Holly-Jane Rahlens spannender neuer Jugendroman beginnt sehr stimmungsvoll in
einer geradezu archetypischen, altmodisch-verstaubten, kleinen
Berliner Stadtteilbuchhandlung, mit hohen Regalen bis zur Decke und
dem für alle, die sich von Büchern gern in fiktive Welten und
literarische Gedankengebäude entführen lassen, so verheißungsvollen
Duft nach bedrucktem Papier und verstaubten Buchrücken. Im
Hinterzimmer des kleinen Buchladens haben sich eines
düster-stürmischen Herbstnachmittags die drei Vierzehnjährigen
Oliver, Iris und Rosa versammelt, um im Rahmen ihres Buchclubs unter
der Anleitung der sympathisch-resoluten Buchhändlerin Cornelia
Eichfeld über Literatur zu diskutieren.
Während sie noch auf Cornelia warten, die gerade eben von der
Ladenglocke in die Verkaufsräume gerufen worden ist, werden sie
plötzlich von einem vollkommen unvermittelt auftretenden hellen
Lichtblitz und einem markerschütternden Donnern aufgeschreckt. In
der direkt darauf folgenden umso intensiveren Stille, hat
seltsamerweise jeder einzelne von ihnen das irritierende Gefühl,
diese Situation schon einmal erlebt zu haben, möglicherweise sogar
schon mehrmals. Und nur wenige Minuten später steht ein etwa
gleichaltriger, merkwürdig futuristisch gekleideter Junge namens
Colin vor ihnen, der sie zu ihrem großen Erstaunen in englischer
Sprache eindringlich darum bittet, ihm behilflich zu sein, das
„nächste Level“ zu erreichen.
Colin
beugte sich vor. „Ich kann alles in der imaginären Umgebung sehen,
hören, schmecken, spüren und riechen. In diesem speziellen Spiel
ist die künstlich erzeugte Welt das frühe 21. Jahrhundert in
Berlin, der zweitgrößten Stadt der Europäischen Union, wenige
Jahre vor Beginn des Dark –„
„Stopp
mal!“, unterbrach Rosa ihn. „Das geht alles viel zu schnell.“
Sie sortierte ihre Gedanken. „Du willst also damit behaupten, dass
wir ein Spiel mit Dir spielen?“
„Nein,
ich spiele es ganz allein. Ihr seid bloß Figuren in dem Spiel.“
Colin
hat, wie die drei Freunde schon bald ebenso ungläubig wie
misstrauisch von ihm erfahren, im Jahr 2273 in den Räumen des
Olga-Zhukova-Institut für Angewandte Physik im Rahmen eines
Computerspiel-Previews an einem freiwilligen, in der virtuellen
Realität angesiedelten Experiment teilgenommen, das offensichtlich
in kaum überschaubarem Umfang außer Kontrolle geraten ist. Aber
noch bevor die vier Jugendlichen sich weiter über die Folgen des
Experiments austauschen können, müssen sie Hals über Kopf vor drei
zwielichtigen Männern in Trenchcoats fliehen, die aus unerfindlichen
Gründen hinter ihnen her zu sein scheinen und die
geistesgegenwärtige Buchhändlerin Cornelia, die Ihnen entschlossen
in den Weg tritt, einfach niederschlagen.
„Stehen
bleiben!“, donnerte es über den Hof.
Die
Kinder drehten sich um und sahen die drei Kapuzenmänner am anderen
Ende des Hofes. Und sie kamen direkt auf sie zugerannt. „Bleibt, wo
ihr seid!“, rief einer von ihnen.
Die
vier Jugendlichen flüchten sich in die unüberschaubare Unordnung
des alten Geräteschuppens im Hinterhof, der für sie
unerwarteterweise zu einem Portal in die Zukunft des Jahrs 2273 wird
– und zum unverhofften Ausgangspunkt eines schier unglaublichen
Abenteuers, in dessen Verlauf sie mehr über ihr persönliches
Schicksal und die Zukunft der Erde erfahren als ihnen lieb ist.
Unklar bis zum Schluss bleibt vor allem, ob es ihnen gelingen wird,
wohlbehalten in die wohlvertraute Gegenwart des Jahrs 2015
zurückzukehren – und nicht etwa in eine der zahlreichen
unterschiedlichen parallelen Zeitebenen, in denen wesentliche Details
wie etwa die Anzahl ihrer Geschwister oder ihre sozialen
Lebensbedingungen zum Teil beträchtlich differieren können.
Futuristic
City/© Cronus Caelestis
|
Dabei
ist „Blätterrauschen“ als geglücktes Beispiel einer moderaten
Science Fiction für Jugendliche ein durch und durch untypischer,
eher weiniger repräsentativer Roman für das bisherige erzählerische
Werk der in New York City aufgewachsenen, aber bereits seit 1972 in
Berlin lebenden amerikanisch-deutschen Schriftstellerin Holly-Jane
Rahlens (geboren 1950), die bislang in fast allen ihrer teils überaus
erfolgreicher Bücher für Kinder und Erwachsene fest in der Realität
der Gegenwart verwurzelt geblieben ist, die sie dabei stets mit ihrem
unnachahmlichen sarkastischen und dennoch lebensbejahenden Humor auf
so unvergleichliche Art und Weise kommentiert , verwandelt und
bereichert hat – in den 1980er und 90er Jahren auch als
erfolgreiche Kleinkunstdarstellerin in ihren humoristischen
autobiografischen Soloprogrammen in englischer Sprache, mit denen sie
regelmäßig im legendären Amerika-Haus gastierte.
„Sind wir jetzt wirklich in der Zukunft?“
„Hallo? Wart's ab, bis du die Toiletten siehst!“
Ihr
einzigartiges Vermögen, die unentrinnbaren alltäglichen
Erscheinungsformen der Realität mit heilsamer Ironie widerzuspiegeln
und damit gleichzeitig anzuerkennen, kommen auch ihrem fantasievollen
Science Fiction zu Gute, der stets – selbst bei den unglaublichsten
Einfällen bezüglich unserer zukünftigen möglichen technischen und
ethischen Entwicklung – auf das gute Augenmaß einer
lebenserfahrenen Rationalität zurechtgeschnitten zu bleiben scheint
und dadurch letztlich umso überzeugender und realistischer
wirkt.“Blätterrauschen“ ist allerdings auch eine Art
zugänglicher Fußnote für Jugendliche zu Holly-Jane Rahlens bereits
vor gut zwei Jahren unter dem Titel „Everlast“ veröffentlichtem
Zeitreiseroman für Erwachsene – einzelne Motive und Charaktere des
neun Jahre früher, im Jahr 2264, angesiedelten Buches tauchen hier
in neuem Zusammenhang wieder auf.
Rosa
schoss hoch. „Also echt jetzt. Wenn das hier ein Buch wäre, würde
ich es auf der Stelle zuklappen und gegen die Wand werfen. Das ist
viel zu kompliziert. Ich fange an, mich zu langweilen.“
„Weil
du nur immer Bücher mit simpler Handlung und primitiver Sprache und
Pappfiguren und Happy Ends liest“, konterte Iris. „Wenn ein Buch
mal ein bisschen komplizierter ist, stellst du es immer gleich wieder
ins Regal. Warte es doch mal ab! Manche Bücher nehmen erst langsam
Fahrt auf, dann aber werden sie richtig aufregend. Manche Bücher
geben dir versteckte Hinweise nicht nur über das, was passiert,
sondern auch, warum es passiert. Gib den Büchern eine Chance, ihren
Zauber zu entfalten!“
Besonders
reizvoll sind der Autorin dabei die zahlreichen Passagen gelungen, in
denen die Jugendlichen gemeinsam über mögliche
Parallelentwicklungen und die Veränderlichkeit ihrer Lebensläufe
infolge unterschiedlichen persönlichen Handelns spekulieren: Denn
die zutiefst menschliche, in unserem üblichen Erleben rein
hypothetische Frage „Was wäre, wenn...?“ wird hier angesichts
der zahlreichen parallel verlaufenden gleichzeitigen Zeitebenen eine
ganz konkrete – zwar ist die Zeitreisetechnologie in Holly-Jane
Rahlens Fiktion bereits weit fortgeschritten, aber gleichzeitig
längst nicht so weit perfektioniert, dass Wissenschaftler eine
zuverlässige Garantie auf das korrektes Erreichen der richtigen
Zeitebene garantieren könnten. So werden die verschiedensten
intellektuellen und geistigen Erfahrungsebenen auf überaus reizvolle
und gleichzeitig spielerische Art und Weise in einer spannenden
konkreten Handlung abgebildet, so dass sie auch jugendliche Leser
intuitiv mühelos nachvollziehen können.
Holly-Jane Rahlens/Foto: Heike Barndt |
Mit
ihrem neuen Jugendroman hat Holly-Jane Rahlens möglicherweise nicht
nur ihre Leser, sondern vermutlich sogar sich selbst überrascht. In
der Tradition jener faszinierenden, der Fantastik verpflichteten
Jugendbücher von „Peter Pan“ bis zu „Tintenherz“, die ihre
Protagonisten im Verlauf der Handlung in eine mehrdimensionale,
doppelt gespiegelte Realität hineinziehen, erzählt sie die
spannende Geschichte einer abenteuerlichen Zeitreise, die auf
spielerische Art und Weise Gemeinsamkeiten und Unterschiede zwischen
der virtuellen Realität von Computerspielen und den inneren
Erfahrungsebenen der literarischen Fiktion erkundet und dabei doch
immer nur mit viel Witz und Fantasie den Wert und Reichtum des Lebens
feiert.
„Blätterrauschen“,
aus dem Amerikanischen von Ulrike Wasel und Klaus Timmermann,
erschienen bei Rowohlt Rotfuchs, 320 Seiten, € 14,99
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