Die
verfeinerten Problemstellungen der Rechtsgeschichte und -philosophie
gehören in aller Regel nicht unbedingt zu den Glanzpunkten
klassischen wissenschaftlichen Strebens nach Erkenntnis, die auch
heute noch beim Außenstehenden größeres oder gar nachhaltiges
Interesse zu wecken vermögen. Dass aber einzelne Fragen, mit denen
sich Rechtshistoriker gemeinhin mit befremdlicher subtiler Vehemenz
zu beschäftigen vermögen, auf den interessierten Laien durchaus
spannend, unterhaltsam oder sogar intellektuell anregend wirken
können, zeigt der italienische Philosoph Giorgio Agamben in seinem
jüngst in deutscher Übersetzung erschienenen, kurzen, aber äußerst
prägnanten und erhellenden Essay über die vielschichtige
wechselseitige Beziehung zwischen Pilatus und Jesus auf ebenso
anschauliche wie packende Art und Weise.
Dabei
kommt dem 1942 in Rom geborenen vieldiskutierten Inhaber zweier
renommierter philosophischer Lehrstühle an der Universität von
Venedig sowie dem Collège
international de philosophie in Paris in seinem ehrlichen
Bemühen um umfassende Durchdringung des gewählten Stoffes ohne
Zweifel auf besonders hilfreiche Art und Weise die billige und
bequeme Tatsache zu Gute, dass er bei seinen in der europäischen
Kultur verorteten Lesern ein außergewöhnlich großes, geradezu
selbstverständlich scheinendes, gleichsam „natürliches“
Vorwissen voraussetzen darf, da der christliche Glaube als
gemeinsamer identitätsstiftender kultureller Hintergrund Europas
ohne den endgültigen Richterspruch durch die historisch verbürgte
Person des römischen Statthalters im neutestamentarischen Palästina,
Pontius Pilatus, über den wegen unklarer Vorwürfe vom Synhedrion
vor Gericht gestellten Jesus vollkommen undenkbar wäre, wie Agamben
gleich zu Beginn seines Essays unmissverständlich klarstellt:
Pilatus ist aus christlicher Sicht nicht weniger als der
unerlässliche Erfüllungsgehilfe der Prophezeiung.
Der
Prozess Jesu ist ein Schlüsselmoment der Menschheitsgeschichte, in
dem sich die Ewigkeit in einem entscheidenden Augenblick mit der
Geschichte verschränkt. Dringlich stellt sich die Frage, wie und
warum diese Verschränkung von Zeitlichem und Ewigem, Göttlichem und
Menschlichem die Form einer κρίσις,
eines Gerichtsverfahrens angenommen hat.
Dabei
gibt es zahlreiche scheinbar paradoxe Widersprüche im
Gerichtsverfahren Jesu, die es uns nicht nur erschweren, die
zahlreichen zitierten Quellen aus der Apostelgeschichte, apokryphen
Texten sowie außerbiblischen Überlieferungen mit objektiver Logik
zu betrachten, sondern die im Sinne des Römischen Rechts sogar eine
grundsätzliche Illegitimität des Verfahrens im Allgemeinen sowie
des Urteilsspruches im Besonderen anzudeuten scheinen. Vor allem die
irritierende Tatsache, dass hier ein weltliches Gericht über einen
Sachverhalt zu urteilen hat, der laut Aussage des Angeklagten „nicht
von dieser Welt“ sei, muss den neutralen Beobachter mehr als nur
irritieren – und Agambens glänzend beobachtete, nüchtern-verkürzte
Wiedergabe der Befragung Jesu durch Pilatus ist von geradezu
mitreißender Präzision und entwaffnender Konsequenz.
Das
Gerichtsverfahren, das Pilatus abhält, ist jedoch gar kein Prozess
im eigentlichen Sinne. Die Rechtshistoriker haben versucht, den
Prozess Jesu vom Standpunkt des römischen Rechts aus zu beurteilen.
Es überrascht nicht, dass sie zu unterschiedlichen Ergebnissen
kommen. Wenn jeder Prozess, wie der große Jurist Salvatore Satta
geschrieben hat, ein „Geheimnis“ ist, dann treten die
Widersprüchlichkeiten dieses Geheimnisses hier besonders deutlich zu
Tage. […] Einige kommen zu dem Schluss, dass nicht einmal die
einfachsten Formen des römischen Gerichtsverfahrens beobachtet
wurden: nicht die Anklageschrift und die genaue Festlegung der
Anklage, nicht die Feststellung einer Tatsache, nicht die Verkündung
eines eindeutigen Urteils.
Pilatus und Jesus, Krippenfiguren, 18. Jh./Foto: Andreas Praefcke |
Der
Autor gibt aber auch die bewusste Abarbeitung wichtiger Bezugspunkte
der Messiaserwartung sowie die mehrmalige formelhafte Wiederholung
der Definition der Schuldfrage bis zur letztendlichen Auslieferung
des Angeklagten durch den ratlosen Pilatus an das geistliche Gericht
des Synhedrions auf kongeniale Art und Weise wieder und weist
lückenlos nach, wie die sich gegenseitig ergänzenden
Apostelerzählungen deutlich sichtbar zu nichts anderem dienen als
die messianische Legitimität Jesu für seine Anhänger mit Hilfe der
alttestamentarischen Überlieferung zweifelsfrei herzuleiten. Aber
auch tiefgreifende sprachwissenschaftliche Untersuchungen haben ihren
Platz in Agambens philosophischer Recherche. So weist er das
altgriechische Verb παρέδωκεν („ausliefern“) in
beeindruckender Kontinuität über den kompletten Verlauf des
apostolischen Prozessberichts nach.
Folglich
gehorcht das Passionsdrama, das Johannes so detailreich schildert,
einem von einem gottgewollten, von den Theologen „Heilsökonomie“
genannten Plan seit jeher festgelegten Drehbuch: Die Akteure dieses
Dramas spielen lediglich die ihnen zugedachte Rolle. Auch die letzte
Szene dieses Dramas ist eine Auslieferung: der Augenblick, in dem
Jesus den Geist aufgab.
So ist
nicht nur die biblische Überlieferung an sich dem Wortstamm nach
eigentlich eine „Auslieferung“; die erste konkrete „Auslieferung“
innerhalb der Passionsgeschichte im Sinne eines Beitrags zur
Erfüllung des göttlichen Plans geschieht durch den Kuss des Judas,
der Jesus dem Synhedrion ausliefert. Dieses wiederum liefert Jesus
dem allgemein anerkannten Inhaber der weltlichen römischen
Gerichtsbarkeit aus, nämlich Pontius Pilatus, der ihn am Ende seiner
Befragung wiederum dem jüdischen Religionsgericht ausliefert.
Derselbe Wortstamm beschreibt aber auch die Auslieferung Jesu durch
seinen göttlichen Vater, wodurch die konkreten einzelnen Stationen
der irdischen Auslieferung in ihrer Gesamtheit letztlich nur als
einzelne unverzichtbare Beiträge zur Vollendung der umfassenden
göttlichen Auslieferung gewertet werden können.
Hier
und jetzt von der Wahrheit des Reichs, das nicht hier ist, zu zeugen,
heißt anzuerkennen, dass wir das, was wir erlösen wollen, richten.
Denn die Welt in ihrer Vergänglichkeit will nicht Erlösung, sondern
Gerechtigkeit. Und sie will sie eben deshalb, weil sie nicht erlöst
werden möchte. Als unrettbare urteilen die Geschöpfe über das
Ewige – so lautet das Paradox, das Jesus zuletzt, als er vor
Pilatus steht, das Wort entzieht. Hier ist das Kreuz, hier ist die
Geschichte.
Giorgio
Agamben demonstriert in seinem kleinen, unscheinbaren und vielleicht
unzeitgemäßen Essay auf beeindruckende Art und Weise, was für ein
wichtiges und mächtiges Werkzeug zur Weltdurchdringung die
Philosophie auch heute noch sein kann, wenn sie ihre natürliche
Neugier nicht zugunsten von starren Dogmen preisgibt. Dabei wird
zwischen den Zeilen deutlich, dass es unter Umständen wichtiger und
lohnender sein kann, die richtigen Fragen zu erarbeiten, um zu
versuchen, den gewählten Stoff mit ihrer Hilfe so weit wie möglich
zu durchdringen, als scheinbar verbindliche Antworten aufzustellen,
deren wichtigste Funktion doch nur in der fundamentalen
Selbsttäuschung bestehen kann, dass sämtliche Äußerungsformen des
Lebens tatsächlich mit Hilfe der unzulänglichen Mittel des
menschlichen Geistes erfasst werden könnten.
Agamben-Graffiti |
Der
Autor macht die naheliegende Frage nach der Historizität der von ihm
untersuchten Ereignisse an keinem Punkt zur Glaubensfrage, weder im
philosophischen noch im theologischen Sinne, sondern nimmt den
Bericht im Wissen um die Unmöglichkeit objektiver Beweisbarkeit
einfach als gegeben hin, was aus literaturwissenschaftlicher Sicht
als ein großer Gewinn erscheint. Am Ende steht auch der Leser vor
der großen Herausforderung ein großes, unauflösbares Paradox mit
irdischer Gelassenheit einfach bestehen zu lassen, denn weltliche
Gerechtigkeit und himmlische Erlösung lassen sich unter keinen
Umständen miteinander vereinen. Giorgio Agamben ist mit seinem
kleinen Essay ein fesselndes Stück Literatur gelungen, das auf
beeindruckende Art und Weise die Möglichkeiten der Philosophie und
der ihr untergeordneten Geisteswissenschaften aufzeigt, indem er sie
voll und ganz im diesseitigen Leben verortet und ihnen so ein Stück
ihrer historischen Relevanz zurückgibt.
„Pilatus und Jesus“, aus dem Italienischen von Andreas Hiepko, erschienen
bei Matthes & Seitz, 64 Seiten, € 10,-
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