
Stopp mal!“, unterbrach Rosa ihn. „Das geht alles viel zu schnell.“ Sie sortierte ihre Gedanken. „Du willst also damit behaupten, dass wir ein Spiel mit Dir spielen?“
Nein, ich spiele es ganz allein. Ihr seid bloß Figuren in dem Spiel.“

Colin hat, wie die drei Freunde schon bald ebenso ungläubig wie misstrauisch von ihm erfahren, im Jahr 2273 in den Räumen des Olga-Zhukova-Institut für Angewandte Physik im Rahmen eines Computerspiel-Previews an einem freiwilligen, in der virtuellen Realität angesiedelten Experiment teilgenommen, das offensichtlich in kaum überschaubarem Umfang außer Kontrolle geraten ist. Aber noch bevor die vier Jugendlichen sich weiter über die Folgen des Experiments austauschen können, müssen sie Hals über Kopf vor drei zwielichtigen Männern in Trenchcoats fliehen, die aus unerfindlichen Gründen hinter ihnen her zu sein scheinen und die geistesgegenwärtige Buchhändlerin Cornelia, die Ihnen entschlossen in den Weg tritt, einfach niederschlagen. 

Stehen bleiben!“, donnerte es über den Hof.
Die Kinder drehten sich um und sahen die drei Kapuzenmänner am anderen Ende des Hofes. Und sie kamen direkt auf sie zugerannt. „Bleibt, wo ihr seid!“, rief einer von ihnen.

Die vier Jugendlichen flüchten sich in die unüberschaubare Unordnung des alten Geräteschuppens im Hinterhof, der für sie unerwarteterweise zu einem Portal in die Zukunft des Jahrs 2273 wird – und zum unverhofften Ausgangspunkt eines schier unglaublichen Abenteuers, in dessen Verlauf sie mehr über ihr persönliches Schicksal und die Zukunft der Erde erfahren als ihnen lieb ist. Unklar bis zum Schluss bleibt vor allem, ob es ihnen gelingen wird, wohlbehalten in die wohlvertraute Gegenwart des Jahrs 2015 zurückzukehren – und nicht etwa in eine der zahlreichen unterschiedlichen parallelen Zeitebenen, in denen wesentliche Details wie etwa die Anzahl ihrer Geschwister oder ihre sozialen Lebensbedingungen zum Teil beträchtlich differieren können.


Futuristic City/© Cronus Caelestis

Dabei ist „Blätterrauschen“ als geglücktes Beispiel einer moderaten Science Fiction für Jugendliche ein durch und durch untypischer, eher weiniger repräsentativer Roman für das bisherige erzählerische Werk der in New York City aufgewachsenen, aber bereits seit 1972 in Berlin lebenden amerikanisch-deutschen Schriftstellerin Holly-Jane Rahlens (geboren 1950), die bislang in fast allen ihrer teils überaus erfolgreicher Bücher für Kinder und Erwachsene fest in der Realität der Gegenwart verwurzelt geblieben ist, die sie dabei stets mit ihrem unnachahmlichen sarkastischen und dennoch lebensbejahenden Humor auf so unvergleichliche Art und Weise kommentiert , verwandelt und bereichert hat – in den 1980er und 90er Jahren auch als erfolgreiche Kleinkunstdarstellerin in ihren humoristischen autobiografischen Soloprogrammen in englischer Sprache, mit denen sie regelmäßig im legendären Amerika-Haus gastierte.

Sind wir jetzt wirklich in der Zukunft?“
Hallo? Wart's ab, bis du die Toiletten siehst!“

Ihr einzigartiges Vermögen, die unentrinnbaren alltäglichen Erscheinungsformen der Realität mit heilsamer Ironie widerzuspiegeln und damit gleichzeitig anzuerkennen, kommen auch ihrem fantasievollen Science Fiction zu Gute, der stets – selbst bei den unglaublichsten Einfällen bezüglich unserer zukünftigen möglichen technischen und ethischen Entwicklung – auf das gute Augenmaß einer lebenserfahrenen Rationalität zurechtgeschnitten zu bleiben scheint und dadurch letztlich umso überzeugender und realistischer wirkt.“Blätterrauschen“ ist allerdings auch eine Art zugänglicher Fußnote für Jugendliche zu Holly-Jane Rahlens bereits vor gut zwei Jahren unter dem Titel „Everlast“ veröffentlichtem Zeitreiseroman für Erwachsene – einzelne Motive und Charaktere des neun Jahre früher, im Jahr 2264, angesiedelten Buches tauchen hier in neuem Zusammenhang wieder auf.

Rosa schoss hoch. „Also echt jetzt. Wenn das hier ein Buch wäre, würde ich es auf der Stelle zuklappen und gegen die Wand werfen. Das ist viel zu kompliziert. Ich fange an, mich zu langweilen.“
Weil du nur immer Bücher mit simpler Handlung und primitiver Sprache und Pappfiguren und Happy Ends liest“, konterte Iris. „Wenn ein Buch mal ein bisschen komplizierter ist, stellst du es immer gleich wieder ins Regal. Warte es doch mal ab! Manche Bücher nehmen erst langsam Fahrt auf, dann aber werden sie richtig aufregend. Manche Bücher geben dir versteckte Hinweise nicht nur über das, was passiert, sondern auch, warum es passiert. Gib den Büchern eine Chance, ihren Zauber zu entfalten!“

Besonders reizvoll sind der Autorin dabei die zahlreichen Passagen gelungen, in denen die Jugendlichen gemeinsam über mögliche Parallelentwicklungen und die Veränderlichkeit ihrer Lebensläufe infolge unterschiedlichen persönlichen Handelns spekulieren: Denn die zutiefst menschliche, in unserem üblichen Erleben rein hypothetische Frage „Was wäre, wenn...?“ wird hier angesichts der zahlreichen parallel verlaufenden gleichzeitigen Zeitebenen eine ganz konkrete – zwar ist die Zeitreisetechnologie in Holly-Jane Rahlens Fiktion bereits weit fortgeschritten, aber gleichzeitig längst nicht so weit perfektioniert, dass Wissenschaftler eine zuverlässige Garantie auf das korrektes Erreichen der richtigen Zeitebene garantieren könnten. So werden die verschiedensten intellektuellen und geistigen Erfahrungsebenen auf überaus reizvolle und gleichzeitig spielerische Art und Weise in einer spannenden konkreten Handlung abgebildet, so dass sie auch jugendliche Leser intuitiv mühelos nachvollziehen können.

Holly-Jane Rahlens/Foto: Heike Barndt

Mit ihrem neuen Jugendroman hat Holly-Jane Rahlens möglicherweise nicht nur ihre Leser, sondern vermutlich sogar sich selbst überrascht. In der Tradition jener faszinierenden, der Fantastik verpflichteten Jugendbücher von „Peter Pan“ bis zu „Tintenherz“, die ihre Protagonisten im Verlauf der Handlung in eine mehrdimensionale, doppelt gespiegelte Realität hineinziehen, erzählt sie die spannende Geschichte einer abenteuerlichen Zeitreise, die auf spielerische Art und Weise Gemeinsamkeiten und Unterschiede zwischen der virtuellen Realität von Computerspielen und den inneren Erfahrungsebenen der literarischen Fiktion erkundet und dabei doch immer nur mit viel Witz und Fantasie den Wert und Reichtum des Lebens feiert.

„Blätterrauschen“, aus dem Amerikanischen von Ulrike Wasel und Klaus Timmermann, erschienen bei Rowohlt Rotfuchs, 320 Seiten, € 14,99

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